Jimmy Wales: eine Ikone mit Schönheitsfehlern
- Jimmy Wales: eine Ikone mit Schönheitsfehlern
- Die Weltanschauung von Jimmy Wales
- Die Wahrheit als Ergebnis einer Wissensaushandlung
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Was hat der legendäre Begründer des Onlinelexikons Wikipedia mit Pornographie, Friedrich von Hayek und Tony Blair zu tun? - Teil 1
Die Bewunderung für Jimmy Wales ist schier grenzenlos. Die Zeitung Die Welt pries kürzlich die Bescheidenheit des Superstars. Ein Genie von solchem Kaliber verzichte freiwillig darauf, Multimilliardär zu werden - getrieben vom selbstlosen Dienst an der Menschheit. Lediglich einen einzigen Makel in der Biographie des Online-Gurus wagten die Medienleute zur Sprache zu bringen: nämlich, dass Wales einmal eigenmächtig und unter Verletzung der selbst gesetzten Regeln einen Wikipedia-Eintrag über seine eigene Person um etliche Passagen gekürzt hatte, die seinem makellosen Image abträglich waren.
Der Spiegel deutete im Jahre 2010 an, welchen Flecken Jimmy Wales dabei aus seiner Weste zu wischen versuchte: Er habe nämlich das Geld für Wikipedia in der "Schmuddelecke" verdient. Dass Jimmy Wales eine Suchmaschine für pornographische Inhalte betrieben hat, ist eigentlich kein Geheimnis.
In den Kindertagen des Internets stellte Wales‘ Online-Suchdienst alles, was Männern Spaß macht, aus dem chaotischen Datendschungel bereit. Insbesondere nackte Frauen. Zudem posierte Wales zu Werbezwecken als Macho-Steuermann auf einer Yacht, umgarnt von zwei jungen Damen, welche außer einem extrem sparsamen Tangaslip und einem T-Shirt mit der Aufschrift der Wales-Suchmaschinenfirma Bomis nichts anhatten.
Wales' Suchmaschine Bomis bot Zugang zu derben Pornos
Anscheinend sah sich Wales in jenen Tagen als Nachahmer von Hugh Hefner, dem Erfinder des Herrenmagazins Playboy, der auch gerne mit seinen Bunnies posierte. Der Unterschied ist nur: Wo der Playboy mit der Abbildung von erotischen Aktfotos unterhielt, bot Wales' Suchmaschine Bomis Zugang zu derben Pornos. Erhalten gebliebene Screenshots der Suchmasken jener 2007 liquidierten Firma Bomis schockieren durch einen extrem menschenverachtenden Slang.
Wie war James Donal Wales, der sich im Internet als "Jimbo" ausgibt, zu seiner Karriere gekommen? Geboren wurde er 1966 in den Südstaaten der USA, in Huntsville, einer mittleren Großstadt im Bundesstaat Alabama. Sein Vater leitete einen besseren Tante-Emma-Laden. Jimmy wurde in einer Privatschule unterrichtet, unter anderem von seiner Mutter und seiner Großmutter. Studiert hat er Finanzen an der Auburn-Universität, einer Hochburg marktradikaler Lehrmeinungen. Seine Doktorarbeit blieb unvollendet. Nach eigenen Angaben, weil er sich langweilte. Deshalb zog Wales nach Chicago, wo er sechs Jahre lang auf Kursschwankungen bei Zinsraten und Währungen spekulierte.
Hier trat er in die Investmentfirma Chicago Options Associates ein. Dort formierte sich jenes Triumvirat, das zur Keimzelle von Wikipedia werden sollte: Neben Wales spekulierten hier auf eigene Rechnung Tim Shell sowie Michael Davis.
Ende der Neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gab es noch kein Google oder vergleichbare Suchmaschinen, die dem Internetnutzer den Weg durch das Datenchaos erleichterten. Da lag es nahe, sein Geld mit Suchmaschinen zu verdienen, die durch Werbung Geld einbrachten.
Von 3Apes zu Nupedia und Wikipedia
Es destillierte sich das Thema heraus, bei dem man die Kunden nicht lange bitten musste: nämlich die Vermittlung von sexuellen Motiven. Die Suchmaschinenfirma Bomis bediente die unersättlichen Wünsche der männlichen Kundschaft durch "Bomis Babes", "Bomis Babe Reports", und "Bomis Premium". Noch vulgärere Ansprüche befriedigten "Search Bastard" und "3Apes".
Warum die Herren Wales, Shell und Davis sich um die Jahrtausendwende nach neuen Erwerbsmöglichkeiten umsahen, ist nicht ganz klar. Zu der Troika gesellte sich nunmehr der Philosoph Larry Sanger. Seine Aufgabe war es, das Konzept für ein Online-Lexikon zu erstellen.
Jenes Lexikon war gedacht als digitale Version herkömmlicher Lexika, allerdings nicht in Buchform, sondern digital: namentlich gekennzeichnete Experten sollten Artikel verfassen, die dann im Peer-Review-Verfahren gegengelesen und in sieben Stationen einer strengen Endkontrolle unterzogen werden sollten. Einziger Unterschied zum Brockhaus: in der digitalen Version bestand jederzeit die Möglichkeit zur Aktualisierung.
Das Projekt erhielt den Namen: Nupedia. Ergänzend sollten kurze Artikelversionen zu den Nupedia-Texten den Einstieg erleichtern. Der Name der Sammlung von Kurzversionen: Wikipedia. Wiki ist ein Wort aus der hawaiianischen Sprache und bedeutet: "kurz, schnell". Doch auch die Nutzung dieses pfiffig klingenden Wortes ist durchaus keine Kopfgeburt von Wales. Vielmehr hatte Ward Cunningham in den mittleren Neunziger Jahren bereits ein "WikiWikiWeb" programmiert.
Erfinder des Erfolgskonzeptes: Der Philosoph Larry Sanger
Nupedia und Wikipedia sollten durch Werbeanzeigen Gewinne für Wales, Shell und Davis erwirtschaften. Nupedia eignete sich indes nicht als Goldesel. Zu zäh waren Larry Sangers Qualitätsprozeduren. Doch bei einem Gespräch mit einem Freund in einem Restaurant im kalifornischen San Diego entwickelte Sanger die entscheidende Idee, wie das Online-Lexikon eine massenhafte Verbreitung erlangen könnte: ganz einfach, indem jeder Lexikonbenutzer zugleich auch die Möglichkeit erhielt, als sein eigener Redakteur jeden beliebigen Artikel selber zu verfassen oder bereits bestehende Artikel zu bearbeiten. Sanger verfasste sogleich ein Exposé, in dem er Wales, Davis und Shell das neue Konzept des Mitmach-Lexikons unterbreitete.
Nun wurden die Nupedia-Artikel in die neue Wikipedia integriert. Schnell fand das neue Wikipedia massenhafte Verbreitung. Das war der Augenblick, in dem Wales beschloss, sich von Sanger zu trennen. Als Wikipedia sukzessive von einem profitorientierten Konzept in das Gewand der neuen gemeinnützigen Stiftung Wikimedia Foundation überführt wurde, entließ Wales den Erfinder des Erfolgskonzeptes, Larry Sanger, am 1. März 2002. Während Wales zunächst noch die Urheberschaft von Sanger nicht ableugnete, wurde Sanger mit den Jahren immer mehr aus Wikipedia-Einträgen getilgt.
Bekanntlich funktionierte das Konzept der kollektiven Lexikonproduktion hervorragend. Die Menge von Wikipedia-Artikeln schwoll explosionsartig an. Die pornographische Suchmaschine Bomis konnte mit diesem dynamischen Wachstum ihrer Ausgeburt nicht Schritt halten. Hatte die Implosion von Bomis etwas zu tun mit dem Platzen der Dot.com-Blase? Oder lag es daran, dass Google jetzt der Platzhirsch im Online-Revier geworden war?
Jedenfalls flossen Kapital und die von ehrenamtlichen Redakteuren generierte Artikelflut in die neu eingerichtete Wikimedia Foundation ein. Auch dieser wohltätigen Stiftung saß die bereits bekannte Troika der Herren Wales, Shell und Davis vor. Der neue gemeinnützige - und vor allem: steuerbefreite - Status vermittelte der Öffentlichkeit den Eindruck, hier etabliere sich ein im Gemeinbesitz befindliches Schwarmwissen, das allen nütze. Das Ansehen der Marke Wikipedia gewann durch diesen Schachzug immens.