(K)ein kurdischer Staat in Sicht
Der Durchbruch in den "Atom"-Verhandlungen mit dem Iran änderte die strategische Lage in der Region grundlegend - auch für die Türkei
Seit vergangenen Freitag greift die türkische Luftwaffe Stellungen der PKK im Irak sowie angeblich auch in Syrien an, der mühsame Friedensprozess mit der verbotenen kurdischen Organisation ist damit beendet. Dennoch ist es noch möglich, die Eskalation zu begrenzen und einen weiteren offenen Krieg in der Region zu verhindern, wenn alle Seiten sich des entscheidenden Hauptziels Ankaras bewusst sind: Die Verhinderung der Entstehung eines Kurdenstaats in Syrien.
Als es den syrischen Kurden und ihren Verbündeten Ende Januar gelang, die zum Symbol gewordene Stadt Kobane wieder komplett unter ihre Kontrolle zu bekommen, war damit nicht nur der Vormarsch des "Islamischen Staats" in Nordsyrien gestoppt. Der Erfolg bedeutete auch eine Konsolidierung der de facto seit Sommer 2012 bestehenden autonomen kurdischen Kontrolle über die drei auch als "Rojava" bekannten Kantone.
Kurdistan ante portas?
Spätestens zu diesem Zeitpunkt stellte sich die Frage, ob dieses "Westkurdistan" die Keimzelle eines eigenen kurdischen Staates sein könnte, dem sich zu einem späteren Zeitpunkt andere kurdische Regionen anschließen würden. Im Juni gelang es dann den kurdischen YPG-Milizen, die Stadt Tel Abyad vom IS zurückzuerobern und damit die Kantone Kobane und Jazira zu verbinden, und auch um die von der Regierung kontrollierte Stadt Qamishli im Nordosten gab es Gefechte.
Es fehlte damit nur noch ein Anschluss des westlichen Kantons Afrin, um ein zusammenhängendes syrisch-kurdisches Gebiet zu erreichen. Denkbar war längerfristig sogar eine Vereinigung mit irakisch-Kurdistan - freilich nur unter der wenig realistischen Bedingung, dass kurdische Kämpfer die Stadt Mossul vom IS zurückerobern würden: Ohne diesen Verkehrsknotenpunkt wäre ein Zusammengehen rein technisch schwer vorstellbar.
Doch wer hier Hoffnungen hegte, ein langersehnter Traum könnte endlich in Erfüllung gehen, der hatte einen entscheidenden Akteur vergessen: Die türkische Regierung hatte nur sehr widerwillig die zunehmende politische Autonomie der syrischen Kurden und deren militärische Unterstützung durch irakisch-kurdische Peschmerga und die US-Luftwaffe akzeptiert. Immer deutlicher formulierte sie die Idee eines Einmarschs im Nachbarland zur Schaffung einer "Pufferzone" - anfangs vielleicht noch als Planspiel, aber spätestens im Oktober 2014 dann sehr konkret.
Dass die angeführten humanitären Gründe für Ankara dabei weniger entscheidend waren als die Verhinderung eines (Proto-)Kurdenstaats, dürfte das am schlechtesten gehütete Geheimnis des aktuellen Konflikts sein. Schließlich hatte schon die Duldung oder verdeckte Unterstützung der IS-Milizen sicherlich auch etwas mit der Angst vor Anschlägen in der Türkei selbst zu tun - viel mehr aber noch mit Angst vor zu großer Ausbreitung kurdischer Kontrolle im Nachbarland, die bei den Kurden im eigenen Land unweigerlich das Streben nach Autonomie oder gar Sezession wieder entfachen würde.
Der Iran-Deal als Wendepunkt
Der Durchbruch in den "Atom"-Verhandlungen mit dem Iran am 14. Juli änderte die strategische Lage in der Region grundlegend. Plötzlich war bzw. ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis der "Islamische Staat" in Syrien und im Irak von US-Luftwaffe, kurdischen Kräften und vom Iran unterstützten Milizen entscheidend zurückgeschlagen wird. Unter diesen neuen Bedingungen entschied sich Ankara, nicht die absehbare weitere Ausbreitung des syrischen Kurdengebiets abzuwarten, sondern selbst in die Offensive zu gehen: Den USA wurde "endlich" die Nutzung der nahegelegenen Luftwaffenbasen Incirlik und Diyarbakir für Angriffe auf den IS gestattet, im Gegenzug gaben diese offenbar der türkischen Regierung grünes Licht, alles aus ihrer Sicht Notwendige zur Verhinderung eines "drohenden" Kurdenstaats zu tun.
In der Annahme, dass sich eine Konfrontation mit der PKK bei der Schaffung der angestrebten "Pufferzone" ohnehin nicht vermeiden lassen würde, griff die türkische Armee selbst an, was ihr den taktischen Vorteil des "Erstschlags" verschaffte. War diese Annahme zutreffend? Vermutlich ja, auch wenn der IS-Anschlag auf Kurden in Suruc und die folgenden Vergeltungsaktionen der PKK gegen türkische Sicherheitskräfte kaum mehr als ein Vorwand für die Kriegserklärung an die Kurden sein dürften.
Die manchmal angeführten innenpolitischen Erwägungen, gerade die Positionierung im Hinblick auf mögliche baldige Neuwahlen angesichts der "Unmöglichkeit" der Regierungsbildung, dürften bei der Entscheidung der türkischen Regierung zwar auch eine Rolle gespielt haben, jedoch eher eine untergeordnete: Die Verhinderung eines Kurdenstaats war und bleibt in diesem Konflikt die wichtigste Maxime Ankaras. Interessant ist, dass noch nicht einmal versucht wird, die eigenen Luftangriffe als "Kampf gegen den IS-Terror" darzustellen - allein daran zeigt sich, dass mindestens die US-Regierung, vielleicht auch die anderen NATO-Staaten zuvor ihre explizite Zustimmung gegeben haben.
Wie könnte es weitergehen?
Es ist unwahrscheinlich, dass Ankara eine vollständige Kontrolle der "Pufferzone" durch Bodentruppen anstrebt: Das würde nicht nur die NATO-Partner verärgern, die bisher die Kurden unterstützt haben, sondern auch den Konflikt mit der PKK unkontrollierbar eskalieren lassen und jedwede baldige Beruhigung unmöglich machen. Außerdem ist es zur Erreichung der eigenen Ziele völlig unnötig: Erdogan und seine Regierung wollen Rojava nicht selbst beherrschen, sondern "nur" eine Festigung kurdischer Herrschaft über die Region unmöglich machen.
Dazu würde es genügen, neben der Kontrolle aus der Luft mit Bodentruppen zwei Keile zwischen die kurdischen Kantone zu treiben. Diese würden drei Funktionen erfüllen: Einerseits würde das ein zusammenhängendes kurdisches Autonomiegebiet verhindern, andererseits ergäbe sich daraus eine permanente Drohung - diese Strategie sollte aus dem Westjordanland bekannt sein. Zum Dritten könnten diese Militärbasen bei Bedarf zum Ausgangspunkt für weitergehende Interventionen im syrischen Bürgerkrieg oder die Unterstützung verbündeter Milizen werden.
Die üblichen Verlierer
Es mag furchtbar klingen - aber realistisch betrachtet ist dies momentan die positivste denkbare Entwicklung. Sie setzt voraus, dass die Türkei ihr (Haupt)Ziel mit dem geringstmöglichen Aufwand erreichen und eine Eskalation hin zu einem entgrenzten (Bürger)Krieg unbedingt vermeiden möchte. Leider gibt es keine Garantie, dass dies gelingen wird, zumal auch die PKK dafür mitspielen und sich zu gegebener Zeit auf einen schnellen Waffenstillstand einlassen muss - trotz der faktischen Kontrolle Rojavas durch die türkische Armee. Doch was haben die Kurden in einem offenen Kampf gegen diese zu gewinnen?
Ein weiterer positiver Aspekt könnte sogar noch entscheidender sein: Möglicherweise fiele damit ein entscheidender Grund weg, aus dem Ankara bisher den Sturz der Assad-Regierung anstrebt, so dass eine Lösung im syrischen Bürgerkrieg zumindest denkbar würde. Angesichts der Inbrunst von Erdogans bisherigem Streben ist dies jedoch alles andere als sicher.
Ein kurdischer Staat rückt damit wieder einmal in weite Ferne: Nicht zum ersten Mal in der Geschichte ziehen die Kurden bei der Neuaufteilung der Region den Kürzeren. Angesichts der Kräfteverhältnisse kann das nicht wirklich verwundern, und das Bestreben der YPG, die drei Kantone durch Eroberungen zu vereinen, dürfte diese Entwicklung noch beschleunigt haben. Denn solange die der türkische Staat und seine Armee stark genug sind, wird er alles verhindern, was die territoriale Integrität des Landes gefährden könnte - und dazu gehört aus Sicht Ankaras eben die Etablierung eines allzu selbstbewussten syrischen "Proto-Kurdistans". Diese eigentlich logische zweite Bedingung scheinen leider Manche übersehen zu haben.
Der Autor hat Politikwissenschaft studiert und beschäftigt sich seit Jahren schwerpunktmäßig mit Fragen der Außen- und Geopolitik, der EU, Energie und Klima sowie der globalen Wirtschafts- und Finanzordnung. Er bloggt auf Geopolitikblog.