Ist der Mensch ein Automat?
Probleme mit der Willensfreiheit bei Hirnforschern und Philosophen
Der französische Philosoph René Descartes ist vor allem für seinen methodischen Zweifel bekannt, den er mit dem Satz "Ich denke, also bin ich" auflöste. Abgesehen vom Zweifeln war Descartes jedoch auch einer der ersten Neurophysiologen und kam nach langjährigen Untersuchungen 1637 zu dem Ergebnis, Tiere seien bloße Automaten1 (und hat damit leider auch eine Ära der Gewalt gegen Tiere begründet). Seitdem haben sich die Neurowissenschaften explosionsartig entwickelt und heute könnte es passieren, dass wir Menschen zum Automaten degradiert werden. Die aktuelle Debatte über die Willensfreiheit bietet hierfür ein Beispiel. Auch wenn es vordergründig um den freien Willen geht, ist die eigentliche Frage, was die moderne Wissenschaft von unserer intimsten Erlebniswelt übrig lässt.
Der Naturwissenschaftler
Der Naturwissenschaftler hat kein Problem mit der Willensfreiheit. Für ihn gibt es ihn schlichtweg nicht, den freien Willen. Es gebe nur kognitive Prozesse, eine "Folge der sich ständig wandelnden Zustände des Gehirns", sagt der Hirnforscher Wolf Singer2. Was wir, jeder von uns, tausendfach am Tag erleben, seien ausschließlich kulturelle Konstrukte. Im Gehirn stehe von vorneherein alles fest. Die Neurobiologie lehre uns, dass "alle Prozesse im Gehirn deterministisch sind und Ursache für die je folgende Handlung der unmittelbar vorangehende Gesamtzustand des Gehirns ist." Bestenfalls wird man unscharfe Einflüsse des Zufalls zugestehen, durch thermisches Rauschen zum Beispiel. Daher kann es für den Naturwissenschaftler keinen freien Willen geben. Neben der Willensfreiheit ist dann in der wissenschaftlichen Welt aber auch für das eigene Erleben, für die Subjektivität außer als Illusion kein Platz.
Es gibt also einen scheinbar unvereinbaren Graben zwischen Freiheit und Wissenschaft. Man kann nicht beides haben, muss sich von einem verabschieden. Auf den Punkt gebracht hat das der Psychologe Wolfgang Prinz in seinem Aufsatz "Freiheit oder Wissenschaft?"3 Mittlerweile vergleicht er den freien Willen mit Einhörnern, die es eigentlich nicht gebe, praktisch aber eben doch.4
Was heißt das für die Willensfreiheit? Eigentlich könne es sie nicht geben, weil sie nicht in das wissenschaftliche Weltbild geschlossener kausaler Ketten und des vollständigen Determinismus' passe. Praktisch gebe es sie aber doch, weil wir Freiheitsintuitionen hätten, "soziale Institutionen im Dienste der kollektiven Regulierung individuellen Handelns." Diese Intuitionen, diese erlebten Phänomene, würden sich psychologisch, gesellschaftlich und kulturell untersuchen lassen, hätten sonst aber nichts mit der Realität zu tun. Genau wie die Einhörner.
Unsere Erlebniswelt wird aber auch von einer ganz anderen Seite von der Wissenschaft angegriffen. Fallstudien Epilepsiekranker zum Beispiel zeigen, zu welchen Leistungen Menschen fähig sind, die das Bewusstsein ihrer Selbst, ihr Ich-Gefühl, das wir für so wichtig halten, verloren haben. Verursacht durch eine Fehlfunktion im Gehirn, zeigen Patienten während eines so genannten epileptischen Automatismus komplexes Verhalten, wie etwa Kaffeetrinken oder Umherlaufen in Gebäuden und auf der Straße. Der Hirnforscher Antonio Damasio beschreibt es in seinem Buch "Ich denke, also fühle ich"5 wie folgt:
Während eines vollkommen normalen Gesprächs würde der Patient mitten im Satz innehalten, erstarren, egal, was für eine Bewegung er gerade ausführte, und ins Leere starren, das Gesicht ohne jeden Ausdruck, maskenhaft. Der Patient bliebe aber wach und die Muskelspannung erhalten. Der Patient fiele nicht hin, hätte keine Krämpfe und würde nich loslassen, was er gerade in der Hand hielte. [...]
Wenn der Automatismus einsetzt, werden die Ereignisse noch spektakulärer. Die Situation ähnelt einer Filmvorführung, bei der von Standbild auf Normaltempo umgeschaltet wird. Die Show geht weiter. Wenn der Patient aus seiner Erstarrung erwacht, sieht er sich um, richtet den Blick auf Sie oder ein anderes in seiner Umgebung befindliches Objekt, wobei sein Gesicht leer bleibt und keinen erkennbaren Ausdruck zeigt. Er trinkt aus einem Glas auf dem Tisch, schmatzt mit den Lippen, zupft an seiner Kleidung, steht auf, dreht sich um, geht zur Tür, öffnet sie, zögert jenseits der Schwelle und geht dann den Flur entlang. [...]
Der Patient könnte irgendwo auf dem Flur stehen bleiben und verwirrt aussehen. Oder er würde sich auf eine Bank setzen, wenn es dort eine gäbe. Es wäre aber auch möglich, dass er seinen Weg fortsetzte. In der extremsten Spielart dieser Episoden könnte eintreten, was als 'Fugue epileptique' bezeichnet wird: Der Patient würde das Gebäude verlassen und auf die Straße gehen. Dem geübten Beobachter würde er seltsam und verwirrt erscheinen, trotzdem könnte der Patient seinen Weg möglicherweise ohne Schwierigkeiten fortsetzen.
Aber schon 1874 berichtete der französische Arzt Ernest Mesnet von einem noch erstaunlicheren Fall.6 Ein Stabsunteroffizier der französischen Armee hatte im Kampf von einem preußischen Soldaten eine Kugel in den Kopf bekommen, bevor er diesen mit dem Bajonett erwischte. Im Krankenhaus wurde Mesnet Zeuge so komplexer Handlungen wie dem Zigaretten Drehen, Briefe Schreiben und sogar Lieder Singen, das der Soldat während seiner häufig auftretenden Absence-Perioden mechanisch ausführte. Descartes lässt grüßen. Nur sind es diesmal nicht die Tiere, sondern wir selbst, die Automaten sein könnten.
Der konforme Philosoph
Der konforme Philosoph hat auch kein Problem mit der Willensfreiheit. Selbst die Verweise der Naturwissenschaftler auf neuronale Determination im Gehirn müssen ihn nicht ängstigen. Willensfreiheit, das glaubt er zu wissen, habe nichts mit Determinismus oder Indeterminismus zu tun, und er konstatiert: In unserem Willen sind wir frei, wenn wir wollen können, was wir wollen wollen. Alles klar? Dieses Modell von der Willensfreiheit nennt er dann Kompatibilismus.
Der Philosoph Ansgar Beckermann erklärt das so, dass eine Entscheidung frei ist, "wenn sie so zustande gekommen ist, dass sie durch Überlegungen des Handelnden, durch das Abwägen von Gründen hätte beeinflusst werden können."7 Bestimmte neuronale Prozesse seien eben nicht nur Hirnvorgänge, sondern auch rationale Überlegensprozesse. Wenn es zu einer Entscheidung komme, dann wegen bestimmter neuronaler Prozesse, die auch mentale Prozesse der Entscheidungsfindung seien. Kommt es also nur auf die richtige Beschreibung an, damit sich das Problem der Willensfreiheit selbst löst?
Der Philosoph Peter Bieri würde diese Frage wohl bejahen und hilft uns gleich mit einer Analogie: "Betrachten wir ein Gemälde. Wir können es als einen physikalischen Gegenstand beschreiben. Wir können aber auch vom dargestellten Thema sprechen. Oder es geht uns um Schönheit und Ausdruckskraft. Oder um den Handelswert. Derselbe Gegenstand wird aus unterschiedlichen Perspektiven beschrieben. Alles, was wir sagen, ist im gleichen Sinne wahr."8
"Wie beim Gemälde, so beim Menschen", fährt er fort. Es gebe einfach viele Geschichten über den Menschen, darunter auch eine physiologische und eine psychologische. Wer nun den freien Willen auf der physiologischen Ebene suche, der verhalte sich ebenso absurd wie jemand, der in den Atomen des Gemäldes das dargestellte Thema finden wolle. Man müsse eben nur auf der richtigen Ebene suchen, auf der Ebene von Personen, im Beschreibungssystem des Wollens, Überlegens und Handelns. Und siehe da: für den konformen Philosophen gibt es tatsächlich kein Problem mit der Willensfreiheit.
Der mutige Philosoph
Für den mutigen Philosoph gibt es zwar ein Problem mit der Willensfreiheit, aber er bietet uns gleich die passende Lösung. Die biologische Evolution habe im Laufe ihrer Geschichte eine Vielzahl verschiedener Systeme zustande gebracht, zum Beispiel einfache und komplexe reagierende Organismen. Ähnlich wie man bei einem Piano auf die Tasten drücke und es einen Ton gebe, würden diese Organismen auf gegebene Bedingungen reagieren. Und genauso wie beim Piano immer der gleiche Ton erklinge, wenn man eine bestimmte Taste auf dieselbe Weise drücke, reagiere der Organismus auf gleiche gegebene Bedingungen immer identisch, sofern er nicht lernfähig sei.
Nun habe die Evolution aber auch wahre Entscheidungsträger und damit unsere ganze Erlebniswelt entstehen lassen, da es für einen Organismus von Vorteil sei, sich indeterminative Information zugänglich zu machen. Diese diene dann als Basis für Überlegung, sodass in einer Situation auf verschiedene Weisen reagiert werden könne. So einen Standpunkt vertritt der Philosoph Uwe Meixner.9 Dass er mit einem vollständigen Determinismus nicht vereinbar ist, stört ihn dabei nicht. Wenn schon die Mikro-Welt, die Welt im Kleinsten, nicht determiniert sei, wie etwa beim Zerfall radioaktiver Substanzen, warum solle sich dieser Indeterminismus dann nicht auch auf die Makro-Welt, unsere Welt im großen, übertragen, wie zum Beispiel bei einem Geigerzähler?
Es bleibt dann nur noch die Frage, wo dieser Entscheidungsträger zu finden ist. Es sei die Seele, würde Meixner jedenfalls antworten. Die Seele verstanden als ein Produkt der biologischen Evolution.
Der Kritiker
Der Kritiker hat zunächst kein Problem mit der Willensfreiheit, sondern mit der Debatte darüber. Dem Naturwissenschaftler wirft er vor, dass er vielleicht zu voreilig ist mit seiner Verabschiedung des freien Willens. Was meint der überhaupt mit "Zufall"? In einer Antwort würden sich wahrscheinlich Begriffe wie "komplex", "nichtlinear" und "dynamisches System" häufen. Außerdem gibt es auch in den Neurowissenschaften Hinweise auf Indeterminismus auf der zellulären und subzellulären Ebene, der sich auf höhere Ebenen auswirken könnte. So hat der Neurologe Paul Glimcher erst kürzlich in einem Überblicksartikel gezeigt, dass es auf allen Ebenen vom Mikro- bis in den Makro-Bereich zumindest einen scheinbaren Indeterminismus gibt.10
Das würde dazu passen, dass sich menschliches Verhalten so hartnäckig wissenschaftlichen Voraussagen widersetzt, was nicht zuletzt Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlern Probleme bereitet. Die Frage, ob unsere Welt vollständig deterministisch ist oder nicht, ist also noch lange nicht gelöst. Zum Beispiel geht der Physiknobelpreisträger von 1999, Gerard 't Hooft, davon aus, dass die Physik noch eine deterministische Ebene finden wird, der das indeterministische Quantenverhalten zugrunde liegt.11 Wer weiß, was danach noch kommt?
Der Kritiker glaubt außerdem nicht, dass der konforme Philosoph Willensfreiheit lange durch einen Wechsel der Beschreibungsebene verteidigen können wird. Schließlich konkurrieren in der Debatte auch Erklärungsansprüche miteinander. Das heißt, es geht um die Frage, wer die Welt erklären darf: die Geistes- oder Naturwissenschaftler? Es prallen Weltbilder aufeinander, die vielleicht nicht so harmonisch koexistieren können, wie es sich der konforme Philosoph wünscht. Gerade wenn es um das Gehirn geht, ist dies besonders brisant, ist es doch der Zement, auf dem unser erlebtes Universum gebaut ist.
Sollte den Wissenschaftlern eines Tages eine vollständige Erklärung aller Phänomene gelingen, würde das eine große Konkurrenz für alle anderen bedeuten. Es könnte nämlich sein, dass sich das Thema eines Gemäldes und seine Schönheit eben doch in seinen physikalischen Eigenschaften finden lässt. Freilich können wir so lange noch tun, als wären wir wirklich frei, doch ist es nicht so leicht, wie Bieri zu behaupten, alle Ebenen seien schlichtweg wahr. Vielleicht gibt es nur eine grundlegende Wahrheit, die keinen Platz für andere lässt.
Der Standpunkt des mutigen Philosophen passt zwar am besten zur Erlebniswelt des Kritikers. Doch damit ist nichts über dessen Richtigkeit gesagt.
Wer hat also ein Problem mit der Willensfreiheit?
Niemand, ist die nahe liegende Antwort. In der Debatte um den freien Willen geht es stattdessen um Erklärungsansprüche, um den Status unserer Bewusstseinsphänomene und darum, ob wir mehr sind als komplexe physikalische Automaten.
Wenn die Neurowissenschaftler Recht haben, hängen wir vielleicht alle an der Matrix. Nur würde diese nicht wie im Film von bösen Maschinen, sondern unseren eigenen Gehirnen betrieben. Unsere erlebte Innenwelt wäre dann nur eine Illusion. Einen ähnlichen Gedanken hatte Descartes auch schon mit seinem bösen Dämon, der ihn an allem zweifeln ließ. Bis wir eine bessere Antwort gefunden haben, tun wir vielleicht gut daran, allen Diskutierenden in der Debatte mit der Forderung aus Schillers "Don Carlos" zu begegnen: "Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!"