Ist eine gesunde Wirtschaft nur um den Preis kranker Menschen möglich?
- Ist eine gesunde Wirtschaft nur um den Preis kranker Menschen möglich?
- Das Paradox des Kapitalismus
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Studien können inzwischen recht genau die Auswirkungen von Egoismus, Konkurrenz und Materialismus auf den Menschen feststellen. Ein Blick auf die Ergebnisse sollte sehr nachdenklich stimmen
Der US-amerikanische Sachbuchautor Dinesh D’Souza erklärte selbstgewiss: "Einige Kritiker werfen dem Kapitalismus vor, ein egoistisches System zu sein. Aber der Egoismus ist nicht im Kapitalismus - er ist in der Natur des Menschen." Die Überzeugung, die Natur des Menschen sei egoistisch, konkurrenzorientiert und materialistisch ist durchaus weit verbreitet. Ebenso wie die damit verbundene Ansicht, der Kapitalismus entspreche der Natur des Menschen.
In den letzten Jahrzehnten haben zahllose wissenschaftliche Studien untersucht, welche Folgen Egoismus, Konkurrenz und Materialismus auf den Menschen und das menschliche Zusammenleben haben. Wenn diese Eigenschaften tatsächlich der Natur des Menschen entsprechen, sollte sich dies auch in den Studien offenbaren und die Folgen auf die Menschen positiv, oder zumindest neutral, sein.
Nebenwirkungen der Konkurrenzsituation
Konkurrenz, die naturgemäß darauf abzielt, die Überlegenheit einer Person gegenüber einer anderen zu ermitteln, reduziert nachweisbar die Gefühle der Mitmenschlichkeit wie Empathie und Mitgefühl. Ebenso die Fähigkeit zur Gefühlsansteckung wird reduziert. Eine Studie mit sechs- bis siebenjährigen Kinder zeigte, dass sich sehr kompetitive Kinder von anderen Kindern dadurch unterschieden, dass sie weniger Empathie empfanden.
Diese bedenkliche Auswirkung ist leicht erklärbar. Denn die Reduzierung der Mitmenschlichkeit ist für den Konkurrenzkampf hilfreich, wenn nicht sogar notwendig, denn wenn es zum Sieg eines gewissen "Bisses" und "Killerinstinkts" bedarf, ist eine ausgeprägte Empathie hinderlich. Eine groß angelegte Studie über die Charakterprofile von 15.000 Sportlern kam zu dem Resultat, dass professionelle Sportler weniger an anderen Menschen interessiert als Normalbürger. Sie wünschen sich auch weniger die Unterstützung von anderen.
Der Konkurrenzkampf reduziert auch eine zentrale Fähigkeit des Menschen: Vertrauen. Matthieu Ricard, weltbekannter buddhistischer Mönch und promovierter Zellgenetiker, gibt daher zu bedenken: "In einer Gesellschaft mit ausgeprägtem Konkurrenzdenken herrscht Misstrauen unter den Menschen, ständiges Streben nach eigener Sicherheit und nach Durchsetzung eigener Interessen und sozialem Aufstieg, ohne allzu viel Rücksicht auf andere."
Fehlendes Vertrauen unter Menschen bzw. Misstrauen hat nachweisbar negative Folgen: Es steigert die Aggressionsbereitschaft. Ebenso erhöht Konkurrenz insgesamt die Aggressivität. Dies belegt eine Studie mit fünf- und sechsjährigen Kindern auf dem Sportplatz, wobei interessanterweise das Ergebnis dabei unabhängig davon ist, ob die Kinder als Sieger oder Geschlagene vom Platz gehen.
Weitere Phänomene, die mit dem Konkurrenzkampf einhergehen, haben ebenso negative Folgen: Stress reduziert Empathie. Druck und Zeitnot, Grundphänomen der Konkurrenzsituation und Alltagserfahrung in einem Großteil heutiger Berufsfelder senken die Hilfsbereitschaft drastisch und steigern die Aggressionsbereitschaft. Vereinzelung, die ein verbreitetes Phänomen im Wettbewerbssystem des Kapitalismus ist, reduziert das Mitgefühl. (In diesem Zusammenhang sei auf eine beunruhigende Tendenz hingewiesen: Während vor wenigen Jahrzehnten US-Amerikaner noch im Schnitt drei Menschen zu ihren engen Freunden zählten, ist im Jahr 2004 die häufigste Antwort auf die Frage nach der Anzahl enger Freunde: "null")
Nebenwirkungen des Materialismus
Geld hat bedenkliche Nebenwirkungen auf menschliches Verhalten. Menschen, die in Experimenten auf Geld geprimt (also unbewusst hieran erinnert) wurden, zeigen sich auffallend egoistischer und weniger hilfsbereit. Sie bevorzugen eine größere Distanz zu anderen Menschen und wählen eher die Möglichkeit, alleine zu sein.
Auch im Hinblick auf Reichtum lassen sich negative Folgen nachweisen:
- Reichtum reduziert Empathie.
- Reichtum reduziert die Sensibilität für die Gefühle anderer.
- Reichtum erhöht die Wahrscheinlichkeit unethischen Verhaltens (reiche Menschen sehen beispielsweise Gier eher als positiv und förderlich an).
Der Psychologe Tim Kasser, der in seinem Buch "The High Price of Materialism" hunderte Studien über die Auswirkungen des Materialismus auf Körper und Psyche des Menschen versammelt, erklärt, "die materialistischen Werte bei den Menschen führen dazu, dass sie Nähe und Fürsorglichkeit gegenüber anderen als unrentables Unterfangen betrachten, von dem sie selbst nichts haben. (…) Diese Werte bringen die Menschen dazu, die anderen hauptsächlich als Werkzeuge für ihre eigenen materialistischen Ziele anzusehen." Studien belegen tatsächlich, dass materialistische Menschen weniger Empathie und Mitgefühl für Leidende zu zeigen.
Nebenwirkungen auf das Selbstwertgefühl
Die in einem früheren Artikel (Konkurrenz oder Kooperation) ausführlicher beschriebenen negativen Auswirkungen der Konkurrenzsituation auf das Selbstwertgefühl, sollen an dieser Stelle der Vollständigkeit halber nur kurz erwähnt werden:
Konkurrenz stiftet Angst und Unsicherheit. Zum einen - naheliegenderweise - die Angst vor der Niederlage, zum anderen aber paradoxerweise auch die Angst vor dem Sieg. (Es gibt viele Beispiele von Sportlern, die im Angesicht des Sieges plötzlich versagen - beispielsweise der berühmte "Wackelarm" beim Tennis). Konkurrenz wirkt auch unabhängig vom Ergebnis frustrierend. Dieses Paradox löst sich auf, sobald man berücksichtigt, dass der Wettkampf oft als Bedrohung empfunden wird, weil immer auch die Ungewissheit des Ausgangs herrscht und stets eine Niederlage droht. Zuletzt ist die Konkurrenzsituation aber auch bedenklich, weil sie Kindern das Gefühl geben kann, nicht Herr des eigenen Schicksals zu sein.
Nebenwirkungen auf die Zufriedenheit
Menschen, deren Lebens oder Berufsziel entsprechend dem kapitalistischen Menschenbild vorrangig materialistisch definiert ist, sind hauptsächlich extrinsisch motiviert und zielen auf Belohnung und Ansehen ab. Die intrinsische Motivation, die sich dagegen von Neugier und Freude leiten lässt, hat für sie eine geringe Bedeutung. Dass sie dann aber auch weniger dauerhafte und vor allem auch weniger profunde positive Gefühle empfinden, die aus ihnen selbst heraus entstehen und zu ihrer Zufriedenheit führen, leuchtet unmittelbar ein.
Da aber auf der anderen Seite auch das Erreichen materialistischer Ziele, beispielsweise in Form des Kaufs eines Statussymbols, nur eine sehr kurzfristige Freude bereit, ist die negative Konsequenz des Konkurrenzverhaltens für diese Menschen leicht nachvollziehbar.
Wissenschaftliche Ergebnisse bestätigen diese Annahmen. Studien, die über zwei Jahrzehnte mit tausenden repräsentativen Personen durchgeführt wurden, zeigen, dass Menschen mit einer materialistischen Lebensauffassung, die extrinsisch motiviert nach Reichtum, Image, Status und nach anderen von der Konsumgesellschaft gepriesenen Werten streben - wesentlich weniger zufrieden mit ihrem Leben sind, als diejenigen, die sich an intrinsischen Werten wie Freundschaft, Zufriedenheit, gute Erfahrungen, Fürsorge für andere sowie Verantwortungsgefühl für die Gesellschaft und die Umwelt orientieren. Die negative Korrelation zwischen Konsummentalität und Wohlbefinden wurde in vielen Kontexten in Nord- und Südamerika, in Europa und Asien beobachtet.
Konsequente Karrieremenschen neigen zu chronischer Unzufriedenheit. Einen interessanten Fall bietet hier eine Untersuchung 500 deutscher Studenten auf Arbeitssuche. Die als Maximierer eingestuften Studenten waren zwar tatsächlich nach dem Berufsstart mit einem im Schnitt zwanzig Prozent höheren Einstiegsgehalt erfolgreicher, doch ihr subjektives Wohlbefinden entsprach dem in keiner Weise: Sie waren nicht nur während der ganzen Arbeitssuche pessimistischer, gestresster und depressiver als die Genügsamen. Bemerkenswerterweise waren sie auch letztendlich weniger zufrieden mit ihrer Arbeit.
Die Forschungsergebnisse, die der bereits erwähnte Psychologe Tim Kasser in seinem Buch präsentiert, lassen sich wie folgt zusammenfassen: Materialistisch orientierte Menschen sind unzufriedener, erleben seltener Erfüllung, verspüren ein geringes Selbstwertgefühl, sind getrieben von unerfüllten Wünschen nach Sicherheit, haben aber gleichzeitig ein geringes Umweltbewusstsein, erleben ihre Eltern als wenig präsent und vor allem als bestrafend. Sie leiden auch deutlich häufiger unter Trennungsangst, und sie interessieren sich weniger für die Perspektive anderer Menschen. Dass sich auch ein Zusammenhang zwischen materialistischer Lebenseinstellung und Depression nachweisen lässt, passt ins Bild. Je höher die materialistische Lebensauffassung und die extrinsische Motivation, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit von Depression und Angstzuständen.
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