Kanada: Sag mir, wer die Kinder sind

Seite 2: Die Wut richtete sich gegen Kirche und Monarchie

Nach dem ersten Fund am 27. Mai 2021 wurde in der direkten Umgebung aller ehemaligen "Residential Schools" in ganz Kanada nach weiteren Gräbern gesucht. Knapp sechs Wochen später wurden etwa 750 anonyme Gräber gefunden, wenige Tage später noch einmal 182.

Die Funde erschütterten das Land, insbesondere die indigene Bevölkerung. Es kam zu Protesten und auch gewaltsamen Ausschreitungen, die sich nicht nur gegen die Kirche, sondern auch gegen die britische Monarchie richtete: Kirchen gingen in Flammen auf und royale Denkmäler wurden vom Sockel gestürzt.

Der indigene Widerstand wächst

Die Native-Aktivistin Erica Violet Lee wies im Guardian die Bezeichnung der Einrichtungen als Schulen zurück - es seien "Gefängnisse" und "Zwangsarbeiterlager" gewesen. Sie schrieb:

Wir alle hatten die Geschichten gehört, lange bevor sie in diesem Sommer rund um die Uhr von jedem Nachrichtensender in Kanada berichtet wurden. Lange bevor Bodenradargeräte das Vorhandensein nicht gekennzeichneter Gräber bestätigten, wussten wir, dass unsere vermissten Familienmitglieder nicht einfach "verschwunden" waren oder versucht hatten, aus den Internaten zu fliehen, und dabei scheiterten, trotz dessen, was uns Missionare und Regierungsbeamte gesagt hatten. Indigene Gemeinschaften sind notwendigerweise eng verbunden, und wir leben in der Geschichte unseres Volkes trotz aller Bemühungen, unser Wissen, unsere Kulturen, Sprachen - und unser Leben - auszurotten.

Die Schulen seien gegründet worden, um "indigene Völker aus unserem Land zu entfernen und uns in die kanadische Gesellschaft zu integrieren. Weder die Kirche noch der Staat sind unschuldig am anhaltenden Völkermord an unserem Volk." Sie selbst sei in einer städtischen Grundschule mit dem Singen von "Oh Canada" und "God Save the Queen" auf Versammlungen aufgewachsen. In der Kantine mussten vor dem Essen christliche Lieder gesungen werden. Sie beschrieb auch die brutale Ausbeutung der indigenen Bevölkerung:

Ich erinnere mich, gehört zu haben, wie Angehörige des Volkes der Cree, darunter auch kleine Kinder, in brutaler Sommerhitze auf Zuckerrübenfarmen arbeiten mussten. Dies war in den 1940er- bis mindestens in den 1980er-Jahren gängige Praxis: Bauern lockten enteignete und hungernde Indigene mit falschen Versprechungen zu Saisonarbeit und zwangen die Arbeiter dann, zwölf bis 14 Stunden am Tag mit wenig oder keinem Lohn zu arbeiten. Sie schliefen in Lastwagen, Zelten oder leeren Getreidekisten. Wenn sie sich in nahegelegene Städte wagten, wurden sie mit Schlagstöcken verjagt. Wenn sie versuchten, woanders zu gehen, konnten ihre Kinder weggenommen werden.

Einige der Geschichten, die über die Missionarsschulen erzählt würden, handelten von "einheimischen Kindern, die Gräber für andere Kinder ausheben." Die indigenen Kinder hätten ihr Leben nie "verloren"; es sei ihnen vorsätzlich und gewaltsam gestohlen worden.

Ebenso ging das Land der Indigenen - von Kanada bis in die USA und darüber hinaus - nie "verloren"; sie wurden und werden gewaltsam kolonisiert. Die Wörter, die wir verwenden, sind wichtig für das Leben der Ureinwohner, weil diese Wörter die Vergangenheit, die Gegenwart und das Mögliche definieren.

Die Wunden seien tief, so die Autorin. Doch trotz aller Bemühungen, trotz aller Gewalt, trotz der indigenen Kollaborateure, die in den Reservaten patrouillierten, sei es nicht gelungen, das kulturelle Erbe der indigenen Bevölkerung komplett zu zerstören. Die Spiritualität, "unsere Zeremonien und unsere Sprachen wurden bewahrt und im Untergrund praktiziert." Ihre Vorfahren hätten nicht aufgegeben und ihre Generation müsse den Widerstand fortsetzen.

Der Nationalfeiertag wurde zum Tag der Besinnung

Anlässlich des "Canada Day", dem Nationalfeiertag am 1. Juli, rief die Organisation "Idle no more" (Sei nicht länger untätig) unter anderem in sozialen Netzwerken zum "Cancel Canada Day" auf, einen Protesttag gegen die kolonialistische Selbstbeweihräucherung:

Die jüngste Entdeckung … hat uns daran erinnert, dass Kanada nach wie vor ein Land ist, das seine Grundlage auf der Ausrottung und dem Völkermord indigener Nationen, einschließlich der Kinder, aufgebaut hat. Wir weigern uns, untätig zu sitzen, während Kanadas gewalttätige Geschichte gefeiert wird.

Landesweit sollten Aktionen durchgeführt werden, in "jedem traditionell indigenem Territorium, städtisch oder ländlich, von Küste zu Küste zu Küste." Native-Organisationen riefen laut Guardian alle Menschen in Kanada dazu auf, statt zu feiern, den Tag reflektierend zu verbringen und um die Kinder zu trauern, die niemals nach Hause zurückkehrten. Es sei wichtig, "dass wir diese Geschichte, den Schmerz und das, was den indigenen Völkern in diesem Land angetan wurde, anerkennen".

Auch Kanadas Premierminister Justin Trudeau mahnte:

Am kommenden Kanada-Tag, denke ich, müssen wir uns alle verpflichten, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um Kanada besser zu machen, während wir diejenigen respektieren und ihnen zuhören, für die es noch kein Tag zum Feiern ist.

Möge diese Besinnlichkeit lange anhalten und auch nach good old Europe rüberschwappen - von dort aus die Kolonialisierung Kanadas begann und dessen Verstrickung in diese Verbrechen ebenfalls bis heute nicht aufgearbeitet wurde. Es wäre interessant, sich die damals beteiligten Akteure einmal genauer anzusehen. Bekanntermaßen war es übliche Praxis in der katholischen Kirche, einschlägig auffällig gewordene Priester nicht juristisch zu belangen, sondern sie zu versetzen - auch über die Landesgrenzen hinaus. Wer weiß, wie viele Deutsche an den Gewalttaten beteiligt waren, die Verbrechen zu nennen weder Papst Benedict XVI. noch sein Nachfolger Papst Franziskus über die Lippen brachten.