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Jagd nach Erdgas: Wenn Krieg nicht gleich Krieg ist

Eine Ölförderanlage in Baku, der Hauptstadt von Aserbaidschan. Die EU hat einen Gas-Deal mit dem Land abgeschlossen. Bild: Gulustan / CC BY-SA 3.0

Energie und Klima – kompakt: Die Klimakrise klopft immer lauter an die Tür, aber Deutschland will vor allem Erdgas, auch wenn es Kriege gegen Jemen oder Armenien finanziert.

Klimakrise ist, wenn Europa den heißesten Sommer [1] seit mindestens Beginn der Satellitenaufzeichnungen hinter sich hat und in Südfrankreich nach vier Hitzewellen Mitte September erneut das Thermometer auf über 40 Grad [2] klettert sowie schon wieder Waldbrände [3] entfacht werden.

Oder wenn die Küstenstadt Seattle auf einmal die weltweit am stärksten schadstoffbelastete Luft hat, weil im Westen der USA eine rekordverdächtige Zahl [4] von Wald- und Buschbränden wütet. Oder wenn in Pakistan weite Teile des Landes [5] überflutet und 33 Millionen Menschen, rund 15 Prozent der Bevölkerung, obdachlos geworden sind.

Das UN-Büro für die Koordination Humanitärer Hilfe sprach [6] bereits Anfang des Monats von mindestens 1265 Todesopfern, eine Zahl, die inzwischen weiter gestiegen ist. Für die Versorgung der besonders Bedürftigen würden 160 Millionen US-Dollar (159,2 Millionen Euro) benötigt. UN-Generalsekretär Antonio Guterres rief am vergangenen Freitag [7] die internationale Gemeinschaft zu massiver Unterstützung angesichts "dieser Klimakatastrophe" auf. Die Bundesregierung hat bisher einen Betrag im einstelligen Millionen-Bereich [8] überwiesen. Weniger als 0,1 Promille des kürzlich beschlossenen Aufrüstungspakets.

Wechselwirkungen und Kipppunkte

Für Klimawissenschaftler kommt diese Zunahme von Katastrophen und immer neuen Temperaturrekorden wenig überraschend. Schon 2011 hatte der Zwischenstaatliche Ausschuss für Fragen des Klimawandels (IPCC [9]; Intergovernmental Panel on Climate Change) in einem Sonderbericht [10] über Risiken und Anpassungsmaßnahmen gewarnt, dass mit der globalen Erwärmung auch die extremen Wetterlagen zunehmen und die Gesellschaften sich darauf vorbereiten müssen. Inzwischen gibt es sogar Hinweise, dass die auch damals schon diskutierten Kipp- bzw. Umschlagpunkte, an denen das Erdsystem aus den Fugen gerät und in einen anderen Modus übergeht, sogar noch näher liegen, als bisher gedacht.

Das geht aus einer neuen Studie [11] hervor, an denen unter anderem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung beteiligt waren, wo man sich bereits seit den 2000er Jahren mit diesem Aspekt beschäftigt. Das Erdsystem aus Atmosphäre, Ozeanen, Eis und Schnee, Landoberfläche und Biosphäre ist geprägt durch zahllose Wechselwirkungen und verhält sich im Zuge äußerer Einflussnahme oft hochgradig nichtlinear. Das bedeutet, dass Veränderungen oft eher sprunghaft als gleichmäßig ablaufen und dass es verschiedene Bereiche gibt, in denen schon kleine Verschiebungen ein Umschlagen oder einen unumkehrbaren Prozess verursachen, der kaum noch aufzuhalten ist.

Ein Beispiel dafür ist das Eisschild in Grönland. Schrumpft es in Folge höherer Temperaturen, dann senkt sich sein Gipfel ab. Immer größere Flächen des Eises geraten dadurch in die Abtauzone, in den Bereich von Temperaturen über null Grad Celsius, wie sie an den Küsten der Rieseninsel im Sommer nicht unüblich sind. Irgendwann ist ein Punkt überschritten, in dem das Eis verschwinden wird – egal, ob eine weitere Erwärmung vermieden werden kann oder nicht.

Es gibt eine ganze Reihe solcher Beispiele. Einige Kipppunkte könnten schon bald erreicht werden, wie die oben erwähnte Studie zeigt – möglicherweise bereits unter den Bedingungen des gegenwärtigen, gegenüber dem vorindustriellen Niveau um etwa 1,1 Grad Celsius wärmeren Klimas. Dazu zählt u.a. das Grönländische Eisschild, dessen verschwinden den Meeresspiegel um sechs bis sieben Meter steigen lassen würde.

Ein anderer akuter Fall ist das Auftauen der Permafrostböden im Norden Amerikas und vor allem Eurasiens. Die Böden enthalten gewaltige Mengen organischen Materials und gespeicherten Methans. Zersetzt sich jenes oder entweicht das Methan, dann gelangen weitere Treibhausgase in die Atmosphäre, die die Erwärmung zusätzlich verstärken. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sprechen von einer positiven Rückkoppelung.

Wir sehen bereits Anzeichen für eine Destabilisierung in Teilen der westantarktischen und grönländischen Eisschilde, in Permafrostgebieten, im Amazonas-Regenwald und möglicherweise auch in der atlantischen Umwälzzirkulation. Die Welt ist bereits von einigen Kipppunkten bedroht. Wenn die globalen Temperaturen weiter ansteigen, werden weitere Kipppunkte möglich. David Armstrong McKay, Studien-Hauptautor vom Stockholm Resilience Centre, der Universität Exeter und der Earth Commission

Die Analyse des internationalen Forscherteams deutet darauf hin, dass die Erde bereits einen "sicheren" Klimazustand verlassen haben könnte. Selbst das Ziel der Pariser Klimaübereinkunft [12], die Erwärmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius und möglichst auf 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen, könnte womöglich nicht ausreichen, um einen gefährlichen Klimawandel vollständig zu vermeiden.

Seit wir 2008 zum ersten Mal Kipppunkte des Klimas abgeschätzt haben, ist die Liste gewachsen, und unsere Einschätzung des Risikos, das sie darstellen, hat sich drastisch erhöht. Unsere neue Arbeit liefert zwingende Beweise dafür, dass die Welt die Dekarbonisierung der Wirtschaft radikal beschleunigen muss, um das Risiko des Überschreitens von Klima-Kipppunkten zu begrenzen. Tim Lenton, Ko-Autor, Direktor des Global Systems Institute an der Universität Exeter und Mitglied der Earth Commission

Gute Despoten

Derweil hat die westliche Welt, die sich so gerne mit der internationalen Gemeinschaft verwechselt, andere Sorgen. Die pakistanische Flutkatastrophe ist eher eine Randnotiz, die Hungerkrise in Ostafrika sowieso und die Klimakrise ist in Berlin, Brüssel oder Washington für die Regierenden noch immer kein auf den Nägeln brennendes Thema.

Es interessiert derart wenig, dass der hiesige grüne Wirtschaftsminister ganz scharf darauf zu sein scheint, Frackinggas aus den USA [13] einzukaufen, und die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Gasverträge mit Aserbaidschan abschließt. Jenes Land, das erst 2020 Armenien überfallen und sich Teile umstrittenen, von Armeniern besiedelten Territoriums angeeignet hat.

So viel, wie in letzter Zeit von Freiheit, Völkerrecht und Selbstbestimmung die Rede ist und bei all den Rufen nach immer mehr Waffenlieferungen an die Ukraine, damit diese ihre Freiheit verteidigen kann, wobei zugleich viele Menschen sterben, könnte man meinen, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten endlich von ihren schlechten Gewohnheiten Abschied genommen haben, Militärdiktaturen, Angriffskriege, Staatsstreiche und völkerrechtswidrige Annexionen zu unterstützen.

Doch der Eindruck täuscht. Mitte Juli hatte die EU einen Gas-Deal [14] mit der Regierung in Baku abgeschlossen, wie von der Leyen stolz auf Twitter verkündete. Dieser nach Worten der EU-Chefin "vertrauenswürdige Partner" hatte zuvor 2020 mit massiver Unterstützung des Nato-Landes Türkei einen Angriff gegen Armenien geführt, will erklärtermaßen zumindest einen Teil der armenischen Bevölkerung aus den eroberten Gebieten vertreiben und war erst durch russische Vermittlung zu einem erneuten Waffenstillstand zu bewegen.

Doch der ist offensichtlich hinfällig. In der Nacht von Montag auf Dienstag griff Aserbaidschan nach Aussagen [15] der armenischen Regierung mit schwerer Artillerie und Drohnen erneut an. Die britische Zeitung Guardian zitiert [16] armenische Stellungnahmen, wonach 49 armenische Soldaten getötet worden seien. Die Rede ist auch von Bombardements grenznaher Städte in Armenien.

Geliefert werden die aserbaidschanischen Waffen übrigens meist aus der Türkei, einem Nato-Mitglied, das immer noch jede Erwähnung des osmanischen Völkermords an Armeniern [17] massiv unterdrückt. Was die Medien hierzulande, ganz um Neutralität bemüht, einen seit Jahrzehnten andauernden Konflikt nennen, begann in den 1980ern, in der Endzeit der Sowjetunion, mit Pogromen [18] gegen Armenier, mit denen sich die aserbaidschanische Führung die Macht im Lande und den Zugriff auf deren Öl- und Gasreichtum sichern wollte. Heute regiert – bereits seit 2003 – der Sohn von Heydar Alijew, ehemals hochrangiger Geheimdienstler und Mitglied der sowjetischen Führung, der frühzeitig sein Felle in Sicherheit gebracht hatte und von 1993 bis 2003 Präsident Aserbaidschans war.

Sicherlich ist Alijew Junior, der zeitweise verschiedene deutsche Staatssekretäre und Bundestagsabgeordnete auf der Gehaltsliste hatte [19], ein würdiger Gasverkäufer, mindestens einer vom Kaliber katarischer Emire, vor denen deutsche Grüne schon gerne einmal Dienern [20]. So ist das halt, wenn man sich über Nacht von unliebsamen Autokraten unabhängig machen will. Dann muss man sich eben sympathischere Autokraten suchen. Nicht wahr?

Investitionsruinen

Doch zurück ins Inland. In Hamburg geht der dortige Senat, das heißt, die Landesregierung, weiter davon aus, dass das Kohlekraftwerk Moorburg "schnellst möglich" [21] abgerissen wird. Die beiden 827-Megawatt-Blöcke waren ab 2007 gebaut worden und erst 2015 in Betrieb gegangen. Kostenpunkt: drei Milliarden Euro. Geplant waren ursprünglich 1,7 Milliarden Euro, schreibt dieser Tage [22] der NDR.

Gegen den Bau hatte es seinerzeit massive Proteste der Klimaschutzbewegung gegeben, gegen die wiederum die hanseatische Polizei 2008 mit großer Härte und mit illegalen Methoden [23] vorging. Alles um in einer auch damals schon bemerkbaren Klimakrise ein Kohlekraftwerk durchzusetzen, das zudem absehbar eine Investitionsruine werden würde.

Nach fünf Jahren verlustreichen Betriebs zog Vattenfall 2020 schließlich die Reißleine. Im Rahmen des Kohleausstiegsgesetzes wurde die Stilllegung beantragt, die im Juli vergangenen Jahres erfolgte. Als Stilllegungsprämie gab es vermutlich etwas über 100 Millionen Euro. Telepolis hat im Dezember 2020 die Geschichte des Moorburg-Kraftwerks noch einmal ausführlich Revue passieren lassen [24].

Da das Kraftwerk zudem nicht in die Reserve aufgenommen wurde, hat Betreiber Vattenfall bereits Teile der Anlage verkauft und abtransportiert, unter anderem einen großen Transformator, sodass die derzeit von verschiedenen Seiten aufgrund der hohen Gaspreise geforderte erneute Inbetriebnahme nicht möglich ist.

Wer kassiert die Extra-Gewinne?

Übrigens: Die hohen Preise an der Strombörse führen inzwischen dazu, dass mit Solar- und Windstrom richtig gut Geld zu machen ist. Das kommt allerdings meist nicht, wie der Stammtisch raunt, den Anlagenbetreibern zugute. Vor allem nicht den Besitzern von kleinen Solaranlagen auf den Dächern.

Die erhalten vielmehr von den Aufkäufern, das sind die Betreiber der Höchstspannungsnetze, die gesetzlich vorgeschriebene Vergütung. Bei alten Solaranlagen kann das, abhängig vom Datum der Inbetriebnahme, über dreißig oder auch über vierzig Cent pro Kilowattstunde sein, aber meist ist es erheblich weniger. Für Windstrom gibt es in der Regel unter zehn Cent pro Kilowattstunde.

Das Gesetz sieht vor, dass die Übertragungsnetzbetreiber diesen Strom an der Börse verkaufen und die Differenz zwischen dort erzieltem Preis und der gezahlten Vergütung aus einem Topf erstattet bekommen, in den jahrelang vor allem die privaten Verbraucher und kleinen Gewerbebetriebe eingezahlt haben. Zuletzt noch mit über sechs Cent pro verbrauchter Kilowattstunde Strom.

Diese Umlage wurde Anfang des Jahres halbiert und inzwischen ganz abgeschafft. Doch jetzt ist in dem Topf kein Minus mehr. Vielmehr häuft sich aufgrund der hohen Börsenpreise ein Plus an. Eigentlich müsste das ja nun an die Verbraucher ausgezahlt werden, aber leider wurde der Mechanismus rechtzeitig abgeschafft. So was aber auch.

Klimastreik

Ansonsten hat Fridays for Future für den 23. September einen internationalen Klimastreiktag angekündigt, in Österreich überlegt man aus diesem Anlass, die Schulen zu besetzen und hierzulande wird ein 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für den Klimaschutz gefordert [25]. Aber zu all dem später mehr. Und, ja, auch der Frage, wer denn nun eigentlich die mit dem Ökostrom gemachten Extragewinne einstreicht, werden wir noch einmal nachgehen müssen.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7263336

Links in diesem Artikel:
[1] https://public.wmo.int/en/media/news/europe-has-hottest-summer-record-eu-copernicus
[2] https://twitter.com/ScottDuncanWX/status/1569378171480428545?s=20&t=n45A1lWjW-Ff1wtco4JPow
[3] https://www.thelocal.fr/20220913/wildfires-reignite-in-south-western-france-forcing-residents-to-leave-homes/
[4] https://edition.cnn.com/2022/09/11/weather/kay-storms-california-wildfires-sunday/index.html
[5] https://news.climate.columbia.edu/2022/09/12/the-flood-seen-from-space-pakistans-apocalyptic-crisis/
[6] https://reliefweb.int/report/pakistan/pakistan-floods-fact-sheet-1-fiscal-year-fy-2022
[7] https://news.un.org/en/story/2022/09/1126331
[8] https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/pakistan-node/ueberschwemmungen-pakistan/2549884
[9] https://www.ipcc.ch/about/
[10] https://www.ipcc.ch/report/managing-the-risks-of-extreme-events-and-disasters-to-advance-climate-change-adaptation/
[11] https://www.science.org/doi/10.1126/science.abn7950
[12] https://unfccc.int/process-and-meetings/the-paris-agreement/the-paris-agreement
[13] https://twitter.com/FFFLeipzig/status/1569639068878704640?s=20&t=KnjZON4DjYe1yhh4JelQeA
[14] https://twitter.com/LauraCwiertnia/status/1569634869348794368?s=20&t=n45A1lWjW-Ff1wtco4JPow
[15] https://twitter.com/dhbln/status/1569428249645846528?s=20&t=n45A1lWjW-Ff1wtco4JPow
[16] https://www.theguardian.com/world/2022/sep/13/deadly-clashes-erupt-in-disputed-territory-between-azerbaijan-and-armenia
[17] https://de.wikipedia.org/wiki/V%C3%B6lkermord_an_den_Armeniern
[18] https://en.wikipedia.org/wiki/Sumgait_pogrom
[19] https://www.youtube.com/watch?v=d_NiPlk6TRo
[20] https://www.welt.de/wirtschaft/article237656837/Gasversorgung-Habeck-schliesst-Energiepartnerschaft-mit-Katar.html
[21] https://www.merkur.de/deutschland/hamburg/senat-kraftwerk-moorburg-schnellstmoeglich-abreissen-zr-91782594.html
[22] https://www.heise.de/tp/features/Mit-aller-Gewalt-fuer-Kohle-3419833.html
[23] https://www.heise.de/tp/features/Mit-aller-Gewalt-fuer-Kohle-3419833.html
[24] https://www.heise.de/tp/features/Moorburg-und-A49-Sargnaegel-der-Gruenen-4977497.html
[25] https://twitter.com/FridayForFuture/status/1569672755766755332?s=20&t=M5XALKSepgst0dgK6HzjHg