Kaliningrad, Königsberg und Kant

Seite 2: 300. Geburtstag von Kant

Gespräche mit den Freunden unserer Partner-Organisation drehten sich darum, wie es gelingen könnte, trotz der verhängten Sanktionen und der gegenwärtigen Verunglimpfung russischer Menschen in Deutschland interessierte Bürger aus Schleswig-Holstein für die Teilnahme an den im nächsten Frühjahr stattfindenden Veranstaltungen zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant in Kaliningrad zu gewinnen.

Denn das wäre sicher im Sinne von Kants berühmter Schrift "Zum ewigen Frieden"8 und könnte eventuell in der heutigen "verrückten" Zeit zur Verständigung und Wiederannäherung von Menschen in Deutschland und Russland beitragen.

Welche Schwierigkeiten dabei zu überwinden sind, wird einem klar, wenn man sich mit dem Essay des Philosophen Reinhard Hesse beschäftigt, der mit eindringlichen Worten unter dem Titel "Philosophie und Wissenschaft als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln" vor einigen Monaten vom Online-Portal Nachdenkseiten veröffentlicht worden ist.9

Der Autor, der vor kurzem auch die Stiftung "Freiheit der Wissenschaft" gegründet hat 10, berichtet, dass er Mitte September letzten Jahres als Tourist in Kaliningrad das Grab Kants besucht und einen Abstecher zum Kant-Institut an der "Baltischen Kant-Universität Kaliningrad" gemacht habe, um sich dort für den Kant-Kongress im April 2024 zum 300. Geburtstag von Kant registrieren zu lassen.

Zwei längere Passagen aus dem Essay von Reinhard Hesse seien im Folgenden zitiert11:

In diesem Zusammenhang erfuhr ich, dass deutscherseits als Reaktion auf den russischen Einmarsch in die Ukraine die Mitwirkung bei der Vorbereitung des Kongresses eingestellt worden sei. Es herrsche Funkstille.

Ich muss gestehen, ich war bestürzt.

Was hat Kants Philosophie mit dem Ukrainekonflikt zu tun?, fragte ich mich.

Und auch: Wie sollen sich diejenigen russischen Philosophen fühlen, die die gegenwärtige russische Politik selbst ablehnen? Warum bricht man den Kontakt mit ihnen ab?

Erst in diesem Moment, in der persönlichen Begegnung mit den Betroffenen, wurde mir wirklich klar, was der Kontaktabbruch konkret bedeutet.

Wurden die philosophischen Kontakte mit anderen Ländern ebenfalls eingestellt, wenn deren Regierungen gegen das Völkerrecht verstießen? Hat man Yale und Harvard boykottiert, weil Amerika Jugoslawien oder den Irak (und etliche andere Staaten) völkerrechtswidrig angegriffen und dort hunderttausende ziviler Opfer verursacht hat?

Wäre es nicht vernünftiger, gerade jetzt das Gegenteil zu machen: Intensivierung des Kontakts, Verbreiterung des Austausches, Vertiefung des Gesprächs?

Ist denn die Wissenschaft- um das bekannte Clausewitz-Wort zu variieren- eine Art Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln?

Eine "Gegenseite", einen "Feind", gibt es in ihr nicht. Es gibt nur Diskussionspartner. Diese können verschiedener Meinung sein und gegeneinander argumentieren. Aber indem sie gegeneinander argumentieren, anerkennen sie notwendigerweise ihre Argumentationspartner als Gleiche.

Sollte man nicht diese "Friedenslogik" der "Kriegslogik" entgegensetzen?

Gibt es denn etwas Wichtigeres als das Gespräch, als die gemeinsame, auf Gegenargumente hörende Suche nach der Wahrheit und nach dem richtigen Weg. Und gilt das nicht gerade in Kriegszeiten?

Wie kann man sich noch auf Kant berufen, wenn man das vergisst?

Aber nicht nur die deutsche Kantgesellschaft, auch die großen deutschen Wissenschaftsorganisationen haben es für richtig befunden, den Austausch mit ihren russischen Gegenübern einzustellen. Sie folgen damit den politischen und medialen Vorgaben.

Sie hängen ihr Fähnchen in den Wind.

Dieser Kontaktabbruch geschieht einfach so, er wird einfach verkündet. Fertig.

Danach geschieht- nichts. Es gibt so gut wie keinen artikulierten Widerstand. Wie kann das sein?

Es kann doch nicht ohne Belang sein, wenn- wie ich jedenfalls meine- das allerelementarste, nicht nur wissenschaftliche, sondern auch allgemein menschliche Grundprinzip zivilisierten Lebens – nämlich, dass man miteinander redet – missachtet wird. Ja, wenn offen dazu aufgerufen wird, es zu missachten!

Denn wenn man sich zu diesem Niedrigsten hinreißen lässt, bleibt konsequenterweise am Ende wirklich nur noch die Gewalt, der Krieg.

Der Kontaktabbruch ist dann der erste Schritt dazu.

Weiter unten heißt es dann in dem Essay von Reinhard Hesse12:

Wenn ich als junger Mensch- aber leider Russe- an der Universität Konstanz studieren will, so darf ich das nicht.

Warum nicht? Weil ich Russe bin! Nannte man so etwas früher nicht Sippenhaft?

Mir wird jedoch die Gnade gewährt, beim Rektorat vorzusprechen, um vielleicht eine Ausnahmegenehmigung zu erwirken, obwohl ich Russe bin. Das Rektorat beurteilt das. Nach welchen Kriterien es urteilt, ist ihm überlassen. Nannte man früher so etwas nicht Willkür?

Der Verfasser dieser Zeilen hat an dieser Universität studiert und promoviert. Ihm fällt es nicht leicht, das Obige zu berichten.

Gegen seinen Willen an die Front geschickt werden kann Reinhard Hesse von Leuten, die so denken, nicht mehr, weil er zu alt dazu ist und weil Deutschland vorläufig ukrainische Soldaten vorlässt.

Aber das wieder neu einsetzende hochtrabende Gerede führender deutscher Intellektueller muss er sich natürlich trotzdem anhören.

Wie kann man sich selbst als Wissenschaftler, wie kann man sich als Mensch noch ernst nehmen, wenn man so etwas durchgehen lässt?

Ich weiß nicht, wie das möglich wäre.

Es handelt sich m.E. beim Thema Gesprächsabbruch- egal mit wem- keineswegs um eine Petitesse.

Es handelt sich ums Eingemachte, um den Kern unseres wissenschaftlichen und menschlichen Seriositätsanspruchs. (Anmerkung KDK: Dieser Satz ist im Original fettgedruckt, hier im Kursivdruck.)

Auch die übrigen Teile des bemerkenswerten Essays von Reinhard Hesse13 sind erhellend und lesenswert, die vollständige Lektüre möchte ich empfehlen.

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