Israel: Ein Lehrstück in Sachen Populismus
Seite 3: Die Menschen vor Ort sollen entscheiden
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Die UN-Resolutionen und die Mahnungen der internationalen Gemeinschaft, die Zwei-Staaten-Lösung nicht aufs Spiel zu setzen, verhallen ungehört. Warum hält die internationale Staatengemeinschaft so eisern an der Zwei-Staaten-Lösung fest, obwohl doch extrem unwahrscheinlich ist, dass die Siedler wieder aus der Westbank abziehen werden? Was ist Ihre Meinung dazu?
Shir Hever: Meine Meinung dazu ist, dass die Internationale Gemeinschaft sich auf die Menschenrechte und auf das Völkerrecht und nicht auf Ländergrenzen fokussieren sollte. Kein Land hat das Recht, die Landkarte für die Menschen, in denen sie leben, zu bestimmen. Das müssen die Menschen vor Ort selber entscheiden.
Es gibt natürlich viele Palästinenser:innen, die sich einen unabhängigen Staat wünschen, auf Basis der Grenzen von 1967. Das ist ihr Recht, denn diese Forderung ist völkerrechtskonform. Aber eine noch größere Gruppe in Palästina möchte keinen kleinen Staat neben Israel. Sie wünscht sich eine gemeinsame Demokratie mit Israel – nicht als einen jüdischen, sondern als einen demokratischen Staat zusammen mit den Israelis auf der Basis gleicher Rechte für alle.
Aber eine dritte Gruppe, größer als diese beiden zusammengenommen, wünscht sich einfach nur Menschen- und Bürgerrechte, egal in wie vielen Staaten – egal, ob sie israelische oder palästinensische Staatsbürger:innen sind. Sie möchten eine eigene Staatsbürgerschaft mit allen Rechten auf Freiheit und Demokratie. In Israel aber will die große Mehrheit weiterhin Apartheid, den Status quo – mit einer palästinensischen Bevölkerung ohne Rechte und unter israelischer Kontrolle.
Die internationale Gemeinschaft muss nicht darüber entscheiden, welche Lösung die beste für die Menschen wäre. Die Aufgabe der internationalen Gemeinschaft ist es, die Menschenrechte zu unterstützen und dann die betroffenen Menschen vor Ort ihre eigenen Entscheidungen treffen zu lassen, wie sie leben möchten.
Man hört oft den Vorwurf, dass die Palästinenser jeden Vorschlag der israelischen Seite für einen Friedensprozess zurückgewiesen hätten und dass Palästina zudem eine adäquate, von der Bevölkerung akzeptierte Führung vermissen ließe, mit der man verhandeln könne. Wann gab es zuletzt Vorschläge von israelischer Seite zur Lösung des Konfliktes, für einen Frieden oder für einen palästinensischen Staat?
Shir Hever: Es gab nie einen Vorschlag der israelischen Seite, der die Rechte der Palästinenser:innen respektiert hätte. Alle Vorschläge, die gemacht wurden, kamen von Jitzchak Rabin, Ehud Barak und Ehud Olmert – und zwar nur von diesen dreien.
Alle ihre Vorschläge forderten von den Palästinenser:innen, dass sie auf einen Teil ihrer Rechte verzichten sollten – zu Gunsten anderer Rechte, die man ihnen dann zugestehen würde. Sie sollten in einem Land ohne eigene Armee, mit einer beschränkten Autonomie ohne Bewegungsfreiheit leben.
Auf der Seite der palästinensischen Führung gab es in den vergangenen Jahren dagegen sehr viele Angebote. Die PLO hat den Staat Israel offiziell anerkannt, und zwar in den Grenzen von 1967. Damit haben sie sich mit 20 Prozent palästinensischem gegenüber 80 Prozent israelischem Land zufriedengegeben. Sie haben auch dem Angebot der Arabischen Liga von 2002 zugestimmt (vgl. etwa NZZ) – ein Friedensangebot, das Israel abgelehnt hat.
Auf der israelischen Seite gibt es kein Interesse an Friedensangeboten. Denn warum sollte Israel auch nur auf einen Zentimeter Land verzichten? Solange die Machtungleichheit so viel Unterstützung erhält, egal, wie viel Menschenleben das fordert, egal, wie viele Kriegsverbrechen begangen werden, solange können Israelis fast alles ungestraft tun.
Deswegen müssen wir in Deutschland zu einer klaren Haltung kommen, nämlich nur Staaten zu unterstützen, die das internationale Völkerrecht respektieren. Das heißt, dass der Staat Israel keine Unterstützung mehr bekommen sollte. Dann könnte Israel Friedensangebote nicht mehr so leicht ablehnen oder ignorieren.
Die EU sollte das Assoziierungsabkommen mit Israel stoppen
Ist ein Ende der Besatzung derzeit vorstellbar? Und wie könnte Beendigung der Besatzung aussehen? Kann solch ein Vorgang überhaupt auf rein bilateraler Ebene zwischen Israel und Palästina stattfinden oder braucht es dazu das Ende der massiven finanziellen Unterstützung durch die EU und die USA? Wäre Druck der vielversprechendere Weg – etwa die Aussetzung oder Aufkündigung des Assoziierungsabkommen Israels mit der EU?
Shir Hever: Ich glaube, dass die EU das Assoziierungsabkommen mit Israel stoppen sollte – aus moralischen Gründen, und zwar unabhängig davon, ob das die Besatzung beenden wird oder nicht. Das ist eine moralische Pflicht der EU. Die Palästinenser:innen sind in der Frage nach dem Ende der Besatzung einiger als je zuvor.
Palästinensische Forscher:innen stellen fest, dass die palästinensische Gesellschaft ein ausgeprägtes Wissen über die israelische Kultur und Politik hat. Fast jede:r Palästinenser:in kann zahlreiche israelische Politiker:innen und ihre Positionen nennen, aber Israelis kennen vielleicht zwei oder drei Namen palästinensischer Politiker:innen oder sogar nur den von Mahmud Abbas.
Das zeigt, dass die Palästinenser:innen mit offenen Augen kämpfen, während die israelische Seite, die mit mehr Waffen, mehr Macht, mehr internationaler Unterstützung ausgerüstet ist, mit geschlossenen Augen kämpft. Sie haben keinen Plan für die Zukunft. Die Palästinenser:innen dagegen haben einen Plan für die Zukunft. Das ist ihr enormer Vorteil.
Die Besatzung ist nicht haltbar
Ich halte es nicht für sehr wahrscheinlich, dass mit dem Ende der Besatzung zwei Staaten nebeneinander existieren werden. Wenn die Israelis zwischen dem Ende der Besatzung oder einer Ein-Staat-Lösung entscheiden müssten, würden die meisten vermutlich Letzterem zustimmen. Vielleicht wird die politische Institution Israel durch eine andere politische Institution ersetzt, vielleicht unter anderem Namen, einer anderen Flagge, anderer Gesetzgebung. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird dieser neue Staat demokratisch sein.
Ich glaube, dass die Besatzung nicht haltbar ist. Trotz der internationalen Unterstützung ist sie nicht haltbar, weil – wie schon gesagt – die israelischen Soldaten ihr Leben nicht riskieren wollen. Auch die israelischen Zivilisten wollen keine Opfer bringen und keine Konsequenzen ziehen.
Die Boykottbewegung wird weltweit immer stärker werden – sogar in Deutschland, und die Israelis werden früher oder später damit konfrontiert werden. Der internationale Druck ist wichtig, um die Machtungleichheit zu beenden.
Aber über die Ziele und auch die Maßnahmen für eine Lösung nach dem Ende der Besatzung müssen die Palästinenser:innen wie schon erwähnt selbst entscheiden. Es gibt zurzeit eine intensive Diskussion in Palästina, ob sie mit Waffen oder gewaltlos mit Graswurzelbewegungen gegen die Besatzung kämpfen sollen.
Selbstverständlich bin ich absolut für die zweite Gruppe. Ich möchte nicht, dass auch nur ein Mensch – sei es auf der israelischen oder der palästinensischen Seite – getötet wird. Meine Meinung dazu ist sehr klar: Keine Waffen und keine Gewalt.
Aber damit man die Kämpfenden überzeugen kann, den bewaffneten Kampf aufzugeben, muss man ihnen Alternativen für den gewaltlosen Weg aufzeigen. Um das zu erreichen, dass die gewaltbereite Gruppe ihren Kampf mit Waffen aufgibt – dafür ist die internationale Unterstützung und Solidarität sehr wichtig.
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