"Jedes Kriegsschiff wird einen Warnschuss abgeben"
Alexander Graf von Lambsdorff über den Kampf gegen Schlepperbanden, alte Souveränitätsgedanken sowie den Streit um eine EU-Quote für Flüchtlinge
Mit welchen drei Adjektiven würde Sie die Flüchtlingspolitik der EU-Staaten der vergangenen Jahre auf den Punkt bringen?
von Lambsdorff: (überlegt) Zögerlich, halbherzig, verantwortungslos.
Seit Jahresbeginn sind im Mittelmeer 30 Mal mehr Flüchtlinge gestorben als im gleichen Zeitraum 2014. Die EU hat kürzlich angekündigt, das Geld für die Seenotrettung zu verdreifachen und verstärkt gegen Schlepper vorzugehen - unter anderem sollen deren Boote zerstört werden. Betreiben die Staaten Symbolpolitik?
von Lambsdorff: Leider ja. Auch Bundesinnenminister de Maizière betont ja bei jeder sich bietenden Gelegenheit vollmundig, die Schlepperbanden bekämpfen zu wollen. Was fehlt, sind konkrete Bilanzen und Erfolge. Der politische Wille, gegen diese Kriminalität vorzugehen, muss steigen und es muss dann organisatorisch auch umgesetzt werden. Der Haushalt von Frontex beispielsweise ist mit 90 Millionen Euro geradezu lächerlich klein - das deutsche Innenministerium, nur einmal zum Vergleich, hat einen Haushalt von sechs Milliarden, also 6000 Millionen Euro.
Militärisch gegen Schleuserboote vorgehen - wie genau muss man sich das vorstellen?
von Lambsdorff: Es gibt die berühmte Redensart "Einen Schuss vor den Bug geben". Klar ist: Jedes Kriegsschiff wird zunächst einen Warnschuss abgeben, selbstverständlich nachdem die Besatzung sich versichert hat, dass sich auf dem Schlepperboot keine Flüchtlinge mehr befinden.
"Europa-Häuser vor Ort"
Deutschland hat eine Fregatte und einen Einsatztruppenversorger geschickt - kann man da ernsthaft von einem großen Wurf sprechen?
von Lambsdorff: Das ist doch nur ein Punkt von vielen. Das Schlepperproblem soll ja nicht nur auf hoher See bekämpft werden. Nein, unsere Nachrichtendienste müssen dafür sorgen, dass die Regierung die nötigen Informationen bekommt, um gegen die kriminellen Banden vorzugehen. Gemeinsam mit den Behörden der Länder könnte auf diese Weise vielen Schleusern das Handwerk gelegt werden. Eins steht doch fest: Könnten Menschen legal in die EU einreisen, würden die Schlepper arbeitslos. Hier müssen wir ansetzen.
Und wie sollte die EU Flüchtlingen legale Wege nach Europa öffnen?
von Lambsdorff: Ich plädiere für sogenannte Europa-Häuser vor Ort, in denen die Menschen sich über die Einwanderungsgrundlagen informieren könnten - beispielsweise über nötige Berufsqualifikationen oder die Voraussetzungen für die Asyl- und Flüchtlingsanerkennung. Beamte der EU-Kommission und der EU-Mitgliedstaaten könnten hier Aufklärungsarbeit und Hilfestellung leisten. Nicht sinnvoll halte ich dagegen den immer wieder diskutierten Vorschlag, ein Lager in Nordafrika zu errichten.
Was spricht aus Ihrer Sicht dagegen?
von Lambsdorff: Solche Lager wären Magneten für Millionen von Menschen. Die Leute kämen unreguliert an den Küsten an, mitsamt ihren Hoffnungen und Träumen. Wir könnten nicht vernünftig mit ihnen umgehen; Enttäuschungen und Konflikte wären somit programmiert. Zumal die Länder in der Region bislang nicht bereit sind, mit uns zu kooperieren.
Nennen Sie bitte ein Beispiel.
von Lambsdorff: Auf den Philippinen stehen gut ausgebildete Krankenschwestern bereit, die gern in Deutschland arbeiten würden. Das Problem: Es gibt für diese Frauen keine legale Möglichkeit, nach Europa zu kommen - obwohl unsere Krankenhäuser händeringend nach gut qualifiziertem Pflegepersonal suchen. Wem nützen solche Schranken? Niemandem!
Ein Quotensystem war längst überfällig
Zurück zur Flüchtlingspolitik: Die Mitglieder der Europäischen Volkspartei (EVP) haben sich vor kurzem darauf verständigt, bindende Quoten für die Verteilung von Asylsuchenden einzuführen. Hat Sie dieser Schritt überrascht?
von Lambsdorff: Nein. Damit nimmt die Christdemokratische Parteienfamilie lediglich eine Forderung auf, die die Liberalen schon seit vielen Jahren mit gutem Grund erheben. Es ging uns stets darum, ein gesamteuropäisches Verteilungssystem einzuführen, das dem Gedanken der Solidarität entspricht. Vergleichbar mit dem System, das wir aus Deutschland kennen: Bevölkerungszahl und wirtschaftliche Leistungskraft des jeweiligen Bundeslandes spielen hier eine entscheidende Rolle bei der Verteilung von Flüchtlingen.
Sie dürften zufrieden sein; die EU-Kommission hat ein derartiges Quotensystem kürzlich vorgelegt...
von Lambsdorff: ...Das war längst überfällig! Denn man darf Länder nicht überfordern. Es kann nicht sein, dass sechs Staaten 80 Prozent aller Flüchtlinge aufnehmen. Leider entspricht das der Realität. Insofern begrüße ich die Einsicht der EVP, sich endlich für eine Quote auszusprechen.
Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass jene Staaten, die zurzeit nahezu keine Asylbewerber aufnehmen, in Kürze feste Quoten akzeptieren werden?
von Lambsdorff: Europäische Politik ist seit jeher das besonders geduldige Bohren dicker Bretter. Ich rechne nicht damit, dass alle Länder plötzlich umschwenken, insbesondere Großbritannien tut sich schwer damit. Auf der Insel konnten wir zuletzt einen Wahlkampf beobachten, der von nationalistischen Tönen nur so durchzogen war.
Was macht Sie dennoch zuversichtlich?
von Lambsdorff: Wenn die EVP, also die Konservativen in Europa, bereit sind, über eine Änderung ihrer Position nachzudenken, dann sind die Chancen für eine entsprechende Umsetzung zumindest deutlich gestiegen. Und da ich von Natur aus Optimist bin, freue ich mich über solche Fortschritte. Wir werden jetzt weiter daran arbeiten, die Regierungen davon zu überzeugen, dass ein Verteilungsschlüssel sinnvoll ist. Mit kleinen Schritten sich dem großen Ziel nähern - darum geht es. Wer hat bei diesem brisanten Thema allen Ernstes eine Revolution erwartet?
Modernisierung des traditionellen Souveränitätsgedanken im europäischen Sinne
Noch mal: Portugal, Estland oder Slowenien, um nur einige Länder zu nennen, sträuben sich seit Längerem, Flüchtlinge aufzunehmen. Was antworten Ihnen deren Regierungsvertreter auf Forderungen nach festen Quoten?
von Lambsdorff: Fakt ist: Die Innenminister beinahe aller Staaten, nicht nur dieser drei, haben traditionell eine territorial beschränkte Auffassung von Politik. Für sie beginnt Staatsführung erst an der eigenen Landesgrenze. Man kann eine Politik betreiben, die auf Abschottung setzt - oder eben eine, die auf Öffnung zielt. Die Innenministerien neigen tendenziell eher zur Abschottung. Souveränität bedeutet für sie zu bestimmen, wem der Aufenthalt auf ihrem Territorium gestattet wird und wem nicht.
Und was folgt daraus?
von Lambsdorff: Wenn jetzt die Konservativen in Europa sagen, wir sollten europäische Quoten einführen, um eine solidarische und vernünftige Verteilung der Flüchtlinge zu erreichen: prima! Dann wären sie bereit, den traditionellen Souveränitätsgedanken im europäischen Sinne zu modernisieren. Die Botschaft muss also lauten: Eine gemeinsame europäische Lösung ist besser für alle. Diejenigen Regierungen, die in den alten Denkmustern verharren, schaden sich am Ende nur selbst. Das müssen wir noch besser kommunizieren.
Spielt der innenpolitische Druck in den EU-Staaten doch eine größere Rolle als viele Regierungen behaupten?
von Lambsdorff: Die Menschen in Deutschland sind in diesem Punkt viel weiter, als es die konservative Politik de Maizières vermuten ließe. Aus meiner Heimatstadt Bonn kann ich Ihnen von zahlreichen Initiativen berichten, die sich um die Integration von Flüchtlingen bemühen. Ob Patenschaften, Spielmittage für Kinder oder Fußballprojekte - in ganz Deutschland leben die Bürger Gastfreundlichkeit und Hilfsbereitschaft vor. Das sollten wir bei allen Problemen, die es in einigen Städten gibt, niemals vergessen. Die Abwehrreaktion des Innenministers wird von der breiten Bevölkerung nicht geteilt. Das zeigen auch die Umfragen. Kurzum: Die innenpolitische Lage ist eine völlig andere als jene, die viele Konservative in den vergangenen Jahren aus einem veralteten Souveränitätsdenken heraus propagiert haben.
Noch vor zwei Jahren sagte Regierungssprecher Seibert, Deutschland biete bereits so vielen Menschen Zuflucht, wie es seiner Größe und Bevölkerungszahl in Europa angemessen sei...
von Lambsdorff: ...das ist richtig...
...Inzwischen klingt das allerdings anders, sogar Volker Kauder sagte zuletzt, Deutschland könne noch deutlich mehr Flüchtlinge aufnehmen. Was antworten Sie denen, die von einem gefährlichen Schlingerkurs der Bundesregierung sprechen?
von Lambsdorff: Wenn man genau hinhört und auf die Nebensätze achtet, dann stellt man fest: Die Aussagen widersprechen sich nicht. Deutschland ist ein leistungsfähiges Land. Und natürlich ist es objektiv richtig, dass wir noch mehr Menschen aufnehmen könnten. Genau so richtig ist allerdings, dass wir im Vergleich zu vielen anderen europäischen Ländern zuletzt extrem viele Flüchtlinge aufgenommen haben. Wir tragen eine höhere Last als die meisten EU-Staaten. Wer eine faire und vernünftige Lösung anstrebt, sollte die Dublin-II-Verordnung daher auch ersetzen durch ein modernes Quotensystem. Hätten wir einen europäischen Verteilungsschlüssel, würde die Last für Deutschland sinken. Das vergessen viele Kritiker.
Graf Lambsdorff, Sie sprachen eingangs über die Versäumnisse der vergangenen Jahre, nun ein Ausblick: Was glauben, wie sieht die europäische Flüchtlingspolitik in zehn Jahren aus?
von Lambsdorff: Ich hoffe, wir handeln: europäisch solidarisch, menschlich anständig und wirtschaftliche vernünftig. Allerdings befürchte ich, dass einzelne Mitgliedstaaten den Stock in die Speichen halten und somit vieles blockieren werden. Davon dürfen wir uns aber nicht abhalten lassen. Im Gegenteil: Jene Länder, die nach den eben benannten Kriterien handeln wollen, müssen vorangehen und Stärke zeigen, zugleich aber auch auf Skeptiker zugehen und Kompromisse anstreben. Geschieht all das nicht, gibt es Stillstand. Die Folgen wären dramatisch.
Alexander Graf Lambsdorff (FDP) gehört dem Europaparlament seit 2004 an und wurde im vergangenen Jahr zu dessen Vizepräsidenten gewählt.
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