Islam und Demokratie
Gibt sich die Gesellschaft Afghanistans eine demokratische Verfassung?
Während sich die Bundeswehr für ihre Friedensmission im Nordosten Afghanistans nicht für ausreichend gerüstet hält, wird in diesen Tagen an einer Verfassung für das seit Dekaden krisengeschüttelte Land gearbeitet, die im Dezember 2003 verabschiedet werden soll. Das Kernproblem: Wie passen Koran und Demokratie zusammen?
Muhammad Amin Ahmadi, ein Mitglied der Verfassungskommission, hält die Situation für historisch. Jetzt gehe es darum das Überleben Afghanistans zu sichern oder in die Dunkelheit illegitimer Macht zurückzufallen. Dass nun die Dauerkrise in Afghanistan mit einer Verfassung zu kurieren ist, glaubt niemand. Denn 1964 gab es bereits eine afghanische Verfassung, die als eine der fortschrittlichsten der islamischen Welt galt. Viel genützt hat es offensichtlich nicht.
Mindestens eben so wichtig ist eine Verfassungswirklichkeit, die leider nicht wie das Kaninchen aus dem Zylinder einem guten Verfassungstext entspringt. Damals wie heute geht es um einen Ausgleich zwischen demokratischen, rechtsstaatlichen und islamischen Prinzipien. Das geringste Problem ist noch der Name des künftigen Gemeinwesens: Islamische Republik von Afghanistan.
Das Volk wünscht Frieden und Sicherheit und eine starke Regierung
Was die Verfassungskommission an Konzessionen in diverse Richtungen für eine gute Balance halten mag, muss noch die verfassungsgebende Versammlung mit fünfhundert Mitgliedern passieren. 344 der Delegierten der so genannten "Loya Jirga" werden von der Bevölkerung bestimmt. Interims-Präsident Hamid Karsai wird 50 Abgeordnete benennen. Inlandsflüchtlinge und Minderheitengruppen wie Hindus und Sikhs dürfen 42 Mitglieder wählen, während die Frauengruppen 64 VertreterInnen bestimmen werden.
Nach dem Entwurf einer islamischen Demokratie soll es einen direkt gewählten, mit einer starken Exekutivmacht ausgestatteten Präsidenten geben. Geplant sei eine starke Zentralregierung, ein zwei Kammern-Parlament mit einer relevanten Beteiligung von Frauen sowie eine unabhängige Justiz. Die Verfassung soll einen Grundrechtskatalog beinhalten, eine Anerkennung internationaler Regelungen, eine Option für einen freien Markt und eine unabhängige Zentralbank. Klingt westlich, freundlich, praktisch und interessengerecht.
Innenminister Ahmed Ali Jalali sieht folglich in dem Entwurf eine Chance für das wirtschaftlich und politisch malträtierte Land auf dem Weg zu Demokratie voranzuschreiten. Doch wird diese Verfassung viel dazu beitragen, mit marodierenden Warlords, Drogen- und Waffenhandel und Taliban fertig zu werden?
Keine Freiheit auf Kosten des Islam
Der Entwurf entstand immerhin nicht nur am grünen Tisch der Verfassungsrechtler, sondern atmet bereits den Geist, der schließlich die Verfassung bestimmen soll. Es gab zahlreiche Meetings und Umfragen, um den Willen der Bevölkerung zu ermitteln. Selbst Tonbandaufzeichnungen von Schriftunkundigen über ihre Verfassungswünsche lagen der Kommission vor. Danach wünscht sich das Volk Frieden und Sicherheit und eine starke Regierung, die mit den bisherigen Übeln aufräumt. Das ist wenig verwunderlich. Doch zugleich besteht die Angst, dass sich Afghanistan in eine säkulare Gesellschaft verwandeln könnte. Die Aufnahme des Islam in die Verfassung war conditio sine qua non des Entwurfs. Freiheit auf Kosten des Islam werde es nicht geben, erklärte Anwar ul-Haq Ahady, Chef der Zentralbank.
Und nicht nur diese Äußerung lässt befürchten, dass in der verfassungsgebenden Versammlung wieder die Stunde der fundamentalistischen Hardliner schlagen könnte, um islamische Regeln stärker zur Geltung zu bringen. Die gemäßigten Mitglieder der Kommission werden auf der Bedeutung eines demokratischen Gemeinwesens und von Bürgerrechten insistieren, wenn Afghanistan nicht wieder internationale Isolation, zumindest aber den Abzug westlicher Hilfen riskieren will. Doch schon die Rechtsstaatsdiskussion und der Grundrechtskatalog könnten die Verfassungsgeber in ein Dilemma stürzen. Jetzt bereits etabliert der Verfassungsentwurf Afghanistan als eine Islamische Republik, "in der keine Gesetze den heiligen Prinzipien des Islam widersprechen dürfen". Zudem soll das islamsiche Gesetz zur Norm werden, wenn es "in dieser Verfassung oder anderen Gesetzen kein klares Gesetz" gibt.
Der saudische Theologie Mohammed Musillihi befand im Blick auf eine ähnliche Debatte in Saudi-Arabien paradigmatisch für viele Muslime, dass der Koran und die Lehren des Propheten mehr wert seien als alle in der Welt verabschiedeten Gesetze über Menschenrechte. Wie hält es der Islam mit der Demokratie? Die Islam-Expertin Ursula Spuler-Stegemann erkennt nicht einmal in Deutschland, dass die Muslime sich eindeutig zum demokratischen Staat bekennen. Auch der prominente Islamwissenschaftler und bundesrepublikanische Generalzuständige für einen liberalen Islam, Bassam Tibi, erklärte unlängst:
In Deutschland gibt es 2500 Moscheen. Aber ich kenne keinen einzigen Imam, der europäisch denkt und das Grundgesetz akzeptiert.
Wenn das bereits für Deutschland gilt, was ist dann für Afghanistan zu erwarten, das noch vor kurzem von den längst nicht verschwundenen, radikal-islamischen Taliban beherrscht wurde?
Der fundamentalistische Widerwille gegen demokratische Fundamente
Noch immer gilt für viele Beobachter im Westen wie im Osten die Unvereinbarkeit von Islam und westlicher Demokratie. Und der fundamentale Reim auf die Verhältnisse ist einfach: Wenn diese Demokratien gottlose Regime sind, kann ihre Regierungsform nicht kompatibel mit dem Koran sein. Andererseits entnimmt man dem Koran Textstellen, die die nicht nur von Fundamentalisten gepredigte Unvereinbarkeitsdoktrin weniger plausibel erscheinen lassen.
Immerhin hat der Prophet des Islam die Bekehrung der Christen mit Gewalt verboten und gegenüber den "Völkern des Buches" den Streit nur in "anständigster Weise" zugelassen. Ist das nicht ein Aufruf zu Pluralismus und Meinungsfreiheit? Im Verbandsorgan des Kölner "Kalifatstaat" hieß das weiland fundamental anders: "Es lebe die Hölle für die Ungläubigen! Und nieder mit allen Demokratien...". Wie fast immer dürfte die Exegese kanonischer Texte, die sich auf andere Gesellschafts- und Herrschaftsformen beziehen, auch unter islamischen Theologen in einem kaum entscheidbaren Widerstreit enden.
Doch die Fundamentalisten könnten gegenüber den gemäßigten, liberalen Vertreter des Islam Recht in mehrfacher Wortbedeutung haben. Denn vielleicht stellt sich die Frage noch radikaler. Sind nicht alle autoritär strukturierten Religionen, die verbindliche Regeln des Zusammenlebens zwischen Menschen verkünden, unvereinbar mit westlichen Gesellschaftsstrukturen?
Auf den ersten Blick erscheint die verfassungsrechtlich verbürgte Trennung von Kirche und Staat und zugleich die Differenz von demokratischer Gesellschaft und Religionsgemeinschaften im christlich orientierten Westen gelungen zu sein. Doch entstand nicht in westlichen Demokratien ein Menschentypus, der sich immer weniger göttlichen Gesetzen und ihren klerikalen Auslegungen beugt?
Die Zahl der lauen Christen wächst, die mit mehr oder weniger schlechtem Gewissen den Papst einen guten Mann sein lassen, wenn sie ihre Kondome kaufen oder die Ohrenbeichte schwänzen. Wer vom Geist der Demokratie infiziert ist, könnte langfristig für autoritäre Religionen verloren sein. Das würden unsere liberalen Christenmenschen zwar nie zugeben, während ihre Zahl immer kleiner wird. Aber vielleicht sind die islamistischen Warner einfach wacher gegenüber dem schleichenden Gift von Entscheidungsteilhabe, Meinungsfreiheit und Pluralismus.
Die nun einsetzende Debatte über die angemessene Verschmelzung von Demokratie und Islam in der Verfassung Afghanistans könnte also mehr sein als eine in westlichen Augen obsolete Auseinandersetzung in Glaubensfragen. So könnte das Christentum überzeugten Muslimen inzwischen weniger als konkurrierende Religion erscheinen, denn als warnendes Beispiel für die Mesalliance von Religion und Demokratie.