Jenseits des Globalen Dorfes

Mit den vernetzten Medien entsteht eine neue Art der Symbiose zwischen Technologie, menschlichem Körper und Informationsverarbeitung

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Die Metapher des globalen Dorfes gehört dem Zeitalter des Fernsehens, des "öffentlichen Bewußtseins" an. Mit den vernetzten Medien verändert sich für Derrick de Kerckhove, dem Direktor des Marshall McLuhan Programms für Kultur und Technologie, die Struktur der Öffentlichkeit und der Politik. Wir gehen über vom räumlich verankerten Standpunkt zum schwebenden Seinspunkt. Die Menschen werden vernetzt mit intelligenten Maschinen und zum Teil eines globalen Gehirns. Doch diese neue Form einer globalen Öffentlichkeit, an der alle teilhaben können, wird von der Politik und der Ökonomie bedroht.

Die Republik

Res publica bedeutet die "öffentliche Sache". Niemand hat je den ergänzenden Begriff "res privata" geprägt, obgleich der erste die Rechtfertigung für den zweiten abgibt. Die Ausübung des Rechts auf Privatheit beruht grundsätzlich auf der Anerkennung des öffentlichen Bereichs. Nur innerhalb der Grenzen des öffentlichen Bereichs kann Privatheit beansprucht werden. Die Trennlinie ist in der Tat sehr deutlich. Demokratie basiert auf ihr.

Selbstverständlich entspringt die Idee der Demokratie der Illusion, Raum sei neutral, frei von jeglichem gewichtigen sozialen, psychologischen oder physiologischen Widerstand. Neutraler Raum ist jenes durch nichts unterbrochene Gebiet innerhalb der Grenzen einer Nation; es gilt als gemeinsames Eigentum aller Bürger. Nur der Grund und Boden, auf dem dieser neutrale Raum ruht, kann privat besessen und in Privateigentum aufgeteilt werden. Diese Illusion eines neutralen Raumes verschwindet derzeit, weil wir die Umweltverschmutzung entdeckt haben. Der Luftraum ist nicht leer, genauso wenig wie der psychologische Raum, den eine Gemeinschaft einnimmt. Elektrizität, Radiowellen und nun Netzwerke haben diesen neutralen Raum in ein aktives Intelligenzsystem verwandelt, in eine Art organischen Lebensraum, der Strömungen und Verschiebungen unterworfen ist, ähnlich elektro-magnetischen Feldern.

Die Elektrizität hat die Informationsverarbeitung beschleunigt, und zwar auf beiden Gebieten, das Öffentliche über das Fernsehen und das Private über Netzwerke. Bei der derzeitig sich abzeichnenden Annäherung von Fernsehen und Computer über Kabel- und zelluläre Netzwerke beginnen sich jedoch die einstmals klaren Abgrenzungen zwischen öffentlich und privat zu verwischen. Der Raum des Internet ist nicht neutral und hat auch keine Grenzen, er ist weder stabil noch einheitlich. Es ist ein organischer Raum, der in unablässiger Bewegung ist. Er verhält sich wie ein sich selbst organisierendes System, und unsere veraltenden politischen Vorstellungen werden durch ihn grundlegend entwertet.

Die Frage, wie sich die Öffentlichkeit heute und in Zukunft durch die elektronischen Medien verändert, ist schwer zu beantworten. Sie bedeutet, daß wir nicht nur Ereignisse der augenblicklichen gesellschaftspolitischen Szene unter die Lupe nehmen, sondern auch Einblick in eine noch undurchsichtigere Innenwelt gewinnen müssen, nämlich die des eigenen Ich. Veränderungen der Außenwelt sind nicht bloße Spiegelungen, sondern komplementäre Entwicklungen zu inneren Strukturveränderungen, für die noch kein Beschreibungsinstrumentarium gefunden wurde. Der Kürze und Klarheit der Darstellung zuliebe, auch auf die Gefahr hin, die Aussagen allzu sehr zu vereinfachen, möchte ich eine Problemstellung entwerfen, in deren Verlauf ich versuche, drei Teilfragen zu beantworten:

  1. Was ist Globalisierung? Woher kommt sie? Wodurch wird sie unterstützt?
  2. Wie wird Kommunikationstechnologie uns und unser individuelles und öffentliches Umfeld verändern?
  3. Was bedeutet vernetzte Kommunikation für den öffentlichen Raum, und wie verändert sie die politische Szene?

1. Globalisierung

Die Globalisierung wird oft als ein politisches oder wirtschaftliches Thema betrachtet, wie natürlich auch als ein Ergebnis der Technologie, insbesondere der Kommunikationstechnologie, die ihre Netze quer über die Erdoberfläche ausbreitet. Satellitenübertragungen erwecken den Anschein einer Einheit, indem sie Zugang und Feedback von jedem beliebigen Punkt zu jedem anderen Punkt auf der empfindlichen intelligenten Schicht menschlicher Kommunikation rund um den Erdball ermöglichen. Dies ist die Noosphäre, die vor Jahrzehnten bereits von dem französischen Philosophen und Theologen Pierre Teilhard de Chardin vorausgesagt worden ist.

Technologiebegeisterte sehen in dieser Entwicklung ein wertneutrales, notwendiges Ergebnis der Tendenzen der Evolution, wohingegen Pessimisten sie verdammen als eine weitere, noch mächtigere Form von sozialer, politischer und letzten Endes psychologischer Kolonialisierung der Informationsärmeren durch diejenigen, die einen Informationsvorsprung besitzen. Die Wahl des einen oder anderen Standpunktes ist insofern von besonderer Bedeutung, als viel davon abhängt, wie jeder einzelne persönlich auf diese Veränderungen reagiert. Tatsächlich kann unsere mentale Einstellung darüber entscheiden, ob wir Teil der Lösung oder Teil des Problems sein werden.

Die Hauptschwierigkeit liegt darin, daß Globalisierung nie als das gesehen wird, was sie wirklich ist, nämlich in erster Linie ein psychologisches Problem. Denn wenn sie auf bloße technologische Begriffe reduziert wird, wie zum Beispiel bei manchen Leuten, die zungenfertig über die sogenannten elektronischen Datenautobahnen reden, dann wird das System globaler Netzwerke wirklich wie ein Mythos zur Unterstützung von Kommunikations- und Übertragungsstrategien behandelt, die lediglich die gebündelten Interessen der Verbraucher und des Marktes fördern und widerspiegeln.

Bis zur Erfindung des Internet war es unmöglich, sich einen technologischen Überblick über die unzähligen Kommunikationsvorgänge und das Gewirr individueller und kollektiver Informationsstraßen zu verschaffen. Das Bild der Stadt oder, genauer, des "Dorfes", das von Marshall McLuhan eingeführt worden ist, scheint angesichts des Regionalismus, Separatismus und lokaler Konflikte zu verfliegen, von denen unser tägliches Fernsehprogramm zeugt. In der Folge rühmen oder verteufeln die Kritiker auf beiden Seiten McLuhans Erkenntnis in einem Chor von Mißklängen. Aber die Vorstellung des "Globalen Dorfes" meint nur die bedeutungsvolle Verallgemeinerung, durch die wir eine sinnvolle Ordnung finden oder schaffen in verschiedenartigen Beispielen und Handlungen menschlicher Sinnstiftung und Kommunikation.

Genauso wie eine Stadt nicht auf der Grundlage einheitlichen Handelns, sondern aufgrund ihrer Lage zu einer Einheit wird, so ist mit dem Begriff des "globalen Dorfes" zum ersten Mal die Erdkugel als Kommunikationsgemeinschaft bezeichnet worden. Darin erscheint die Ansicht des Planeten aus dem Raum und die Regionen der Erde auf dem Fernsehschirm, so daß gleichzeitig die Vorstellung der "Globalität" und die eines "Dorfes" vermittelt wird. Die Kritiker verdrießt dabei, daß sie - in ziemlich romantischer Weise - den Gedanken an ein Dorf mit Frieden und Harmonie verbinden. Und indem sie diese Vorstellung mit den täglichen Nachrichten vergleichen, beantworten sie jede Andeutung mit Hohn, daß die Erde sich etwa erfolgreich um ein Gleichgewicht bemühen könnte. Dies heißt zu vergessen, daß es keine menschliche Gesellschaft ohne Konfliktstoffe gibt, und daß, je enger das Zusammenleben ist - ob erzwungen oder freiwillig -, es auch desto mehr Gelegenheiten zur individuellen oder kollektiven Gruppenbildung, Umgruppierung und Opposition gibt. Es gibt keine heftigere Feindschaft als die zwischen Brüdern, wie die Bibel schon am allerersten Abbild menschlicher Gemeinschaft zeigt.

Was man am Bild des globalen Dorfes beibehalten sollte, ist die Konnotation, daß in einem Dorf weniger Bewegungsfreiheit herrscht als in der Stadt oder auf dem flachen Land. Es ist die Vorstellung, daß Kommunikation eine erzwungene Beziehung auferlegt, eine implosive - und möglicherweise explosive - Situation der Geworfenheit. Menschliche Gemeinschaften, deren Lebensrhythmus sich in unterschiedlichem Tempo vollzieht, deren Erfahrung im sozialen Zusammenleben auf weit entfernten Ebenen liegt, werden ohne das nötige Training in sozialem oder gesellschaftskonformem Verhalten miteinander konfrontiert.

Je bewußter wir uns der globalen Zusammenhänge werden, desto eifriger sind wir dabei, unsere regionale Identität zu wahren - daher das Paradoxe am globalen Dorf. Das übertrieben lokale Identitätsbewußtsein ist eine notwendige Ergänzungsbedingung zum übermäßig globalen. Und während all dem gibt uns das Fernsehen, unabhängig von Ort und Zeit, einen Schnellkursus in Sozialisation - und in die Einsucht, wie McLuhan ebenfalls aufgezeigt hat, dass "Erziehung Krieg ist", ein Krieg gegen die Identität, ein Krieg gegen den gesellschaftlichen sowie persönlichen Lebensrhythmus, ein Krieg, der in den Grenzgebieten des Bewußtseins ausgefochten wird.

Der Begriff des globalen "Dorfes" gehört zum Zeitalter des Fernsehens, als noch analoge Bilder das öffentliche Bewußtsein beherrschten. Obwohl Kultur eine Zeit lang weltumspannend geworden war, konnte McLuhan den Ausdruck "globales Dorf" prägen, weil das Fernsehen jedem einzelnen ein Gespür für die verschiedenen Orte auf der Erde vermittelte, die von verschiedenen Nationen bewohnt waren. Sie alle waren wie Dorfbewohner auf demselben Planeten. Natürlich sind sie das immer noch, auch wenn sie nicht immer miteinander auskommen. Tatsache ist jedoch, daß dieses, die Vorstellung der Menschen beherrschende Raumbewußtsein vom Fernsehen geschaffen worden ist.

Erstaunlicherweise stellt sich das Fernsehen immer als "öffentliches Bewußtsein" dar, selbst bei vielen, untereinander im Wettbewerb liegenden Kanälen. Gleichzeitig scheut sich kein Fernsehsender, seine Darstellung der Wirklichkeit mit der eines jeden anderen gleichzuschalten, wenn es darum geht, Nachrichten, Sport oder irgendeine "live"-Übertragung zu senden. Dies ist es, was die Welt zum Dorf werden läßt, wo jeder jeden mehr oder weniger kennt, beziehungsweise wo wenigstens alle mehr oder weniger zögernd zu der Übereinstimmung kommen, daß jeder mit allen anderen Menschen denselben Raum teilt. Heute nun wird eben diese Raumvorstellung durch eine völlig neue Art der Bewußtseinserfahrung in Frage gestellt, wie sie die Menschheit tatsächlich noch nie zuvor erlebt hat, und wofür uns bis jetzt das psychologische Vokabular fehlt.

Fernsehen - "das öffentliche Bewußtsein"

Wenn man sagen kann, daß Bücherlesen (vornehmlich Romane) die Entwicklung des privaten Bewußtseins im öffentlichen Raum nährte und förderte, dann hat das Fernsehen das genaue Gegenteil bewirkt: es hat ein öffentliches Bewußtsein in private Räume hineingetragen.

Fernsehbildschirme sind kollektive Antennen für unser individuelles Bewußtsein. Anstatt daß Informationen von einer Einzelperson verarbeitet werden, in diesem Fall von mir selbst, setzt mir der Bildschirm Informationen vor, die von einem Kollektiv für ein Kollektiv aufbereitet worden sind, in dem ich einen wesentlichen Platz einnehme. "Live"-Fernsehen, "real-time TV", sieht sozusagen mit kollektivem Auge, durch das ich auf eine Realität schauen darf, die für mich und jeden anderen zugeschnitten worden ist, der zur selben Zeit gerade fernsieht. Wann immer etwas geschieht, das von internationalem Informationswert ist, bildet sich jeden Abend aus immer neuen Wellen, in denen Millionen Menschen dieselbe Information zur selben Zeit zermahlen, eine ungeheure Gedankenbrandung und schwappt, den Zeitzonen folgend, über die Nation hinweg wie eine Abfolge von Sinuswellen. In seiner Gestaltung von Standardprogrammen ist Fernsehen sogar eine Form von kollektiver Phantasie, die die Hoffnungen und Ängste der Menschen auf ein Mittelmaß begrenzt, immer den Finger am öffentlichen Puls durch Auswertung von Einschaltquoten.

Derlei Gedanken mögen Bill Moyers durch den Kopf gegangen sein, als er seine vier grundlegenden Sendungen über die Wirkungsweise des Fernsehens "TV, das öffentliche Bewußtsein" (1989) betitelte. Natürlich dachte Moyers eigentlich an das US Fernsehen, und zu jener Zeit schienen ja auch Hollywood und die Großen Drei der US Kanäle noch eine vereinigte Front und eine einzige festgefügte Weltsicht zu präsentieren. Wenn man tiefer unter der Oberfläche nachforscht, tauchen aus der Vorstellung von Fernsehen als einer Form öffentlichen Bewußtseins zwei einander verwandte Fragen auf:

  1. Hängt öffentliches Bewußtsein erstens allein vom Fernsehen ab? Was aber geschieht dann, sollte dies der Fall sein, wenn das Fernsehen und sein Publikum sich aufspalten, wie es heute zu beobachten ist?
  2. Schafft das Fernsehen zweitens auch ein öffentliches Bewußtsein über die Grenzen der USA hinaus? Wenn ja, wer wird dann das Rennen gewinnen?

Wenn die Welt dem Kreuzzug gegen Saddam Hussein zustimmte, dann nicht nur, weil die Welt Coca-Cola trinkt, sondern weil die Welt ihr Selbstverständnis heute in großem Umfang ursächlich in seiner Entstehung und Verbreitung aus den USA bezieht.:Augustin Berque

Ich hege keinen Zweifel, daß das Fernsehen viel dazu beigetragen hat, das Gefühl eines globalen Schicksals über die Grenzen Nordamerikas hinaus zu verbreiten. Mondflüge, königliche Hochzeiten und die Olympischen Spiele, nur einige von vielen Übertragungen, die um die Welt gingen, dienten dem Zweck, einen allgemeinen Brennpunkt für die Aufmerksamkeit von Milliarden von Menschen verschiedener Kulturen zu schaffen. Billige Hollywood Filme und Seifenopern haben sich sogar in täglichem Ritual dasselbe Ziel gesteckt. So betrachtet, ist es wohl wahr, daß das öffentliche Bewußtsein der Welt mehr oder weniger in dem Land begründet wurde, das die größte Erfahrung auf dem Gebiet der Television vorweisen konnte. Dies mag sich jedoch sehr schnell ändern - im gleichen Tempo, wie die Welt selbst "ihr Bewußtsein ändert".

In der Tat ist die Kernfrage der Globalisierung die des Bewußtseins. Während Gesellschaftskritiker wie Hans Magnus Enzensberger, Jürgen Habermas, Jean Baudrillard und viele andere das Bewußtsein zu Recht als ein neues Produkt der Industrie bewertet haben, ist doch ihr Blickwinkel durch den ihnen eigenen politischen Zugang eingeschränkt, und die sich abzeichnende weitere, umfassende Entwicklung bleibt ihnen verschlossen. Wir sind dabei, eine neue Stufe in einem immer schneller sich entwickelnden Bewußtsein zu erreichen, wobei es zum ersten Mal in der Weltgeschichte zugleich ein kollektives und ein privates sein wird. Unter anderem zeigen sich mindestens drei Eigenschaften des augenblicklichen Trends zur Globalisierung, die eher zu psychologischen als zu ausschließlich politischen Erwägungen auffordern: Transparenz, Gleichzeitigkeit und eine intelligente Außenwelt.

Transparenz

Ein Gefühl globaler Transparenz erwächst aus der simultanen Nachrichtenübermittlung und dem weltweiten Zugang dazu über die Medien. Es mag nur Illusion sein, aber jedenfalls eine mächtige, denn sie stellt die ganze Welt als Feld eines Bewußtseins dar, und nicht nur des eigenen, sondern desgleichen von größeren gesellschaftlichen Gruppen.

Unter diesem Aspekt war der Fall der Berliner Mauer ein Sinnbild. Die Berliner Mauer stand symbolisch für alle Mauern, für jede kleinliche Abschottung, und symptomatisch für die weltweite Schizophrenie, von der wir uns heute schmerzvoll zu erholen trachten. Als die Mauer fiel - weitgehend deswegen, weil elektronische Kommunikation die gedruckte Information als vorrangigen Übermittler aller menschlichen Transaktionen verdrängt hatte -, war das das Signal für den Zusammenbruch aller zur Gewohnheit gewordenen Mauern überall, und natürlich besonders in der Sowjetunion. Aber auch wenn die Hardware Mauern unter der Übermacht der Software zerbröckelte - und auf diese Weise einen anderen biblischen Mythos wahr werden ließ, nämlich den vom Fall der Mauern von Jericho unter dem Schall der Trompeten -, so begann doch auch zugleich die Suche nach neuen Abgrenzungsmöglichkeiten. Weil elektronische Kommunikation Mauern ignoriert und dafür Sprache auf den obersten Rang erhebt, taucht Sprache erneut als Prinzip der Identität auf, erhaben über einige örtliche Unterschiede, andere betonend in schneller, gelegentlich mörderischer Umbildung von Bündnissen.

Aber das ist nicht neu. Auf die revolutionäre Erfindung des Buchdrucks in der Renaissance folgten unmittelbar zwei Jahrhunderte von Religions- und Grenzkriegen um die Vorherrschaft in einem Raum, der durch sprachliche Einheit und schriftlich festgelegte Regelwerke gesichert wurde. Und denen, die immer noch behaupten, Telekommunikation sei die jüngste Form von Kolonialisierung, möchte ich entgegenhalten, daß die Kolonisatoren immer die ersten Opfer ihrer Eroberungstechnologien sind, weil sie normalerweise geflissentlich die psychologische Auswirkung der eingesetzten Technologie übersehen. Die Macher von Rundfunk und Fernsehen sind die ersten TV-Mutanten.

Gleichzeitigkeit

Ebenso wirkt sich die Gleichzeitigkeit der Übertragung auf die Globalisierung aus, weil sie allen menschlichen Gesellschaften eine Beschleunigung ihres Lebensrhythmus auferlegt. Gleichzeitigkeit hat in der Hauptsache zweierlei Auswirkungen: Information und Feedback folgen augenblicklich aufeinander und eine in angemessenen Schritten erfolgende kognitive und emotionale Anpassungsspanne wird ausgelöscht.

Der erste Punkt betrifft das elektronische Nomadendasein: Es bringt uns mit jedem beliebigen Punkt irgendwo auf der Welt in Kontakt und antwortet umgehend mit Informationen von jedem beliebigen Punkt an irgendeinem Ort auf der Welt. Letztendlich wird unsere Allgegenwart sich als positiv und notwendig erweisen, aber im Augenblick bringt sie einen sehr gefährlichen zweiten Effekt mit sich: Sie läßt uns keine Zeit, unsere Reaktion auf technologische Innovation und Implementierung vorherzubestimmen oder zu bedenken. Bevor wir noch Zeit haben, unser eigenes Leben neu zu organisieren, unsere überkommenen Antworten anzupassen, haben uns die sozialen, politischen und kulturellen Konsequenzen bereits eingeholt. Wir sind nicht auf diese Folgen vorbereitet.

Vom Zerfall der Sowjetunion über Nacht sind wir kalt erwischt worden. Als hilflose Zeugen stehen wir vor den Greueltaten in anderen Ländern ohne die psycho-politischen Unterscheidungsinstrumente oder die Feinheit der Empfindung, um mit echtem, unanständigem menschlichen Leid umzugehen. Der Verlust der unabdingbaren Zeitverzögerung beschränkt alle Kulturen auf einen Zustand des beständigen 'jet lag', des emotionalen Hinterherhinkens. Eine Strategie, dem zu begegnen, ist, die weltweite Veränderung zu ignorieren und sein eigenes Vorhaben voranzutreiben; eine andere ist, still dabeizustehen als allzu geduldiger Beobachter, bis irgend etwas Umfassendes wie von selbst geschieht, um dem ganzen einen Sinn zu verleihen.

Aber das tiefere Problem liegt darin, daß sich in den Tagen des Buchdrucks, auch wenn auf Kosten ungeheurer menschlicher Verluste, zu gegebener Zeit tatsächlich immer eine gesellschaftliche Ordnung nach vielem Schieben und Ziehen an den geographischen und traditionellen Grenzen fand, während sich heute keine gesellschaftliche Ordnung aus eigener Kraft durchsetzen kann. Ein Grund dafür ist natürlich, daß die Ereignisse sich zu schnell überstürzen. Das an sich jedoch braucht der Errichtung eines funktionsfähigen, sich selbst organisierenden Gemeinwesens noch nicht entgegenzuwirken.

Wir könnten uns vermutlich zurücklehnen und auf die Beschleunigung von Kultur in verhältnismäßig einheitlichem Verständnis warten. Aber ohne starken individuellen Willen und kollektive Teilnahme erscheint das nicht wünschenswert. Gegenwart und Vergangenheit unterscheiden sich darin, daß die Grenzen in der Vergangenheit auf der vorgegebenen Geographie beruhten, auf Hardware und solaren Zeitzonen, während sie heute ausschließlich von psychologischen Vorgaben abhängen. Die Welt wird nicht mehr durch Armeen, sondern durch Denken, Fühlen und Sich-Ausdrücken in Kultur und Technologie in Gang gehalten.

Die intelligente Außenwelt der Medien

An diesem Punkt gibt das Umfeld intelligenter Mediensysteme den Ausschlag. Nach dem Stand der Dinge haben die Kommunikationstechnologien schon längst ihre Rolle als bloße Transportmittel für Informationen aufgegeben und ein Niveau erreicht, wo sie sowohl Inhalte als auch Benutzer in die eigenen Hände genommen haben und diese formen.

Es gab eine Zeit, da war die Welt töricht und wir waren klug. Bücher pflegten als Vermittler zu dienen zwischen privatem Bewußtsein und tatsächlichem Handeln draußen in der Welt. Heutzutage wird die Welt mit Hochgeschwindigkeit intelligent und viele vernetzte Einrichtungen wie Banken, Medien und Datenbasen eignen sich eben die Art der Artikulation, Urteilsfähigkeit, Reaktionsgeschwindigkeit und Ereignishaftigkeit des menschlichen Alltags an, die wir wesentlich mit privatem Bewußtsein und Intelligenz verbinden.

Aber wenn die Umgebung schrittweise intelligente Sensoren und selbstregulierten Interaktionen ausbildet, wird unser privates Bewußtsein nach außen projiziert, weg von der Vertrautheit des eigenen Ich, hinein in ein gewisses Niemandsland von privatem und körperschaftlichem Denken. Das erfolgte in Schritten, die wie in zunehmender Geschwindigkeit aufeinander folgender Zeitsprünge erscheinen: Fernsehen als unser erstes allgemeines, kollektives Instrument zur Datenverarbeitung anstelle von Echtzeit-Erforschung, anstelle von Gedächtnis und Wiederholung aus der Erinnerung. Das Fernsehen stülpt die Inhalte des privaten Bewußtseins nach außen. Es verfügt über einen hochentwickelten Sinnesapparat, wodurch es so attraktiv und der notwendige Schritt in Richtung auf diese Öffnung des Bewußtseins nach außen vorbereitet wird.

Fernsehen funktioniert jedoch nur in eine Richtung, dadurch erlaubt es nur eine kollektive Datenverarbeitung ohne die reelle Chance eines individuellen Inputs. Fernsehen verletzt die Grenzen privater Vorstellungskraft. Die Richtung, die die Entwicklung eines neuen Stadiums bewußter Datenverarbeitung nimmt, wird von unserem täglichen Fernsehkonsum nicht bestimmt, der sie weder eingeengt noch erweitert, sondern dank des Internets von unserem persönlichen Verhältnis zu Computern. Eine neue Sozio-Dynamik des Computers innerhalb der elektronisch vernetzten Außenwelt überstürzt sich geradezu. Eine rasche Zusammenarbeit zwischen Computer und Fernsehnetz kann in Sekundenschnelle für Absatzforschung und Wahlagitation oder sogar an der Börse hergestellt werden, an der Maschinen für uns wichtige Entscheidungen des Wirtschaftslebens von Maschinen bei geringstem Einsatz unserer menschlichen Denk- und Entscheidungsfähigkeiten treffen.

Aber diese entstehende global vernetzte Intelligenz ist nicht etwa unabhängig von dem, was wir an persönlichem oder kollektivem Input eingeben. Wir sind nicht einfach deshalb dumm und hilflos geworden, weil die neue objektive Intelligenz unsere eigene langsam einholt. Was wir auch denken, fühlen oder auf lokaler Ebene entscheiden, hat sowohl einen persönlichen, als auch einen weniger deutlich erkennbaren kollektiven Einfluß darauf, wie sich die Dinge entwickeln werden. Um aber gesellschaftliche Verantwortung auf dieser Ebene zu tragen, brauchen wir nichts weniger als einen von Grund auf überholten Identitätsbegriff.

2. Veränderung der modernen Identität...

Mit einer eher naiven Neuinterpretation von Freud scheint der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan das Vorstellungsvermögen seiner Zeitgenossen bis zum heutigen Tag begrenzt zu haben. Seine Darstellung des Erkenntnisprozesses, wobei das Individuum sich selbst in seinem Spiegelbild wiederfindet, ist nicht falsch, aber sie ist eingeschränkt auf eine ziemlich rückständige und unbrauchbare Selbstwahrnehmung, die in keinem Verhältnis zu den weiteren Dimensionen steht, wie sie vom Selbstbewußtsein im globalen Zusammenhang gefordert werden. Diese enge Sicht der eigenen Person ist wahrlich charakteristisch für die Befangenheit einer vom visuell Erfahrbaren besessenen Kultur.

Es ist ein seltsamer, aber verbreiteter Gedanke bei den Menschen, ihrem äußeren Erscheinungsbild die ganze Verantwortung für ihre Anwesenheit in der Welt aufzubürden. Das heißt nach rückwärts zu lauschen auf einen früher gebräuchlichen Begriff aus psychologischen Kreisen, bekannt als "Körpervorstellung", ein Begriff, der die erkenntnistheoretische Bedingung dafür ist, sein eigenes Ich sich selbst gegenüber als den Hauptdarsteller in der eigenen privaten und sozialen Kulisse zu sehen. Das ist eine Folge des Spracherwerbs und des Lesenlernens durch jeden Menschen, sowohl durch den Prozeß der Privatisierung des Bewußtseins (d. h. seines verbalen Inhalts), als auch durch die Methode der Repräsentation, gebildet nach dem Bedeutungsmuster, das vom geschriebenen Wort geliefert wird: Signifikant - Signifikat - Referent. Seit wir Lesen und Schreiben gelernt haben, haben wir die Selbstdarstellung (Repräsentation) als unsere Hauptstrategie auf der Suche nach Erkenntnis gebraucht.

... vom Standpunkt ...

Eine weitere, noch immer wenig bekannte Quelle der "Selbstdarstellung" ist die Entwicklung der Perspektive unmittelbar vor und während der Renaissance. Genauso wie Bücher Wirklichkeit in Theorie übertragen, so wird die Bühnenrealität von gemaltem oder im Theater dargestelltem Raum durch perspektivische Analyse gefaßt, und werden die Abmessungen durch die genaue Festlegung des "Standpunktes" definiert. Folglich haben wir in unseren Köpfen einen Standpunkt entwickelt, analog dem perspektivischen Modell, das uns für den Blick auf unsere Bühnen, Gemälde und Architektur vorgegeben war. Bis zum heutigen Tag haben wir die Gewohnheit noch nicht abgeschüttelt, uns selbst als visuelle Projektionen mitten auf die Bühne unserer eigenen Imagination zu denken, wie sowohl Sartre als auch Lacan völlig richtig bemerken, ohne jedoch auch nur eine wirklich kritische Alternative anzubieten. Die Konsequenz dieser folgenlosen Erkenntnisse bezüglich unserer psychologischen Realität ist, daß wir keine Modellvorstellung haben, um uns unsere eigene Gegenwart mitten in den erfundenen, überallhin übertragbaren, vervielfältigten und verformten Bildern unserer Selbst über die elektronischen Netzwerke der Welt verständlich zu machen.

Darüber hinaus haben wir seit der Erfindung der Photographie und aller ihrer Weiterentwicklungen - alle Stufen vom Kintopp bis hin zur Virtuellen Realität - unseren einstmals gemütlichen und verläßlichen Standpunkt verlegt, technisiert und vervielfältigt. Mit dem zu erwartenden Erscheinen von neuronalen Netzwerken am technologischen Horizont wird es soweit sein, daß ein Großteil unserer Urteilsfähigkeit - einst die ausschließliche Domäne persönlicher Besonnenheit und des kollektiven Denkens - mit den technologischen Nebenstellen unseres Gehirns geteilt und übernommen werden. Wohl ist es richtig, daß die Subjektivität eines neuronalen Netzwerkes zunächst noch mit ziemlich grobem Raster arbeiten, nur auf einfache Unterscheidungsmerkmale reagieren und keine komplexen Gegenstände auswählen wird. Aber diese Versuche werden bald zu embryonalen Formen eines autonomen Bewußtseins allein durch das Gewicht und die Verlockung der Komplexität führen.

Auf dem heutigen Stand der Technik ist die Suche nach komplexeren Interaktionen ein unwiderstehlicher technologischer Antrieb. Früh genug werden die politischen Probleme, die mit dem Einsatz komplexer neuraler Netzwerke in Industrie, Medizin, Geschäfts- und Bankenwelt, im Erziehungswesen und in den Regierungsämtern einhergehen, für ausreichend Widerspruch sorgen, so daß eine psychologische Umstrukturierung unseres persönlichen und kollektiven Bewußtseins von Grund auf erforderlich wird und folgerichtig ein neuer physischer Körper. Wo finden wir uns dann wieder? Wie werden wir wissen, wo, wie und wer wir sind, wenn sowohl unser Standpunkt als auch unser Urteilsvermögen auf solche Weise computergestützt und über ausgedehnte Datenbasen in virtueller Zeit und Raum verteilt sind?

Während unser sensorisches Feedback weit über die Nerven unserer Haut hinausreicht, haben wir unsere Körpervorstellung nicht entsprechend erweitert. Wenn ich von Toronto nach München telephoniere, werde ich augenblicklich ein über 7000 km Entfernung tastender Blinder. Wenn ich zwischen Paris und München eine Videokonferenzschaltung herstelle, bin ich in jeder Hinsicht mehr "dort", als wenn ich einfach das Telephon benutze. Durch die Simulation und Erweiterung unseres Nervensystems, vervollständigt durch technologische Prothesen für Sicht, Gehör, Gespür und nun sogar Geruch, werden wir als Personen zu verknüpften Wesenseinheiten in elektrischen Stromfeldern, die unser biologisches, neurologisches Körperschema mit umfaßt. Wie können wir dies in psychologische Begriffe fassen? Was macht es mit unserem Selbstbild? Ganz offenkundig müssen wir, um in diesem neuen Kontext erfolgreich existieren zu können, unser Selbstbild über die bloße Selbstdarstellung hinaus erweitern und reflektieren - oder jedenfalls über eine visuelle Selbstdarstellung hinaus.

Um dies zu verstehen, kann man ein Bild von Luis Bunuel heranziehen, der sein Publikum von 1929 bis heute schockiert, indem er am Beginn von Un chien andalou, einem zukunftsweisenden Film, den er zusammen mit Salvador Dali drehte, das Auge einer Frau aufschlitzt. Diese Geste sollte - ein unerträgliches Paradoxon - die Zuschauer davon abbringen, sich auf ihren Gesichtssinn zu verlassen, um den Film zu verstehen. Bunuel und Dali hatten die nerven- und muskelkitzelnde Wirkung sich bewegender Bilder bereits vorausgesagt, die mit Hilfe des Fernsehens die Kommunikation von einer theoretischen in die Erfahrung eines körpereigenen Muskelreizes umwandeln würde.

Immer noch stellen wir uns bewegte Bilder, ob auf silberbeschichteter Leinwand, auf dem Fernsehbildschirm oder durch die Brille der Virtuellen Realität, als visuell erfahrbar vor. Natürlich trifft das auch zu. Aber diese vorläufige Bezeichnung trübt den Blick für die Tatsache, daß diese Bilder in erster Linie kinetisch sind und damit andere informationsverarbeitende Fähigkeiten in uns ansprechen als jene, die visuelle Informationen aufnehmen. Der große Unterschied liegt darin, daß bewegte Bilder - im echten Leben und auf dem Bildschirm - nicht reine Theorie darstellen, sondern erfahrbar sind. Sie bringen unserem Körper Informationen so nahe wie möglich, ebenso sicher wie der Gesichtssinn die Dinge vom Körper fernhält.

Wenn wir nun beobachten, wie sie sich schrittweise mit jeder Stufe, die die Technologie von der Photographie bis hin zur Virtuellen Realität genommen hat, anscheinend unserem Nervensystem annähern konnte, beginnen wir wahrzunehmen, daß eine neue Art von Symbiose zwischen Technologie, menschlichem Körper und Informationsverarbeitung im Entstehen ist. Von der Höhe dieser Erkenntnis kann man auch einsehen, wie das Theater in seiner Frühzeit entstanden ist, um Information vom Körper zu abstrahieren und auf Distanz zu bringen, so daß wir vielleicht eines Tages in der Lage sein werden, Informationen in unseren Köpfen allein durch die Vorstellung aufzunehmen und zu verarbeiten. Durch Virtuelle Realität jedoch werden Körper und Sinne auf den Plan gerufen, um sich an der Verwaltung der Vorstellungen zu beteiligen.

Ein jüngst geführter Dialog zwischen Stelarc, einem australischen Künstler, und Paul Virilio veranlaßte letzteren zu Spekulationen über die neue, höchst radikale Form der Kolonialisierung, der innerlichen und äußerlichen Kolonialisierung des Körpers. Virilios Furcht ist begründet, besonders wenn man berücksichtigt, daß große pharmazeutische Konzerne geschäftig dabei sind, Patente für Teile unseres genetischen Erbgut-Puzzles zu erwerben, da sie sogar im Genom-Projekt zusammengefügt werden sollen.

Darüber hinaus ist auch Stelarcs eigene ideologische Auseinandersetzung mit seinem Werk nicht gerade beruhigend, da er meint, wie auch Hans Moravec und die Cyberpunk Generation, daß unser Körper veraltet sei und endgültig durch die Technologie ersetzt werden sollte. Derartiges Gerede ist auf eine Weise eine Umkehrung der Romantik, sehr weit entfernt von dem in der Entwicklung begriffenen psychologischen Unterbau. Stelarc und die neue Generation von Künstler-Ingenieuren entdecken in Wirklichkeit nur, daß die meisten elektronischen Technologien zu einer neuen Kartographie unseres sinnlichen Erlebens zu einer neuen Gestaltung unserer Selbsterfahrung führen, um Raum zu schaffen für eine Verbindung von privatem und kollektivem Bewußtsein.

... zum "Seinspunkt"

Unsere verinnerlichte Wahrnehmung der Realität umfaßt den gesamten Körper und alle Sinne. Sie bezieht sich weder ausschließlich auf die Selbstdarstellung noch auf die visuelle Erfahrung. Wie ich meinen Bezug zur Welt unmittelbarer und alles durchdringender Kommunikation definiere, liegt an meinem "Seinspunkt" und nicht an meinem Standpunkt. Es gibt nur einen Ort, wo ich ganz anwesend bin, und der liegt innerhalb meiner eigenen Haut, selbst wenn diese Haut und ihre technologiegestützten Sinneserweiterungen weit über die unmittelbaren Grenzen des Gesichtssinnes, des Gespürs und des Gehörs hinausreichen.

Der "Seinspunkt" schließt nicht aus sondern ein, er rahmt keinen Wirklichkeitsausschnitt in eine Perspektive ein, aber er bestimmt sich durch die Präzision und Vielfalt der Verbindungen mit der Welt. Diese neuen psychologischen Kriterien erlauben uns, die Bedeutung der technologischen Sinneserweiterungen neu zu überdenken, sie nicht als bloße Hilfsvehikel zum Transport von Signalen zu sehen, sondern als Formen, Muster und Konfigurationen von Beziehungen.

Von ihrer Anlage her sind alle elektronischen Technologien interaktiv. Das soll heißen, daß sie beständigen innigen Austausch von Energie und Verarbeitungsprozessen zwischen unserem Körper, unserem Bewußtsein und der globalen Umgebung herstellen. Und nur die letzten Spuren unserer vormaligen Befangenheit im Visuellen können uns noch von der Erkenntnis des Offensichtlichen trennen: Interaktivität ist Berührung. Die gesamte Industrie ist damit beschäftigt, technologische Prothesen zu entwickeln, die der Eingliederung aller Sinne dienen. Das kollektive Bewußtsein, an dem wir zur Zeit basteln, ist dazu fähig, die Vielschichtigkeit, aber auch die Bruchstellen und Umformungsstrategien des individuellen Bewußtseins zu handhaben - ein Integrationsprozeß auf Weltniveau ist soeben im Gang.

3. Öffentlicher Raum und Öffentlichkeit

Die vernetzten Kommunikationssysteme lassen völlig neue Voraussetzungen für Intelligenz entstehen und sind von daher Vorboten einer gründlich veränderten politischen Landschaft. Gerade als wir dachten, wir hätten sie ganz gut in den Griff bekommen, fängt die Wirklichkeit wieder an sich zu verändern. Sie änderte ihr Gesicht vom Mittelalter zum Zeitalter der "Vernunft", und jetzt verwandelt sie sich vom Zeitalter der Vernunft zum Zeitalter des "Bewußtseins".

Unser Bewußtsein rührt von der besonderen Verwandtschaft her, die unser Körper zur Sprache pflegt. Das geschriebene Wort gestattet dem Bewußtsein, die Sprache zu kontrollieren, anstatt umgekehrt von ihr bestimmt zu werden, wie es in Stammesgesellschaften geschieht. Wiederum ist hier dieser Konflikt zwischen Privatem und Öffentlichem von Bedeutung. Im Zeitalter des Buches lag die Kontrolle der Sprache ausschließlich in privater Hand, aber mit der Übernahme der elektronischen Medien wurde die Kontrolle der Sprache öffentlich und mündlich.

Das Netz ist das erste Medium, das sich zugleich privat und öffentlich ausdrückt. Genau wie die Vernunft ist das Bewußtsein eine Art öffentlicher Domäne, aber im Unterschied zur Vernunft ist das Bewußtsein gleichzeitig privat. Die Verbindung von öffentlichem und privatem Bewußtsein geschieht über die offenen und untereinander verknüpften Netzwerke des Planeten. Wir werden bald erkennen, daß Realität und dieses "öffentliche" Bewußtsein ein und dasselbe sind. Wir werden die Tatsache tolerieren und gesetzlich regeln müssen, daß das Bewußtsein großen Einfluß auf die Vernunft gewinnen wird. Die Vernunft wird als gesellschaftlicher Faktor beibehalten werden wie seinerzeit die Religion in jenen Jahrhunderten, die auf die Erfindung des Buchdrucks folgten.

Politisch gesehen, ist es jedenfalls noch unklar, welche Herrschaftsform dieser neuen Ordnung kollektiver Intelligenz und gesellschaftlichen Verhaltens wohl entsprechen mag. Das augenblicklich vorherrschende kollektive Bewußtsein ist das der Geschäftswelt. Die Geschäftswelt gehorcht gewissen Gesetzen, die in sich ganz schlüssig und von einer eigenen universellen Qualität sind. Sie ist ein automatisches System des Technologietransfers. Im Großen und Ganzen scheint es gut für uns zu sein. Jedoch hat die Geschäftswelt einen großen Fehler, und zwar ist das ihre äußerst schwache Umweltbilanz und dazu ihre teilweise Abhängigkeit von der Rüstungsindustrie. Über 25 % der Volkswirtschaften fast aller technologisch entwickelten Länder beruhen auf der Herstellung und/oder Verteilung von Waffen. Dies ist für ein gesundes Bewußtsein - und genau das hoffen wir in nächster Zukunft möglichst zu erreichen - ganz und gar unerträglich.

Im Augenblick wird die Politik fast überall von der Wirtschaft bestimmt. Wo immer noch der alte Stil vorherrscht, sehnt sich die leidgeprüfte Bevölkerung nach den wirtschaftspolitischen Gesetzen, die sich, wenigstens auf der Oberfläche, menschenfreundlicher geben als die anderen. Eine Welt, in der jeder mit jedem Handel treibt, scheint recht lebenswert zu sein, auch wenn dies nicht immer sehr erleuchtet ist. Technologie treibt die Wirtschaft an, doch sie verändert diese auch. Das neue Medium, das unter den Hammer kommen soll, das Internet, hat die Geschäftswelt aufhorchen lassen und die Regierungen in Verwirrung gestürzt. Keiner ist sich ganz sicher, wie mit dem Internet zu verfahren sei, so daß der amerikanische Kongreß sogar daran denkt, es auszuhungern.

Das Netz ist sicher auf dem Weg zu einer "elektronischen Datenautobahn" (einer Metapher aus der Geschäftswelt), aber es will nicht wirklich dahin gelangen. Als Ausdruck eines kollektiven Bewußtseins ist das Netz natürlich viel weiter verfeinert als alles, was wir bisher kennen. Es ist gleichzeitig öffentlich und privat, mündlich und schriftlich, fest und fließend. Es ist wirklich weltumspannend in einer Weise wie noch kein Medium vor ihm. Das Nächstbeste, was an seine Bedeutung heranreicht, ist das Telephon, das auch global wirkt, aber nur privat. Als Kommunikationsmedium ist das Fernsehen das genaue Gegenteil des Telephons, da es zwar fast weltumspannend ist, jedoch ausschließlich öffentlich und nicht privat.

Durch den Vollzug der Ehe mit dem Computer wird das Fernsehen sich natürlich schrittweise, bis ins Absurde, auch dem privaten Zugang öffnen, selbst auf die Gefahr hin, seinen gegenwärtigen Zugriff auf den öffentlichen Raum einzubüßen. In nicht allzu ferner Zukunft wird uns unser heimatverbundenes Zugehörigkeitsgefühl nicht mehr hauptsächlich vom Fernsehen vermittelt werden, auch nicht vom physikalischen Raum, sondern von unserer Verbindung zum Internet. Weder steht die "res publica" im Netz in Frage, noch steht das Prinzip der Demokratie zur Disposition, aber die Beziehungen zwischen Individuum und dem Kollektiv haben sich ebenso wie die Gesetzmäßigkeiten ihrer Verbindung verändert. Das alte Regime beruhte auf dem offenen neutralen Raum und dessen Verwaltung durch Politik und Wirtschaft. Das neue Regime wird sich auf Adressen, Geschwindigkeit und Zugangskontrollen stützen. Zeit und Verarbeitungsgeschwindigkeit werden mehr kosten als Raum.

Wir sind dabei, ein neues Bewußtsein für Zeit und Tempo zu entwickeln, als ob nach der Bezwingung und Entgrenzung des Raumes die technologische Evolution die Zeit als neue Grenze herausfordern wollte - als reale, virtuelle, persönliche und soziale Zeit. Zum Beispiel können wir mit gutem Grund annehmen, daß bestimmte Regionen der Welt im Bann eines Zeitsprungs gefangen sind, dessen soziale Auswirkungen auf ihnen lasten wie das Erbe von Vernachlässigung oder Zwang, die von abgelebten oder sterbenden Reichen ausgehen. Aus den Zeugnissen täglicher Weiterentwicklung in der Technologie und der sich gleichsam über Nacht wandelnder geopolitischer Ökonomie der Erde läßt sich schließen, daß wir noch immer in der Beschleunigungsphase stecken. Und obwohl eine Art Plateau im Brandungsbereich der Kultur nicht allzu weit entfernt liegt, ist es noch immer schwer zu erkennen. Im wahren Sinn des Wortes "verinnerlicht" sind die Geschehnisse fast leichter zu erfühlen als zu sehen.

Alles, was wir über die Entwicklung vernetzter Kommunikation sehen und hören, sollte uns ermutigen, politische Bündnisse zu schließen, um den universalen Zugang und die Freiheit des Ausdrucks zu bewahren, ebenso wie das Recht auf Privatheit im Netz. Es wäre zum Beispiel angeraten, für den Fall, daß die USA tatsächlich entscheiden, ein für alle Mal Schluß mit der Unterstützung der Betreibung von Internet zu machen, daß andere Staaten, um ihrer eigenen geistigen und politischen Freiheit willen, gemeinsam die Rechnung bezahlen. Es könnte die schnellste und einfachste Antwort auf die Frage sein, wie wir sichergehen können, daß die Demokratie auch in dieser neuen Umgebung erhalten bleibt. In naher Zukunft wird jegliche Ordnung, die im Netz herrscht, auch in der wirklichen Welt regieren. Demzufolge sollte darüber nachgedacht werden, was jetzt in unserer Macht steht, einen globalen Zugriff zu verhindern.

Übersetzung: Sybille Wagner

Der Beitrag "Jenseits des Globalen Dorfes" von Derrick de Kerckhove wurde mit freundlicher Genehmigung des Klaus Boer Verlages dem von Rudolf Maresch herausgegebenen Band "Medien und Öffentlichkeit", Klaus Boer Verlag, München 1996, entnommen.