Kapituliert der Staat?

Die wahre Front hinter Terrorkrieg, Djihad und Kreuzzug

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Der "Erste Krieg des 21. Jahrhunderts" hat sich zügig zu einem synergetischen Vernichtungsunternehmen entwickelt, das zwar klassische Elemente der Kriegführung präsentiert, aber auch solche Erscheinungen, die das konventionelle Verständnis des Krieges nachhaltig provozieren. Wir erleben die gefährlich dahinplänkelnde Konfrontation von Staaten und Gesellschaften mit nomadisierenden Globokriegern, die selbst keinem Gemeinwesen mehr verpflichtet sind. Nach dem Militärexperten Martin van Creveld wächst mit solchen "low intensity conflicts" die Gefahr, dass der Staat selbst ausgehöhlt wird. Sollte der Staat eine obsolete Sicherheitsagentur des 21. Jahrhunderts sein?

Nicht der in diesen Tagen - permanent ebenso sehr beschworene wie bestrittene - "Clash of civilizations" könnte der Generalbass der sich zusammenbrauenden Höllenmelodien sein. Der Staat als Beherrschungsinstrument, sein Gewaltmonopol wie sein Verteidigungsrecht gegen äußere Bedrohungen werden so nachhaltig provoziert, dass sich der gegenwärtige Krieg zur Belastungsprobe für die uns geläufigen Machtformationen hochschaukelt.

Die klassische Konfliktkonstellation verfeindeter Staaten fasste der Staatsphilosoph des militaristischen Preußen, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, so zusammen:

"Darin, dass die Staaten sich als solche gegenseitig anerkennen, bleibt auch im Kriege, dem Zustande der Rechtlosigkeit, der Gewalt und Zufälligkeit, ein Band, in welchem sie an und für sich seiend füreinander gelten, sodass im Kriege selbst der Krieg als ein Vorübergehensollendes bestimmt ist".

Nichtstaatliche Kombattanten zwingen mit ihrer asymmetrischen Kriegführung dagegen eine völlig andere Definition des Kriegs auf. Sie führen ihn als einen Krieg, der sich neben bekannten Viren wie ein unbekannter Virus in den westlichen Öffentlichkeiten verbreiten und die Existenzbedingungen von Staaten rückhaltlos unterminieren soll. Im Gegensatz zu Guerilleros früher Zeiten wie Mao Tse Tung oder Fidel Castro ist bei den unsichtbaren Netzwerkterroristen einmal mehr ersichtlich, dass sie nach dem Kollaps des Staats eine eigene Staats- und Gesellschaftsidee durchsetzen wollen.

Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.

Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse

"Asymmetrische Kriegführung" wurde zum Schlagwort eines Kampfes, der reflektiert, dass hochgerüstete Staaten wie die USA in direkter Konfrontation nicht zu besiegen sind. Asymmetrische Bedrohungen suchen nach der Achillesferse versorgungs- und informationstechnologisch hochvernetzter Gemeinwesen. Der neue Terrorismus kombiniert Guerilla-Kriegführung, Kamikaze-Opferbereitschaft und virtuelle Netzbewegungen, um den schwerfälligen Staatsapparat zu unterlaufen. In dieser Mobilität von Erleuchteten, Erwachenden und Schläfern werden die Übergänge zwischen dem urbanen Gestrüpp des Westens, den schlecht passierbaren Bergen Afghanistans und den Welten des Cyberspace zunehmend verwischt.

Die ganze Welt soll sich in einen real-virtuellen Dschungel verwandeln – gemäß der paradigmatischen Losung des großen Strategen des Guerillakrieges Mao Tse Tung: "Je mehr Unordnung, desto besser". Mit diesem Schlachtruf dehnt sich die Auseinandersetzung aber auf alle Organisationsmomente staatlicher Herrschaft aus. Terroristen wollen Niederlagen bereiten, die mit klassisch militärischen, aber auch rechtsstaatlichen Mitteln der Gewaltausübung nicht wirksam gekontert werden können. Im Gegenteil: Der Staat wird wider Willen zur Kooperation mit seinen Widersachern verurteilt, wenn er mit aller Härte auf deren Provokationen reagiert.

Hatten sich schon zuvor Distanzwaffen über die klassische Definition von Fronten hinweg gesetzt, werden mit nomadischen Kämpfern und Cybermobilität nationale Grenzen sinnlos. Diese Territorialverluste sind zugleich staatliche Definitionsverluste. Solche Verluste werden inzwischen an allen Stellen des frontenlosen Kriegs beobachtet, in Afghanistan nicht weniger als im Homeland der Freiheit selbst. Amerikas Staatenlenker spricht permanent von einem lang bis immer währenden Feldzug gegen die Weltbösen, mithin von einem Kriegsziel, das zeitlich und räumlich nicht wirklich begrenzt werden kann. Das ist eine gefährliche Option. Gelingt es dem Staat nicht, in überschaubaren Zeiträumen Sicherheit für seine Bürger, insbesondere im Inneren des Gemeinwesens, herzustellen, schwinden seine Deckungsreserven. Martin van Creveld hat für den "low intensity conflict" festgestellt, dass der Staat unbedingt schnelle Siege gegen nichtstaatliche Kombattanten erringen müsse, wenn er nicht in immer neuen Angriffen auf seine Verteidigungsfähigkeit, seine Glaubwürdigkeit und damit seine Existenz selbst aufs Spiel setzen will.

Geht es gegenwärtig gar nicht um das vordergründige Wechselspiel von Terror und Antiterror, sondern um den Angriff auf den Staat als klassische Befriedungsform menschlicher Gewalt?

Die vormaligen Unterscheidungen von Krieg und Frieden, von innerer wie äußerer Sicherheit, von öffentlichen und privaten Räumen sind in der neuen globalen Konfliktform bereits sehr diffus geworden. Mit der Diffusion der Unterscheidungen zerlaufen die Differenzen von Politik, Militär, Spionage, Polizei und zivilen Informationsherrschern. Die Sprache staatlicher Selbstverteidigung ist so verräterisch wie die Mittelwahl geworden. Die fluktuierende Terminologie, die einerseits von Verbrechensbekämpfung und Terror, andererseits aber von Krieg, Sieg und Niederlage handelt, markiert eine kategoriale Verunsicherung des Staats über die Rolle, die er in diesem Kampf spielt.

Die Definition nach Carl von Clausewitz, dass der Krieg eine Form der Politik zwischen souveränen Staaten sei, ist damit längst obsolet geworden. In dieser Lehre, aber auch in der historischen Praxis dieser Doktrin, blieb die Idee des Staats zwischen den kämpfenden Nationen unangefochten. Der gegenwärtig Krieg hat dagegen schon nach wenigen Wochen die Politikdefinition von Staaten, so wie wir sie bisher kannten, gefährlich verwirrt. Außenpolitisch kann die überstürzte Bündnispolitik unter Zurückstellung aller vormaliger Bedenken gegen zahlreiche Staaten nur noch als grob fahrlässig bezeichnet werden. Die internationale Allianz auf dem schlecht gefederten west-östlichen Diwan belegt die heillose Verwirrung, in die alle beteiligten Staaten geraten sind. Das von den USA entworfene Staatenbündnis ist ein kriegsbedingtes Paradox, jetzt selbst mit solchen Staaten wie Pakistan oder Indien zu kooperieren, die gestern noch als globale Sicherheitsrisiken galten – und vielleicht morgen schon größere Bedrohungen entfalten, als es der Terrorismus heute vermag.

Die eilige Allianz ist nicht lediglich ein Kriegsbündnis, sondern wird zum Bollwerk gegen die Privatisierung globaler Gewalt. Es geht nicht mehr allein um die Frage, ob Staaten als Stützpunkte terroristischer Gewalt (Bush: "harbouring terrorists") sich aus der Gemeinschaft aufrechter Staaten entfernen, sondern sich von der Idee des staatlichen Gewaltmonopols überhaupt verabschieden. Nicht von ungefähr richtet sich der Kampf gegen die Taliban, die mit den Terroristen kooperieren, weil in diesem Regime die Idee des Staats zu keiner Zeit je eine prominente Rolle spielte.

Wer zulange mit Terroristen kämpft, wird schließlich vielleicht selbst einer, so wie es Arundhati Roy jetzt den Verantwortlichen der US-amerikanischen Einsätzen in Afghanistan bescheinigt. Bereits der Einsatz von Sonderkommandos wie den Navy Seals, die nicht viel anders als Terroristen in der Guerillakriegführung ausgebildet sind und vermutlich auch so kämpfen, macht die schleichende Anverwandlung der vordergründig so ungleichen Kombattanten deutlich. Das mag militärisch unausweichlich sein, wenn überhaupt noch Erfolge erzielt werden sollen, unterminiert aber die staatliche Selbstlegitimation im Rahmen kontrollierter Macht- und Gewaltausübung nachhaltig.

Auch die wuchernden Kollateralschäden der letzten Wochen entwickeln sich zu einem Desaster, das über politische Reputationsverluste der Krieg führenden Nationen - und immer schlechter zu beschwichtigende Proteste der Öffentlichkeit - noch weit hinaus gehen könnte. Wenn sich die Taliban und Terroristen unter die Zivilisten mischen, ist die völkerrechtliche Unterscheidung von Kombattanten und Zivilisten militärlogisch nicht mehr sinnvoll aufrecht zu erhalten. Dann können in diesem Krieg sichtbare Erfolge nur noch zu dem hohen Preis erzielt werden, mit dem Zweck alle Mittel zu heiligen. Intelligente Waffen, humanbellizistische Chirurgie, alle vormaligen apologetischen Zurüstungen eines Krieg führenden Staats hängen von "anständigen Gegnern" ab, die bereit sind, sich als Soldaten zu outen – und anschließend vernichten zu lassen. Die Streubomben detonieren dagegen nicht nur auf dem Boden Afghanistans, sondern zugleich in der selbstgefälligen Projektion des fair kämpfenden Westens. Im sich jetzt anbahnenden humanitären Chaos kann der Staat als Herrschaftsform nur noch verlieren.

Mit terroristischen Mitteln gegen den Terror ...

Nicht weniger signifikant für das Versagen der Sicherheitsagentur "Staat" erscheinen die innergesellschaftlichen Problemtherapien, die selbst Symptome eines behandlungsbedürftigen Staats sein könnten. Verfassungsrechtler und Soziologen machen bereits sei Jahrzehnten auf die "Osmose von Staat und Gesellschaft" aufmerksam, die bei vielen klassischen Staatsfunktionen einschließlich des Sicherheitsbereichs zu beobachten ist. In diversen gesellschaftlichen Bereichen ist der Glaube an die Verteidigung der eigenen Rechte durch klassische Sicherheitsbetriebe wie die Polizei längst schwer beschädigt.

Terrorismusbekämpfung greift aber erheblich tiefer noch in die Strukturen der Zivilgesellschaft ein, wie die immer hektischere Antiterrorgesetzgebung und immer neue Überwachungsszenarien demonstrieren. Der präsidial ausgestellte Steckbrief "Dead or alive" für Usama bin Ladin fügt sich nicht nur metaphorisch in die erweiterten Kompetenzen der CIA, Terroristen in Zukunft ohne Ermittlungs- und Gerichtsverfahren zu töten. Es wird zu einem symbolisch schwer überbietbaren Akt, dass nicht nur das amerikanische Kongressgebäude vorübergehend geschlossen wurde, sondern der US-Supreme Court inzwischen nicht mehr in seinem eigenen Gebäude tagen kann. Auch Tony Blair entwickelt inzwischen ein erstaunliches Verhältnis zum Rechtsstaat, wenn er etwa den Prozess gegen Ibn Ladin nur noch für eine akademische Frage hält.

Schon soll der amerikanische Geheimdienst erwägen, den Terror mit terroristischen Methoden zu bekämpfen. Kriminelle wie afghanische Drogenkönige könnten in den Terrorkrieg eingebunden werden, Verbrecher für solche Informationen bezahlt werden, die staatliche Sicherheitsdienste trotz ihrer hypertrophen Mittel nicht erlangen. Selbst Familienmitglieder von mutmaßlichen Terroristen könnten in Zukunft von dem auf das Blut gereizten Staat gekidnappt werden. Das FBI schließt angeblich Folter und Wahrheitsdrogen nicht mehr aus, um verdächtige Terroristen zum Reden zu bewegen - ein "Lösungsansatz", der übrigens auch in den 70er-Jahren bei der Bekämpfung der RAF in Erwägung gezogen wurde.

Der wild um sich schlagende Staat fällt mithin auf ein Reaktionsniveau zurück, das mit Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde demokratischer Gemeinwesen fundamental unvereinbar ist. Ähnlich letal könnte die staatliche Selbstrechtfertigung durch die grassierende "Anthraxophobia" infiziert werden. Trotz gigantischer Sicherheitsagenturen, trotz der viel beschworenen "Intelligence" lassen sich bisher nicht einmal die Verursacher wahrnehmen. Anthrax vergiftet Menschen, aber nicht weniger die Legitimationsressourcen des Staats, der wie ein Dinosaurier hinter den unheimlichen Erregern herläuft.

Es passt schlecht zu den anfänglich vollmundigen staatlichen Sicherheitsversprechen, wenn US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld auch noch verkündete, dass das bisherige Kriegsziel Nr. 1, Usama bin Ladin der menschlichen Gerechtigkeit zuzuführen, unerreichbar sein könnte. Nach dem US-Verteidigungsminister gibt es viele Länder, in denen sich der Erzfeind der Vereinigten Staaten von Amerika verstecken könne, so dass der staatliche Arm der Gerechtigkeit schließlich zu kurz greifen könnte. Das heißt bündig bis fatal, dass die zukünftige Sicherheit von Gesellschaften gegen nichtstaatliche Aggressoren durch Staaten nicht länger sicherzustellen ist.

Nach Rumsfelds anfänglichen Prophezeiungen endet der neue Antiterrorkrieg nicht mit einem Knall, sondern mit dem inneren Zusammenfall des Terrorismus. Der alte Krieger Rumsfeld erinnerte sich an den Kalten Krieg, in dem das Wettrüsten bereits die Schlacht war. Aber diese Frieden spendenden Overkillszenarien basierten auf strategischen Pattsituationen zwischen Staaten. Das mutet inzwischen wie die Nostalgie einer bedrohlichen, aber beherrschbaren Zeit an. Was aber wäre, wenn der neue Antiterrorkrieg mit der Implosion von Staaten endet, so wie sie uns heute unabdingbar erscheinen, ohne schon angeben zu können, was danach kommt?