Kanada: Befürworter einer Legalisierung von Marihuana wird neuer Premierminister
Wahlkampf war von der Skandalisierung von Social-Media-Äußerungen geprägt
In Kanada stellt die Dynastie der Windsors die Staatsoberhäupter - und die Dynastie der Trudeaus demnächst wieder den Premierminister. Bei der gestrigen Parlamentswahl gewann nämlich die Liberale Partei von Justin Trudeau, dem Sohn von Pierre Trudeau, der das Land (mit neunmonatiger Unterbrechung) von 1968 bis 1984 regierte. Sie steigerte die Zahl ihrer Mandate von 36 auf 184 (was in einem Mehrheitswahlsystem allerdings deutlich weniger sensationell ist als in einem Verhältniswahlsystem).
Die seit fast zehn Jahren regierende Konservative Partei von Premierminister Stephen Harper verlor 60 Sitze und kommt nun nur noch auf 99. Die vorher zweitplatzierten Neuen Demokraten büßten 51 Sitze ein und wurden mit jetzt 44 nur noch drittstärkste Kraft. Auch die Grünen verloren mit einem ihrer zwei Sitze die Hälfte ihrer Mandate. Von zwei auf zehn Sitze zugelegt hat dagegen der separatistische Bloc Québécois. Damit ist die Partei jedoch immer noch weit von ihren Erfolgen aus den Neunziger und Nuller Jahren entfernt, als sie regelmäßig um die 50 Mandate erreichte.
Der Wahlkampf war - vorsichtig formuliert - nicht nur von politischen Positionen, sondern auch von einer Internet-Archäologie bestimmt, bei der Medien und politische Gegner alte Facebook-, Twitter- und YouTube-Äußerungen oder andere Peinlichkeiten von Kandidaten und deren Wahlkampfhelfern ausgruben, die zu zahlreichen Rücktritten führten. Im August und September kam es dutzendweise zu solchen Enthüllungen.
Davon betroffen war beispielsweise Tim Dutaud von der Konservativen Partei: Der ehemalige Radiomoderator hatte bei YouTube unter einem Pseudonym Videos eingestellt, in denen er in scherzhafter Absicht bei Service-Hotlines anruft und in Gesprächen mit deren Angestellten Orgasmen vortäuscht.
Kurz vorher hatte die Konservative Partei ihren Kandidaten Jerry Bance abberufen. Der ehemalige Klempner war 2012 heimlich dabei gefilmt worden, wie er beim Reparieren einer Spüle in einem Kundenhaushalt in eine Kaffeetasse des Kunden uriniert und den Inhalt anschließend in den Ausguss schüttet. Der konservative Kandidat Gilles Guibord musste gehen, nachdem man ältere Äußerungen von ihm über den mangelnden Integrationswillen von Indianern und die Autorität von Männern über Frauen skandalisierte.
Aber auch Kandidaten anderer Parteien waren von dem Phänomen betroffen: Die Kopftuchträgerin Ala Buzreba von den Liberalen trat zurück, als bekannt wurde, dass sie auf Twitter eine Person, deren Meinung sie als "rasistisch" wertete, als "Spermaverschwendung" bezeichnete und ihr riet, sich das "Hirn rauszublasen". Einem Verteidiger Israels twitterte sie: "Ihre Mutter hätte diesen Kleiderbügel benutzen sollen". Über antiisraelische Social-Media-Äußerungen stolperten auch Stefan Jonasson (der Haredim mit Taliban verglich) und Morgan Wheeldon von der New Democratic Party, der die Erfahrung machen musste, dass Facebook-Postings nicht aus der Welt sind, wenn man sie löscht.
Der konservative Kandidat Wiliam Moughrabi löschte gleich sein ganzes Facebook-Profil, nachdem dort gepostete Sprüche wie "Never get into fights with ugly people, they have nothing to lose" und "Karma takes too long - I'd rather beat the shit out of you now" als gewaltverherrlichend kritisiert wurden. Er blieb bei seiner Kandidatur - ebenso wie die ND-Kandidatin Alex Johnstone die vor sieben Jahren auf Facebook unter einem Foto des Konzentrationslages Auschwitz den Kommentar "Ahhh, the infamous Pollish [sic], phallic, hydro posts" hinterlassen hatte. Sie machte geltend, den Inhalt des Fotos nicht richtig erkannt zu haben.
Als nur mehr bedingt skandaltauglich erwies sich dagegen Trudeaus Befürwortung einer Legalisierung von Marihuana und sein offenes Bekenntnis, zuletzt 2010 einen Joint geraucht zu haben, als er und seine Frau die Kinder zur Großmutter gebracht und ein paar Freunde zu einem guten Essen eingeladen hatten. Seiner Ansicht nach sollte sich Kanada die Erfahrungen mit der Cannabis-Legalisierung in bislang vier US-Bundesstaaten (Colorado, Washington, Oregon und Alaska) genau ansehen und nüchtern Schlüsse daraus ziehen, weil die vergangenen Jahrzehnte gezeigt hätten, dass der "Krieg gegen Drogen" den Konsum durch Minderjährige nicht verhindert.