Jeffrey Sachs: Wie China die US-Dominanz beenden will

Seite 2: UN-Sicherheitsrat, Nato-Erweiterung, Monroe-Arroganz: Die USA in der Defensive

Sie sind seit langem Berater der Vereinten Nationen. Wie lange kann die Zahl der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates noch auf fünf beschränkt bleiben? Denn Brasilien und andere Länder des globalen Südens haben klar gesagt, dass die Vereinten Nationen reformiert werden müssen und dass Länder aus Lateinamerika, insbesondere Brasilien, und Afrika als ständige Mitglieder im UN-Sicherheitsrat repräsentiert sein sollten.

Jeffrey Sachs: Die sogenannten P5, die ständigen Fünf, also die Vereinigten Staaten, China, Russland, Frankreich und das Vereinigte Königreich, waren 1945 die Gruppe, die als Sieger des Zweiten Weltkriegs hervorgingen. Sie haben übrigens in den Regeln der Uno festgesetzt, dass sie die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates sind und bei jeder Änderung der UN-Charta ein Veto einlegen können.

Es handelt sich also um eine Gruppe, die sich selbst Macht verliehen hat. Die Mehrheit der 188 Länder der Welt sagt nun: "Was soll das? Wir brauchen eine Veränderung."

Das Land, das über die unfaire Machtverteilung am meisten frustriert ist, ist Indien. Indien ist heute das bevölkerungsreichste Land der Welt.

Die Vereinigten Staaten haben etwa 335 Millionen Einwohner; Großbritannien, Frankreich etwa 60 Millionen; Indien, 1,4 Milliarden. Doch das Land ist nicht im Sicherheitsrat vertreten, obwohl es eine Atommacht ist, eine Großmacht auf der Welt und in diesem Jahr den Vorsitz bei der G20 innehatte. Dort ist man über die Situation wirklich nicht glücklich.

Brasilien, die größte Volkswirtschaft Südamerikas, ist ebenfalls nicht im Sicherheitsrat vertreten. Es ist seit zwanzig Jahren ein Thema. Die P5 haben auf verschiedene Weise bestimmte Länder blockiert. Sie haben dabei gesagt: "Wisst ihr was: Das ist unser Club. Wir wollen als ständige Fünf bleiben."

Aber ich denke, wir müssen uns der Realität einer post-amerikanisch dominierten Welt stellen, die tatsächlich eine post-westlich dominierte Welt ist. Denn die USA sind die dominierende Macht im sogenannten Westen, der gebildet wird vor allem von den USA, Großbritannien, der Europäischen Union und dem westlichen Ehrenmitglied Japan.

Daher sind wir nicht nur in einer post-amerikanischen, sondern auch post-westlichen Dominanz-Phase angelangt. Die internationalen Institutionen müssen sich ändern, sonst werden sie im 21. Jahrhundert nicht mehr funktionieren. Und wenn sie nicht funktionieren, ist das für uns eine Katastrophe. Denn sie sind zentral wichtig für uns, daher müssen sie reformiert werden.

Kommen wir zu den verschiedenen Abkommen, die China in die Wege geleitet hat. Hier eine Stellungnahme von Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva vor seinem Treffen mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping: "Was will Putin? Putin kann das Territorium der Ukraine nicht behalten. Vielleicht reden wir nicht einmal über die Krim, aber er wird überdenken müssen, was er erobert hat. Auch Selenskyj kann nicht alles bekommen, was er fordert. Die Nato wird sich nicht an der Grenze zu Russland einrichten können. Das muss auf den Verhandlungstisch gelegt werden. ... Ich denke, dieser Krieg hat sich zu lange schon hingezogen. Brasilien hat kritisiert, was kritikwürdig ist. Brasilien verteidigt die territoriale Integrität jeder Nation, deshalb sind wir mit Russlands Invasion in der Ukraine nicht einverstanden." Es sieht so aus, als ob die Ukraine vor einer großen Gegenoffensive gegen Russland steht. Dafür braucht es massive Unterstützung von westlichen Ländern, d.h. militärische Waffen. Vor diesem Hintergrund: Was ist die Rolle Chinas in diesem Zusammenhang? Sprechen Sie über den Friedensplan, den Beijing vorgelegt hat, und über die anderen Abkommen, bei deren Aushandlung China hilft, wie die erfolgreiche Annäherung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran oder die Vorschläge in Bezug auf Israel und Palästina.

Jeffrey Sachs: Präsident Lula hat in wenigen Worten den Kern des Problems angesprochen, den die meisten unserer Medien der US-Bevölkerung nicht zu erklären wagen. Es ist die Ausweitung der Nato.

In dem Krieg geht es im Wesentlichen um den Versuch der USA, ein US-Militärbündnis auf die Ukraine und Georgien auszudehnen. Georgien ist ein Land im Kaukasus, das ebenfalls am Schwarzen Meer liegt.

Die US-Strategie besteht seit Jahrzehnten darin, Russland am Schwarzen Meer zu umzingeln, wobei die Ukraine, Rumänien, Bulgarien, die Türkei und Georgien, allesamt Nato-Mitglieder, Russland und seine Flotte im Schwarzen Meer einkreisen. Es handelt sich um eine Flotte, die seit 1783 die Schwarzmeerflotte Russlands ist.

Russland hat gesagt: "Das ist unsere rote Linie". Man verweist seit Jahrzehnten darauf, 2007 hat man das klar und deutlich ausgesprochen. Das war noch bevor George W. Bush Jr. 2008 auf die verrückte Idee kam, anzukündigen und die Nato dazu zu zwingen, anzukündigen, dass die Ukraine Mitglied der Nato sein wird.

Und das ist es, was Präsident Lula sagt und was der chinesische Präsident Xi Jinping betont: Wir können keinen Krieg führen, der im Wesentlichen ein Stellvertreterkrieg zwischen Russland und den Vereinigten Staaten über die Ausdehnung des US-Militärbündnisses bis zu einer mehr als 1.200 Kilometer langen Grenze mit Russland ist, die Russland - und ich würde sagen, verständlicherweise - als eine grundlegende nationale Sicherheitsbedrohung für Russland betrachtet.

Haltet etwas Abstand: Das ist die Bedeutung von Präsident Lulas Worten. Das ist es, was China meint, wenn es in seinem Friedensplan sagt: "Wir wollen einen Friedensplan, der die Sicherheitsinteressen aller Parteien respektiert." Das ist ein Codewort für: "Schließt Frieden. Beendet den Krieg. Aber bringt die Nato nicht bis an die russische Grenze".

Die Bevölkerung in den USA erfährt nichts über diese Friedenspläne. Für mich ist das schockierend, denn als Beobachter dieser Angelegenheit seit dreißig Jahren ist genau die Ausdehnung der "casus belli", der Kriegsgrund.

Unsere Zeitungen berichten nicht einmal über die Hintergründe. Aber deswegen sagen China, Südafrika, Indien, Brasilien: "Wir wollen Frieden, aber nicht, um damit eine Nato-Erweiterung durchzusetzen. Wir wollen, dass sich die Supermächte gegenseitig etwas Raum geben und Abstand wahren, damit die Welt nicht auf Messers Schneide steht."

Das sagt Präsident Lula, das ist der Sinn der chinesischen Friedensinitiative: "Schließt Frieden. Schützt die Souveränität der Ukraine und ihre Sicherheit. Aber nein zur Nato-Erweiterung".

Doch die Biden-Regierung will das zentrale Thema nicht einmal diskutieren. Das ist meiner Meinung nach das größte Versäumnis und der Grund, warum wir nicht in der Lage sind, an den Verhandlungstisch zu kommen.

Selenskyj sagte im März 2022: "Vielleicht brauchen wir nicht die Nato, vielleicht etwas anderes." Russland und die Ukraine standen damals kurz vor einer Einigung, aber die Vereinigten Staaten intervenierten und sagten der Ukraine: "Wir halten das für keine gute Einigung". Die sogenannten Neocons in den USA drängten auf die Nato-Erweiterung.

Das führt uns zu einem allgemeineren Punkt zurück, nämlich dass es in der Ukraine, in Taiwan und in vielen anderen Fragen aus der Sicht Chinas oder Russlands oder anderer Länder, einschließlich Brasiliens, jetzt auch Saudi-Arabiens und des Irans, darum geht, ob die USA weiter tun, was sie wollen, oder ob sie bestimmte Grenzen respektieren, basierend auf dem, was andere Länder sagen: "Wir wollen und brauchen echte Multipolarität, nicht die Dominanz der USA allein. Wir brauchen Regeln, die von uns allen geschrieben werden, nicht Regeln, die nur von den Vereinigten Staaten festgesetzt werden."

Ich möchte auf eine Parallele zu der immer weiter nach Osten reichenden Nato-Erweiterung in Europa zu sprechen kommen. So wird gerade der 200. Jahrestag der Monroe-Doktrin begangen, in der Präsident Monroe allen europäischen Mächten erklärte, dass die westliche Hemisphäre für sie tabu sei, sollten sie versucht sein, ihre Streitkräfte und ihr Militär nach Lateinamerika zu verlegen. Und in den letzten 200 Jahren war Lateinamerika im Wesentlichen die wichtigste Einflusssphäre der Vereinigten Staaten. Jetzt wird gesagt, dass Russland kein Recht hat, zu erklären, dass die Länder an seinen unmittelbaren Grenzen keine Nato-Truppen stationieren dürfen.

Jeffrey Sachs: Ein wenig Einfühlungsvermögen, Verständnis für andere wäre sehr hilfreich und hätte uns eine Menge Kriege erspart. Wir als Amerikaner sollten mal über Folgendes nachdenken: Angenommen, Mexiko würde ein Militärbündnis mit China eingehen. Würden die Vereinigten Staaten dann sagen: "Nun, das ist Mexikos Recht. Warum sollten wir dagegen etwas unternehmen?" Würden wir nicht besorgt sein, dass tatsächlich in kurzer Zeit eine Invasion oder etwas Ähnlichem stattfinden könnte?

Ich würde China und Mexiko dringend raten, es nicht zu versuchen. Damit sollte man nicht experimentieren. Aber die US-Regierung verfügt über kein Einfühlungsvermögen und unterlässt es, sich in die Lage der anderen Seite zu versetzen.

Es ist arrogant zu glauben, die Regeln der Welt bestimmen zu können. Das Problem mit der Arroganz ist nicht nur der damit verbundene Rückschlag, die wohlverdiente Strafe, sondern auch die Tatsache, dass man in schreckliche Krisen hineinstolpert, die man nicht einmal versteht, weil es der Öffentlichkeit in den USA untersagt wird, die Perspektive der anderen Seite einzunehmen.

Die Analogie ist also eigentlich eine sehr, sehr klare Analogie. Es ist das, was China, Russland und andere immer wieder sagen: "Warum diese Doppelmoral? Warum gehen wir nicht mit gegenseitigem Respekt miteinander um, anstatt Regeln folgen zu müssen, die die USA aufstellen?"

Jeffrey D. Sachs ist Universitätsprofessor und Direktor des Zentrums für nachhaltige Entwicklung an der Columbia University, wo er von 2002 bis 2016 das Earth Institute leitete. Außerdem ist er Präsident des UN Sustainable Development Solutions Network und Kommissar der UN Broadband Commission for Development. Er war Berater von drei Generalsekretären der Vereinten Nationen und ist derzeit SDG-Beauftragter von Generalsekretär Antonio Guterres. Sachs ist der Autor des kürzlich erschienenen Buches "A New Foreign Policy: Jenseits des amerikanischen Exzeptionalismus" (2020). Zu seinen weiteren Büchern gehören: "Building the New American Economy: Smart, Fair, and Sustainable" (2017) und "The Age of Sustainable Development," (2015) mit Ban Ki-moon.