Israelische Militäroperation im Westjordanland: Wie viel Krieg ist zu viel Krieg?
Die Kosten des Mehrfrontenkriegs im Nahen Osten werden für alle Beteiligten immer erdrückender. Die Region verarmt. Dabei steigt die Gefahr einer Eskalation.
Es sieht nicht gut aus: 120 Milliarden US-Dollar werde der Krieg Israel wohl kosten, berichtete die Nachrichtenagentur Associated Press vor einigen Tagen. Denn die Wirtschaft liegt am Boden: Viele Kleinbetriebe haben aufgegeben, der Tourismus, ein wichtiger Wirtschaftszweig, ist zum Erliegen gekommen.
Und auch wenn es die Arbeitslosenquote bisher nicht hergibt: Nach Angaben der israelischen Statistikbehörde ist die Armut, die aufgrund der hohen Lebenshaltungskosten traditionell ohnehin schon höher ist als in anderen Ländern, die dem Westen zugerechnet werden, noch weiter gestiegen.
Eingesetzt hatte diese Entwicklung schon bereits kurz nach Kriegsausbruch im Oktober 2023.
Gazastreifen und Libanon
Natürlich ist das nur ein Teil der Geschichte: Im Gazastreifen liegen ganze Städte in Trümmern, ist nahezu die gesamte Bevölkerung auf der Flucht. Eine Wirtschaft gibt es nicht mehr.
Im Libanon dauert die Wirtschaftskrise bereits seit 2019. Vor fast zwei Wochen ging das letzte funktionierende Elektrizitätswerk des Landes außer Betrieb; der Irak hatte die Öllieferungen eingestellt, nachdem der Libanon dort mittlerweile mit 1,6 Milliarden US-Dollar in der Kreide stand und es immer noch tut: Es ist einfach kein Geld da.
Momentan sitzen die Menschen im Dunkeln und warten auf 30.000 Tonnen Öl, die Algerien kostenlos liefern will.
Die Priorität des Kriegs
Die Hisbollah hingegen, die im Libanon einen Staat im Staat gebildet hat, die Hamas, die den Gazastreifen Jahre lang kontrolliert hat, Israels Regierung und mittlerweile auch die Huthi-Organisation im Jemen setzen indes andere Prioritäten: die des Krieges. Auch wenn es bedeutet, die eigene Wirtschaft oder auch gleich das eigene Land zu zerstören.
Zum Krieg im Gazastreifen kam ein Abnutzungskrieg zwischen Israel und der Hisbollah hinzu und am Montag startete Israels Militär nun auch einen großangelegten Militäreinsatz im Westjordanland: Unter anderem in Dschenin und in Tulkarem marschierten Truppen ein, um gegen Einrichtungen der Hamas und anderer Milizen vorzugehen.
Zur Evakuierung aufgerufen
Israels Außenminister Israel Katz forderte gar, das Militär solle die Menschen zur Evakuierung aufrufen. Aus seiner Sicht würde das zivile Opfer vermeiden. Viele Palästinenser befürchten jedoch, dass dies der erste Vorbote von Zerstörungen wie im Gazastreifen ist.
Auf allen Seiten werden nun die Rufe nach De-Eskalation laut, auch in Israel, wo die von Regierungschef Benjamin Netanjahu und die von seiner Regierung aufgestellten Kriegsziele als nicht erreichbar kritisiert werden. Unter anderem sollen die Hamas und ihre Strukturen komplett zerstört und die am 7. Oktober 2023 aus Israel entführten Geiseln befreit werden.
Aber vor allem warnten Militärführung und Geheimdienste in den vergangenen Monaten mehrfach, zu viele Fronten zur gleichen Zeit würden die Streitkräfte überfordern und aufgrund der wirtschaftlichen Folgen der eigenen Seite ebenso großen Schaden zufügen wie den Gegnern.
Doch gleichzeitig gibt es auch genug Argumente dafür, dass es möglicherweise keine andere Option gibt.
Überforderte Sicherheitskräfte im Westjordanland
Im Westjordanland verlieren die Sicherheitskräfte der palästinensischen Autonomieverwaltung zunehmend auch dort die Kontrolle, wo sie eigentlich für die Aufrechterhaltung der Sicherheit zuständig sind. Denn ihre Bewaffnung ist aufgrund der Regelungen in den Osloer Verträgen nur leicht; zudem haben nach Angaben der Zivilverwaltung viele Polizisten gekündigt, weil sie über Monate keinen Lohn erhalten haben.
Grund dafür ist, dass Israels Regierung wiederholt die Überweisungen von Steuer- und Zolleinnahmen zurückgehalten hat. Und auch die westlichen Regierungen, allen voran die Staaten der Europäischen Union, die bislang den palästinensischen de facto-Staatshaushalt aufbesserten, sind mittlerweile knausriger geworden.
Wie machtlos die palästinensischen Sicherheitskräfte mittlerweile sind, zeigte sich vor gut einem Monat, als Abu Schuja’a, Kommandeur der Nur Schams-Brigade, festnehmen sollten. Sehr schnell wurden die Beamten mit einer großen Gruppe von Kämpfern der Brigade konfrontiert.
Die Nur-Schams-Brigade
Worum es sich bei der 2022 erstmals aufgetauchten Nur-Schams-Brigade handelt, ist völlig unklar: Entstanden im kleinen, sehr armen ehemaligen Flüchtlingslager Nur Schams, verfügt die Gruppe mittlerweile eine große Zahl an Kämpfern, moderne Waffen und einen hohen Organisationsgrad.
Normalerweise kann man die Milizen in den palästinensischen Gebieten Fraktionen wie der Hamas oder der Fatah zuordnen. In diesem Fall weiß man nicht, wer dahintersteckt.
Die palästinensische Regierung sieht solche Entwicklungen als direkten Angriff auf ihren Machtanspruch, den sie mit immer autokratischeren Mitteln durchsetzt.
Und für Israel sind sie eine Bedrohung, denn vom erhöht liegenden Westjordanland aus liegen große Teile der Bevölkerungszentren in der Schusslinie.
Hamas im Westjordanland und in Jordanien
In den vergangenen Jahren waren die militärischen Strukturen der Hamas im Westjordanland eher schwach ausgeprägt. Nun scheint sich das zu ändern. Der Gazakrieg und die Schwäche der enorm unbeliebten palästinensischen Regierung hat ihr in Städten wie Dschenin oder Nablus Zulauf beschert.
Zudem scheinen auch die iranischen Revolutionsgarden nun massiv in die Infrastruktur der Hamas im Westjordanland zu investieren. Und: in Jordanien.
Israels Militär erklärte am Dienstag, mittlerweile würden Waffen und Sprengstoff in großem Stil über die Grenze zwischen Jordanien und dem Westjordanland geschmuggelt. Aus den Reihen der jordanischen Regierung wird das bestätigt und auch die Befürchtung geäußert, dass die Hamas zusammen mit der Muslimbruderschaft in Jordanien mit Unterstützung aus Teheran auch im Königreich militärische Strukturen aufbauen will.
Ein Großteil der Bevölkerung ist palästinensischer Abstammung; das Land gehört allerdings neben Ägypten zu Israels engsten Verbündeten in der Region. Die Gefahr einer Eskalation sei nun enorm, heißt es in Amman.
Und der Iran? Auch dort herrscht eine tiefe soziale und wirtschaftliche Krise. Teils wurde sie durch die US-Sanktionen verursacht. Ein großer Teil davon liegt allerdings an den verkrusteten, intransparenten Regierungs- und Verwaltungsstrukturen.
Und daran, dass jährlich Milliarden ins Ausland abfließen: zu den militanten, den terroristischen Gruppen in der arabischen Welt.