Neuer Hamas-Chef: Welche Folgen hat Sinwars Ernennung für die Lage in Nahost?
Nach Haniyyas Ermordung führt der Hardliner Yahya Sinwar die Hamas. Wie wird sich der Kurs der Organisation ändern? Unsere Gastautoren beleuchten die neu entstandene Lage.
Während der gesamte Nahe Osten gespannt darauf wartet, wie die vom Iran geführte "Achse des Widerstands" auf die mutmaßlich von Israel verübte Ermordung des Hamas-Politbürochefs Ismail Haniyya am 31. Juli in Teheran reagieren wird, wirft die Entscheidung der Gruppe, Yahya Sinwar zu ihrem neuen Chef zu ernennen, Fragen über ihre künftige Strategie auf.
Unterschiedliche Ansätze innerhalb der Hamas
Im Gegensatz zu Haniyya, der in Katar stationiert war und als oberster Vertreter der Hamas im Ausland fungierte, ist Sinwar seit seiner Freilassung aus einem israelischen Gefängnis im Jahr 2011 im Rahmen eines Gefangenenaustauschs in Gaza ansässig.
In Gaza diente Sinwar, der 2015 von den USA als Terrorist eingestuft wurde, von 2013 bis 2017 im Politbüro der Hamas, bevor er die Führung der Bewegung in Gaza übernahm. Sinwar ist einer der langjährigen Militärkommandeure der Hamas. Israel hält ihn für den Drahtzieher der Operation "al-Aqsa-Flut", wie der Angriff auf Israel am 7. Oktober genannt wird.
Angesichts der sehr unterschiedlichen Umstände, unter denen Haniyya und Sinwar agierten, erscheint es sinnvoll zu fragen, ob der formale Führungswechsel zu Veränderungen in der Art und Weise führen wird, wie die Hamas ihren Kampf gegen Israel führt, sich mit anderen palästinensischen Fraktionen auseinandersetzt und ihre Beziehungen zu ausländischen Mächten gestaltet.
Die Hamas ist nicht monolithisch. Verschiedene Figuren innerhalb der Hamas haben unterschiedliche Ansätze verfolgt, was die Spaltungen innerhalb der Organisation unterstreicht, die durch die Unterschiede zwischen Haniyya und Sinwar hervorgehoben werden.
Mit Sinwar übernimmt ein Hardliner
Haniyya war eher für seine Mäßigung und seinen Pragmatismus bekannt. Innerhalb der Hamas war er eine einflussreiche Stimme, die für Diplomatie mit Israel und Kompromissbereitschaft plädierte. Sinwar dagegen gilt als Hardliner. Als neuer Hamas-Chef wird er vermutlich weniger kompromissbereit gegenüber Israel sein.
Vor Haniyyas Ermordung Ende letzten Monats hatte Sinwar bereits erheblichen Einfluss auf die Verhandlungen der Hamas mit Israel. Einige Experten gehen jedoch davon aus, dass die Hamas ohne Haniyya, der die harte Haltung Sinwars ausbalancierte, in diesem Krieg wahrscheinlich immer extremere Positionen einnehmen wird.
Am 11. August berichtete Reuters, dass die Hamas "angedeutet hat, dass sie sich aus der neuen Gesprächsrunde heraushalten könnte", die die USA, Ägypten und Katar zu vermitteln versuchen. Dies könnte ein Hinweis auf eine Verhärtung von Positionen sein, die die Hamas mit Sinwar an der Spitze wahrscheinlich durchlaufen wird.
Khaled Elgindy, Leiter des Palästina-Programms am Middle East Institute in Washington, erwartet, dass Sinwar eine trotzige Haltung einnehmen wird: "Wir können zumindest erwarten, dass die Entscheidungsfindung der Hamas härter wird", sagte er RS.
"Es besteht kein Zweifel, dass ein Waffenstillstand schwerer zu erreichen sein wird ... Die Ernennung Sinwars ist auch ein Akt des Trotzes, der Israel die Botschaft übermitteln soll, dass die Hamas nicht nur nicht besiegt wurde, sondern bereit ist, weiter zu kämpfen", fügte Elgindy hinzu.
Hamas’ Einigung mit der Fatah
Ob Sinwar die entscheidenden Einheitsgespräche mit den anderen palästinensischen Fraktionen, insbesondere zwischen Hamas und Fatah, anders angehen wird als sein Vorgänger, ist ungewiss.
Acht Tage vor seiner Ermordung in der iranischen Hauptstadt unterzeichnete Haniyya eine Erklärung zur Versöhnung in Beijing, in der Hamas, Fatah und zwölf andere palästinensische Gruppen sich darauf einigten, die "Spaltung zu beenden und die palästinensische Einheit zu stärken."
Einige Experten gehen davon aus, dass der Aufstieg Sinwars die Kalkulationen der Hamas in Bezug auf Versöhnungsgespräche mit der Fatah und anderen palästinensischen Gruppierungen nicht zwangsläufig verändern wird.
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"Das Haupthindernis für den Erfolg solcher Initiativen ist weder die Hamas noch die Fatah, sondern [der palästinensische Präsident] Mahmoud Abbas", sagte Mouin Rabbani, palästinensischer Politanalyst und Herausgeber von Jadaliyya.com, einer Publikation des Arab Studies Institute, in einem Interview mit RS. "Solange Abbas im Amt bleibt, ist der Erfolg jeder Initiative gleich null", fügte er hinzu.
Elgindy glaubt, dass Sinwars Ersetzung von Haniyya "die ohnehin düsteren Aussichten für eine nationale Versöhnung weiter verkompliziert", weil Sinwar "skeptischer gegenüber Zugeständnissen an Abbas und die Fatah" gewesen sei.
Gegenüber RS sagte er auch, dass die Untergrabung des palästinensischen Einheitspotenzials wahrscheinlich eines der israelischen Motive für die Ermordung Haniyyas im vergangenen Monat gewesen sei.
Ausländische Unterstützung für die Hamas
Im Laufe der Jahre gab es Meinungsverschiedenheiten zwischen hochrangigen Hamas-Führern über die Beziehungen der Gruppe zu ausländischen Mächten. Als beispielsweise 2011 der Arabische Frühling in Syrien ausbrach, konnte sich die Hamas-Führung nicht darauf einigen, wie sie mit der Regierung von Präsident Baschar al-Assad umgehen sollte.
Einige innerhalb der Hamas sahen Damaskus als wichtigen Sponsor und glaubten, dass die Aufrechterhaltung einer positiven Beziehung zum syrischen Regime notwendig sei, während andere glaubten, dass die Unterstützung der mit der Muslimbruderschaft verbundenen Elemente im anti-Baath-Aufstand sowohl eine strategische als auch moralische Verpflichtung war.
Dies ist wichtig zu verstehen, da die Hamas aus der Muslimbruderschaft hervorging, bevor sie sich während der ersten Intifada 1987 in Gaza offiziell gründete.
Während Sinwar lange Zeit dafür plädierte, die Beziehungen der Hamas zum Iran, zu Syrien und zur libanesischen Hisbollah aufrechtzuerhalten, vertrat der in Doha ansässige Khaled Meshaal, Haniyyas Vorgänger von 1996 bis 2017, die Ansicht, die palästinensische Gruppe müsse sich von der iranisch geführten "Achse des Widerstands" distanzieren und die Hamas der Türkei, Katar und in gewissem Maße auch Saudi-Arabien annähern.
Zehn Monate nach Beginn des israelischen Kriegs gegen Gaza wird Sinwar eine Stimme für den Aufbau guter Beziehungen zwischen der Hamas und praktisch jeder Regierung oder Organisation in der Welt sein, die bereit ist, die palästinensische Gruppe auf die eine oder andere Weise zu unterstützen.
Einfach ausgedrückt: Sinwar glaubt, dass Entscheidungen über die ausländischen Beziehungen der Hamas auf praktischen Überlegungen und Interessen basieren müssen, nicht auf ideologischen Faktoren.
Im Gegensatz zu Haniyya wird Sinwar natürlich nicht in der Lage sein, Gaza zu verlassen, zumindest so lange der gegenwärtige Krieg Israels gegen die Enklave andauert.
Allen Berichten zufolge war Sinwar Israels Hauptziel für die Ermordung und hat sich seit dem 7. Oktober hauptsächlich in tiefen unterirdischen Tunneln aufgehalten, obwohl Haniyya und andere Hamas-Funktionäre außerhalb Gazas mit ihm kommunizieren konnten.
"Da Sinwar irgendwo in Gaza Unterschlupf gefunden hat, wird sein Aufstieg nicht viel daran ändern, wie andere Länder mit der Hamas umgehen, die weiterhin mit Hamas-Führern wie Meschaal, [Khalil] Al-Hayya, [Mousa] Abu-Marzouq usw. zu tun haben werden", sagte Elgindy gegenüber RS.
Drohungen künftig noch wirkungsloser
Angesichts der Tatsache, dass Israel diese Ermordung im Iran durchgeführt hat und eine vergleichbare Aktion in Katar oder der Türkei deutlich unwahrscheinlicher wäre, ist es schwer vorstellbar, dass die Hamas einer Verlegung ihrer politischen Führung an Orte außerhalb Katars zustimmen würde.
"Mit einem formellen Anführer jetzt in Gaza wird die Hamas weniger auf potenzielle Drohungen reagieren, die ständig von Doha aus von den USA und Israel kommen, um Hamas-Anführern in Katar mit Ausweisung zu drohen", erklärte Rabbani.
Am Ende hat Israel mit der Ermordung Haniyyas eine moderate Figur innerhalb der Hamas ausgeschaltet und wird seinen Krieg gegen die Hamas nun mit einem weniger kompromissbereiten militärischen Anführer fortsetzen.
Es ist wahrscheinlich, dass die neue Hamas-Führung dem bewaffneten Widerstand oberste Priorität einräumt und ihn als einzigen realistischen Weg zur Befreiung ansieht, während die Grenze zwischen dem politischen und militärischen Flügel der Gruppe zunehmend verschwimmt.
Für Israel ist eine solche Veränderung nützlich, um weiterhin den Narrativ verkaufen zu können, dass die Hamas der Hauptgrund dafür sei, dass es keinen Frieden in Gaza gibt. Diese Botschaft könnte bei den meisten Gesetzgebern und einem Großteil des außenpolitischen Establishments in Washington gut ankommen.
Mit Blick auf die Beendigung des grausamen Kriegs in der Enklave, wird Sinwars Aufstieg wahrscheinlich nichts Positives bewirken.
Abdelhalim Abdelrahman ist ein palästinensisch-amerikanischer Schriftsteller und Journalist aus Michigan. Über seine Arbeit wurde in The Hill, MSN, The New Arab und La Razon berichtet. Er befasst sich schwerpunktmäßig mit Themen um Palästina, Menschenrechten und der palästinensischen Frage im Zusammenhang mit der regionalen Nahostpolitik.
Giorgio Cafiero ist CEO und Gründer von Gulf State Analytics, einem Beratungsunternehmen für geopolitische Risiken mit Sitz in Washington DC. Außerdem ist er Adjunct Assistant Professor an der Georgetown University und Adjunct Fellow beim American Security Project.
Dieser Text erschien zuerst bei unserem Partnerportal Responsible Statecraft auf Englisch