Ist unsere Stadt, ist unsere Region schön?
Ehrliche Entrüstung, falsche Selbstzufriedenheit - und die Anmutung der gebauten Umwelt
Im letzten November fand in München ein Podiumsgespräch statt mit dem Titel: "Bin ich schön?" Diskutiert wurde über den Umstand, dass Schönheit im Städtebau oft vernachlässigt wird. Schönheit meint nicht nur Ästhetik, sondern schön ist, was ein Gefühl der unendlichen Lebensfülle in uns erweckt. Sagt zumindest Schlegel. Wie aber kommt Schönheit in die Stadt? Was bedeutet Qualität im Städtebau? Wer ist dafür verantwortlich? Und: Haben diese Fragen einen gesellschaftlichen Rückhalt, oder sind es lediglich Selbstbeweihräucherungen der Fachgemeinde?
Wie auch immer: Die Sache mit der Schönheit steht ganz offenkundig im Raum. Verdruckst zwar, aber mehr und mehr wird sie thematisiert, mitunter auch eingefordert. Einfach und klar zu entscheiden ist sie freilich nicht. Steuert man direkt auf sie zu, landet man in aller Regel bei bloßen Geschmacksfragen. Also muss man ein paar Umwege gehen. Das soll im Folgenden geschehen, doch beschränkt auf drei Stichworte - als da wären: Atmosphäre, Region, Kultur der Raumbildung. Sie sollen, jeweils über eine kurze Frage eingeleitet, helfen, die (unbedingt notwendige) Diskussion zu strukturieren.
Zu schön um wahr zu sein?
Die Vorstellung, man könne sich einer Landschaft, einem Haus, einem städtischen Platz mit einer Art Geigerzähler nähern, oder mit einem pH-Wert-Teststreifen, um den Grad der Schönheit zu erfassen, ist zu teuflisch, um wahr werden zu dürfen. Schon die Rezeption etwa der weiblichen Schönheit gibt ja zu denken. Von der drastisch bauchigen Venus von Willendorf aus der jüngeren Altsteinzeit über die immer noch anmutig kurvierte Venus von Sandro Botticelli im 15. Jahrhundert ist es nicht nur ein weiter Weg bis zu den magersüchtigen Exemplaren des Heroin-Chic. Man sieht daran auch, dass Zeit und Ort zu den Variablen der Schönheit gehören.
Doch wenngleich wir sie nicht recht ermessen können, ist Schönheit mehr als schmückende Zutat. So hat etwa der Evolutionsbiologe Josef H. Reichholf gezeigt, wie eng die natürliche mit der sexuellen Auslese zusammenhängt, bei der Attraktivität die entscheidende Rolle spielt. Seine Schlussfolgerung: Schönheit und Schönheitsempfinden haben klare biologische Funktionen. Schon Tieren müssen wir Ästhetik zubilligen. Und auch die Rolle, die sie in der Evolution des Menschen spielt, bedarf einer radikalen Neubewertung. Die Kunst, so hat der französische Filmemacher François Truffaut einmal gesagt, bestehe darin, mit schönen Frauen schöne Dinge zu tun.
Aber spätestens an dieser Stelle droht man abzugleiten in die Untiefen des Themas. Die Grundlagen des Ästhetischen beim Menschen zu beschreiben ist ein recht problematisches Unterfangen. Deshalb wenden wir uns hier vom Begriff der Schönheit ab und einem anderen zu, der in Bezug auf Raumbildung wohl praktikabler ist: Atmosphäre. Damit ist etwas gemeint, das sich im Zwischenraum von gebauter Objektwelt und subjektivem Raumerlebnis begründet. Denn in der Wahrnehmung und Erfahrung von Orten und architektonischen Objekten geht es nicht allein um objektive Tatbestände (nicht um ein ‚An sich‘), sondern um deren Wirkungsweisen für das Subjekt (um das ‚Für sich‘). Atmosphäre ist nur zu haben, indem sie erfahren wird. Man muss sich ihr aussetzen und affektiv von ihr betroffen sein.
Abstrakte Schönheit gleichsam rational herzustellen ist oft ein Anliegen klassischer Planung; allerdings auch ein Vorsatz, der sich mit den Grundbedürfnissen des Menschen nicht recht zu vertragen scheint. In der dünnen Höhenluft ästhetischer Sphären hält es der Normalbürger nicht lange aus. Atmosphäre benennt also gewissermaßen ein Defizit. Denn es sind nicht ideale Proportionsverhältnisse wie der Goldene Schnitt und nicht der metrische, euklidische Raum, die den Menschen anrühren. Es ist vielmehr der Ort mit seinen Beziehungen und seiner Aura, der alle Sinne anspricht. Es sind die Schwingungen, es ist die Akustik, die Stimmung des Lichts, der Farbe und der Materialien mit ihren sinnlichen Qualitäten, die zum Anfassen, Anfühlen animieren. Ähnlich verhält es sich in der nächsthöheren Raumkategorie; es heißt ja nicht zu Unrecht, die öffentlichen Räume formen das Gedächtnis der Stadt. Hinter dieser poetischen Formulierung verbirgt sich ein über die Jahrhunderte ausgebildetes westliches Stadtverständnis, das von der Prägekraft von Raumfiguren auf stadtgesellschaftliche Wirklichkeit ausgeht. Allerdings muss man sehen, dass Atmosphäre heute gerne auch anderweitig vereinnahmt wird: Nämlich als Grundbegriff des Entwerfens von postmodernen Gesamtkunstwerken, was nur zu oft einmündet in die Konfektionierung von öffentlichen Raum-Bühnen.
Gleichgültig, ob wir nun von Schönheit oder von Atmosphäre reden: Bei jeder räumlichen Wahrnehmung wirken äußere Wirklichkeit und Vorstellung unmittelbar zusammen. Sie spielt sie sich in einem Prozess ab, der sowohl beeinflussbar wie unberechenbar ist. Mit anderen Worten: Wir sind der Schönheit ausgesetzt, aber wir können sie auch formen und herstellen.
Um was geht es?
Nach dem Zweiten Weltkrieg beobachteten Anthropologen auf vielen Südseeinseln ein zunächst schwer zu erklärendes Verhalten der Inselbewohner. Diese errichteten Flugzeugattrappen aus Ästen und Zweigen, sie paradierten vor Fahnenmasten und schulterten in Reih und Glied schwere Stöcke. Was hatten diese Leute erlebt? Sie hatten gesehen, dass genau dieses Verhalten mit unendlichen Reichtümern belohnt wird. Immer wieder waren Soldaten auf den Inseln gelandet, waren marschiert, hatten Fahnen aufgehängt und vor diesen salutiert, hatten an Schreibtischen gesessen und Dokumente verfasst. Während die Bewohner der Inseln für alles schuften mussten, bekamen diese Leute ganze Flugzeuge voll mit herrlichsten Waren nur für diese Tätigkeiten! Als die Soldaten wieder weg waren, dachte man sich: Was die können, können wir doch schon lange. Also setze man sich an Schreibtische und uniformierte sich. Aber es kam keine Ladung.
Klar: Sie hatten nicht verstanden, um was es eigentlich ging. Aber auch wir, im Hier und Heute, verstehen oft nicht recht, um was es geht. Damit kommen wir zum Begriff der Region.
Die Grundeinheiten im weltweiten Wettbewerb der Standorte sind eher Regionen und weniger einzelne Städte oder gar Kommunen, da nur auf dieser Ebene die infrastrukturellen Rahmenbedingungen für wirtschaftliche Dynamik herstellbar sind. Auch die alltäglichen Aktionsräume von privaten Haushalten und Individuen differenzieren sich und weiten sich räumlich ständig aus, wodurch es zu einer Regionalisierung von Lebensweisen kommt. Allerdings: Eine gewisse Ambivalenz ist dem Regionalen immanent: Wer oder was bestimmt, was eine Region ist? Erklärt sich das Regionale in der Abweichung von der überregionalen Norm? Definiert sich das Regionale wiederum in Zentren, oder ist es überhaupt ein Netz von Orten mit verwandten Merkmalen, die sich langsam verändern, bis sie in eine andere regionale Charakteristik hinüberkippen? Oder ist Region ein Begriff selektiver Wahrnehmung in einem ganz konkreten Interessensrahmen, der durch Fokussierung auf bestimmte regionale Probleme oder Konflikte eine kollektive Bestätigung erfährt?
Möglicherweise eröffnet der Begriff der Region ja tatsächlich neue Qualitäten. Doch indem er zum erfolgreichen Gegenkonzept zur Stadt stilisiert wird, bildet er den Humus für einen neuen Problemkreis. Vor allem das Silicon Valley wurde zum Symbol der exurbanen Siedlung im Park. Dies gab auch das Referenzmodell ab für die französische Wissenschaftsstadt Sophia-Anti-Polis, die - wenn man so will: konsequenterweise - die antistädtische Programmatik explizit in ihrem Namen trägt. Also: Wir müssen aufpassen, dass Region nicht zu einer begrifflichen Attrappe wird wie das Flugzeug auf der Südseeinsel.
Und damit kommt man fast zwangsläufig zu einem weiteren Begriff: dem des ‚Standortfaktors‘. Es sollte klar geworden sein, dass er nicht bloß in einem naturräumlichen Vorzug besteht (den man hat oder eben nicht hat, um den man sich aber nicht aktiv kümmern muss). Sondern dass er in einem ständigen, nie endenden Prozess der Fürsorge bedarf, der Investitionen , des Einsatzes, der alltägliche Mühe - ähnlich wie man ein Garten permanent kultivieren muss, weil er sonst ruckzuck verwildert oder brach fällt. Und um das in Bezug auf Stadt- und Regionalentwicklung ein bisschen zu spezifizieren: Es reicht nicht aus, dass Planung nur ein grobes Raster von Flächennutzungen vorgibt und dabei aufteilt, wo gebaut werden darf und wo nicht, und welche Standorte mit welcher Infrastruktur erschlossen werden sollen. Die Umwelt, die Region ist eine Aufgabe der Gestaltung. Und dabei müssen wir auch sehr stark darauf achten, dass die Wertminderung von Landschafts- und Kulturräumen nicht größer ist als das, was durch neue Aktivitäten hinzukommt.
Wie können wir uns verständigen?
Ludwig Wittgenstein hat einmal behauptet: "Wenn der Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen." Der Satz ist anschaulich und einprägsam, doch was heißt er? Könnten wir den Löwen nicht verstehen, weil er, selbst wenn er unsere Sprache spräche, aus seiner völlig anderen Lebensform heraus spräche? Alles, was der Löwe sagte, stammte notwendig aus der Wahrnehmungsweise des Lebewesens Löwe. Vor dem Hintergrund dieser Ambivalenz ist man versucht, den Satz von Wittgenstein zu paraphrasieren: "Wenn der Deutsche über Schönheit sprechen könnte, ich könnte ihn nicht verstehen."
Um nun nicht in pure Polemik abzurutschen, soll besser auf ein Beispiel verwiesen werden: Als das Haus der Kulturen der Welt (HdKdW) in Berlin im Januar 2013 ein vieldiskutiertes Großprojekt startete, waren in der ganzen Stadt zahllose Plakate zu sehen mit weiß geschminkten Gesichtern, über denen eine Frage prangte: "Ist das Anthropozän schön?" Also selbst bei einem avancierten gesellschaftspolitischen oder wissenschaftstheoretischen Konzept wie diesem - das Anthropozän ist eine Hypothese, der zufolge der Planet aus dem Holozän in ein "vom Menschen gemachtes Zeitalter" geglitten sei - spielt die Frage nach der Schönheit augenscheinlich eine große Rolle. Sie ist ein Medium, um dem Abstrakten ein Gesicht zu geben, es haptisch zu machen. Und damit ist man nolens volens beim dritten Begriff: Kultur der Raumbildung.
Ist die Region, ist die Stadt, in der wir leben, tatsächlich schön? Gegenfrage: Sind wir ernsthaft daran interessiert, sie zu beantworten? Was ist mit der Verkehrstrasse, die das Quartier in zwei Teile reißt? Oder dem verwahrloste Restgrundstück als Baulücke im Kiez? Oder dem indifferenten und zerklüfteten Raumgefüge zwischen Innenstadt und Speckgürtel? All das blenden wir aus. Und schauen lieber auf den schmucken Marktplatz oder den wohlgesetzten Hofgarten. Welche Gefühle haben wir, wenn wir auf die Manifeste unserer Dienstleistungsgesellschaft stoßen: Verbrauchermärkte und Vergnügungszentren, irgendwie in die Landschaft gewürfelt; das Gewebegebiet eine Art Terra incognita, durch Lärmschutzwände abgeriegelt. Allerorten ein ungebändigtes Konglomerat maßstäblich nicht korrespondierender Bauten. Am Bahnhof gähnende Ödnis; die wichtigsten Straßen eher Ausfallschneisen denn Boulevards, Stadtplätze ohne klare Fassung, dafür mit einem byzantinischen Gewimmel um Fress- und sonstige Buden? Und schlimmer noch: All das ist geplant! Für jede einzelne Ansiedlung gibt es einen Grund, aber in der Gesamtheit leuchtet die Logik nicht recht ein. Nach wie vor herrscht eine auf die Optimierung einzelner Funktionen ausgerichtete räumliche Organisation. Deren Vernunft orientiert sich an den immer gleichen Kriterien - nämlich Minimierung der Kosten und Maximierung der Nutzbarkeit. Und das Besondere von Orten im Sinne von Anmutungsqualität und Identitätsbildung schmilzt einfach weg. Der Stadtforscher Dirk E. Haas hat das Problem unlängst so formuliert: "Das mal Verklumpte und mal Zerstreute einer Stadtlandschaft auch ästhetisch zum Sprechen zu bringen, das wäre eine Stadtbaukunst ganz auf der Höhe der Zeit."
Das Lamento soll nun ein Ende haben. Es ist zu befürchten, dass der affirmative Satz, unsere Stadt oder Region sei schön, bloß eine - zudem verklausulierte - Erwartung oder Vorstellung darstellt, die man zwar für richtig, aber mehr oder weniger für unrealistisch hält und daher notgedrungen in die Zukunft projiziert (nicht ohne sich freilich vieler Bilder der Vergangenheit zu bedienen). Umso klarer und eindeutiger ist das Fazit: Unsere Stadt, unsere Region ist nicht aus sich selbst heraus schön; wir müssen aktiv und ständig daran arbeiten - und viele einzelne Interessen einhegen.