Israel: Ein Lehrstück in Sachen Populismus

Seite 2: "Netanjahu 'droht' nicht mit Frieden"

Während der letzten Regierung unter Yair Lapid waren auf der palästinensischen Seite weit mehr Opfer zu beklagen als zu Zeiten der vorletzten Regierung, der Netanjahu ebenfalls vorstand. Glauben Sie, dass die Gewalt unter der neuen Regierung wieder zurückgeht?

Shir Hever: Das ist sehr schwer zu beantworten. Es gab eine sehr große Welle von Siedlergewalt. Die Siedler hatten Angst, dass die gemäßigte Regierung unter Yair Lapid Kompromisse mit den Palästinenser:innen eingehen würde.

Mit der Wiederwahl Netanjahus haben sie jetzt keinen Grund mehr, etwas zu befürchten; er "droht" nicht mit Frieden. Das muss nicht bedeuten, dass diese Gewalt nun automatisch zurückgehen wird, denn Gründe dafür können immer wieder gefunden werden.

Die andere Perspektive ist, dass die Siedler straffrei ausgehen. Sie können mit der Unterstützung der Armee rechnen. Sie können machen, was sie wollen – bis zu einer bestimmten Grenze. In einigen wenigen Fällen kamen Siedler vor Gericht. Denn wenn Siedler im Westjordanland gar keine Gesetze mehr beachten, dann verliert Israel die Kontrolle über das Westjordanland.

Verstehe ich Sie richtig, dass es Netanjahu egal ist, wie sehr seine Politik verurteilt wird? Wie etwa in dem aktuellen Bericht der Sonderberichterstatterin der UN, Francesca Albanese, der ausgesprochen schonungslos ausgefallen ist?

Shir Hever: Netanjahu ist Populist und ignoriert solche Aussagen oder tut sie als antisemitisch ab. Erst wenn diese Kritik zu konkreten Maßnahmen führt, das betrifft etwa die Handlungsbeziehungen zwischen Israel und der EU beeinträchtigen würden, kann er das nicht mehr ignorieren.

Denn seine Koalitionen mit den Arabischen Emiraten, Indien oder Ungarn haben keinen hohen ökonomischen Wert für die israelische Wirtschaft, außer für Rüstungsexporte. Der größte Handelspartner für Israel ist die Europäische Union, und zwar für mehr als ein Drittel der Im- und Exporte.

Die Armee ist fast außer Kontrolle

Eines der Ereignisse in den besetzten Gebieten, das am meisten internationale Aufmerksamkeit erfahren hat, war die Ermordung der Al-Jazeera-Journalistin Shirin Abu Akleh durch die Israelische Armee. Ein Ereignis, das – zumindest in Deutschland – dagegen weitgehend ignoriert wurde, ist die Zwangsumsiedlung von 1.200 Palästinenser:innen in Massafer Yatta.

Man gewinnt den Eindruck, dass die israelische Politik austestet, wie weit sie bei der Verwirklichung der Annexion des Westjordanlandes gehen kann, ohne dass die internationale Gemeinschaft einschreitet. Ist dieser Eindruck richtig?

Shir Hever: Hier sind zwei sehr verschiedene Ereignisse angesprochen. Der Fall Abu Akleh ist ein Mordfall und ein einzelner Mordfall hat bislang nie zu internationalen Sanktionen geführt – leider! Ihre Ermordung gibt viel Aufschluss darüber, warum Netanjahu die Wahl gewonnen hat: Der Name des Scharfschützen, der Abu Akleh mit Kopfschuss getötet hat, ist bekannt. Über dem Militäreinsatz in Dschenin am 11. Mai flogen Drohnen, die alles aufgezeichnet haben.

Aber die Armee wird diese Aufnahmen und den Namen des Scharfschützen niemals preisgeben. Denn das Militär ist fast außer Kontrolle. Jeder Soldat macht, was er will. Wenn das Verteidigungsministerium anordnen würde, den Scharfschützen von Abuh Akleh anzuklagen, gäbe es in der israelischen Armee eine Rebellion. Solche Vorfälle beschädigen den Ruf des Militärs. Netanjahu weiß das.

Einerseits unterstützt Netanjahu die Soldaten in ihrer Machttrunkenheit, andererseits würde er es aber ablehnen, in Gaza einzumarschieren – selbst wenn sein eigenes Kabinett das vorschlagen würde. Als Populist würde er dem zustimmen, aber er würde nicht danach handeln, weil er genau weiß, dass er keine Kontrolle über den Militäreinsatz hätte.

Demokratischer Konsens ist, dass die Armee Befehle zu befolgen hat. Wenn aber klar wird, dass die Soldaten machen, was sie wollen – wie im Fall von Abuh Akleh – hat die Regierung ein Problem. Sie ist an dieser Stelle – entgegen ihren Behauptungen – politisch schwach.

Die Bevölkerung schert sich nicht um den Ruf Israels

Der zweite Teil der Frage bezieht sich auf die ethnischen Säuberungen, nicht nur in Massafer Yatta, sondern auch in Scheich Dscharrah und Har Homa. In allen drei Fällen gab es großen internationalen Druck und Unterstützung für die Palästinenser:innen, die dort leben.

Hier besteht das Dilemma der israelischen Regierung darin, dass die Bevölkerung sich nicht um den Ruf Israels schert. Sie wollen – ohne Kompromisse machen zu müssen – immer mehr Land einnehmen und dabei auf keinen Fall Schwäche gegenüber den Palästinenser:innen zeigen. Dabei geht es auch um Nationalstolz.

Als er noch Außenminister war, wollte Yair Lapid den populistischen Politikstil von Netanjahu, der das Eine sagt und dann etwas ganz anders macht, beenden. Er wollte transparenter und konsequenter in seinem Handeln sein. Damit ist er nach seiner Wahl sofort vor die Wand gefahren.

Anfang des Jahres prophezeite er, dass die Apartheid-Vorwürfe im Jahr 2022 stärker als je zuvor erhoben würden. So wollte er die israelische Bevölkerung davon überzeugen, mehr Kompromisse zu machen, um die Vorwürfe gegen Israel einzudämmen. Aber das hat nicht funktioniert.

Der Rechtsruck kommt also aus der Bevölkerung?

Shir Hever: Genau. Die israelische Bevölkerung hat die Erfahrung gemacht, dass sie keine Konsequenzen zu befürchten haben, wenn sie immer rechtsextremer und radikaler werden. Die Generationen heute unterscheiden sich sehr stark von der meiner Großeltern. Der Krieg von 1948 hat zwei Prozent der jüdischen Bevölkerung das Leben gekostet. Diese Generation hat viele Opfer gebracht – für ihren nationalen Stolz und dafür, dass ihre Kinder und Enkelkinder solche Opfer nicht mehr erbringen müssen.

Heute fühlen sich die meisten Juden und Jüdinnen als Alleinherrscher:innen über dieses Land. Warum sollten sie etwas dafür opfern? Einerseits hat diese Generation einen enormen Rechtsruck vollzogen, andererseits gehen aber immer weniger Menschen zur Armee.

Ben Gvir war nicht in der Armee und auch Bezalel Smotrich, Führer der Zionistischen Religionspartei, war nur die erste Zeit in der Armee. Sie sind nicht bereit, drei Jahre in der Armee zu verbringen. Und auch die Armee will keine Opfer bringen. Sie glaubt, der israelische Staat sei dazu da, ihnen zu dienen und nicht umgekehrt. Sie wollen die Sicherheit der Israelis auf die palästinensischen Sicherheitskräfte abschieben.

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