Katalanische Unabhängigkeitsbewegung: Wieder präsent auf der Straße

Hissen der katalanischen Fahne im Dorf Perello. Foto: Ralf Streck

Nationalfeiertag: Der Unmut über den "Schmusekurs" der regierenden Republikanischen Linken gegenüber spanischen Regierung spaltet die Bewegung. In Barcelona demonstrierten zwischen 150.000 nach Polizeiangaben und 700.000 nach Angaben der Veranstalter.

Eine Glocke feuchtheißer Luft hängt am Sonntagmorgen über El Perelló, als zum katalanischen Nationalfeiertag ("Diada") um 11 Uhr die Fahne am Rathaus gehisst wird. Das Dorf mit gut 3.000 Bewohnern im Süden Kataloniens ist geschmückt, katalanische Fahnen hängen aus den Fenstern. Dass man in Tarragona am Ebro-Delta für die Unabhängigkeit kämpft, hat die Bevölkerung bereits beim Referendum am 1. Oktober 2017 gezeigt. Bei einer Beteiligung von 70 Prozent stimmten 98 Prozent für die Loslösung von Spanien.

Überall finden sich hier Hinweise auf die damaligen Vorgänge. "Nicht vergessen, nicht vergeben", prangt es in großen Lettern am Platz des 1. Oktober. Gemeint ist, dass die spanische Regierung an diesem Tag ihre Sicherheitskräfte losließ, um mit Knüppeln und Gummigeschossen zu versuchen, eine Abstimmung zu verhindern.

Das scheiterte an der Einheit und Geschlossenheit der Bewegung. Der gelang es, das Referendum trotz allem friedlich durchzusetzen. Zwei Millionen Menschen konnten vor fünf Jahren abstimmen und sprachen sich zu mehr als 90 Prozent für die Unabhängigkeit aus.

Geschlossenheit muss man derzeit unter den Parteien aber suchen. Parteienstreit und Machtkämpfe bestimmen das Bild. Darüber wächst der Unmut an der Basis gegenüber denen, die noch vor eineinhalb Jahren versprochen haben, den Willen der Bevölkerung umsetzen.

Das hatte auch der Regierungschef Pere Aragonès in seiner Regierungserklärung getan und der spanischen Regierung einen Zeitrahmen von zwei Jahren für Verhandlungen eingeräumt. Der Wille zur Unabhängigkeit wurde bei den Parlamentswahlen im Februar 2021 bekräftigt, als 52 Prozent Parteien wählten, die klar für die Eigenständigkeit eintreten.

Der Streit

Der Unmut richtet sich nun besonders gegen die Republikanische Linke Kataloniens (ERC), die knapp stärkste Kraft wurde und auch in "Lo Perelló" regiert, wie das Dorf für die Einheimischen heißt. Der Frust drückt sich dort an den Hauswänden aus.

"Sie haben uns für nichts geschlagen – Wir sind keine Republik". Von der Kritik des "Katalanischen Nationalkongress" (ANC) an der politischen Klasse, der auch in diesem Jahr wieder zur Großdemonstration für die Unabhängigkeit in Barcelona aufruft, fühlt sich die ERC besonders angesprochen.

Die ANC-Chefin Dolors Feliu konstatierte: "Wie nie zuvor ist klar, dass es die Bevölkerung sein wird, die die Unabhängigkeit umsetzt". Die Parteien legten sich nicht fest, kritisiert der ANC im Aufruf. Den Dialog mit Spanien, den die ERC führen will, nannte sie eine "Kapitulation".

Da der ANC zur "Rückkehr" auf die Straßen aufruft, um die Unabhängigkeit umzusetzen, bleibt die ERC in diesem Jahr der ANC-Demonstration fern, zu der auch andere Organisationen aufrufen. Erneut wurden am späten Sonntag Hunderttausende erwartet.

Zunächst hatte der Regierungschef Pere Aragonès seine Beteiligung abgesagt. Ihm folgte die gesamte ERC-Spitze. In einem Brief an Mitglieder versuchte die ERC sogar zu demobilisieren und sprach von einem angeblichen "Ausschluss" der Partei durch den ANC.

Nerven liegen blank

Der Brief zeigt, dass die Nerven angesichts der Erfolglosigkeit der eigenen Politik blank liegen, weshalb die Partei die Reaktivierung der Straße fürchtet und die Mobilisierungen abwürgen will. In dem Brief an die Basis wurde spalterisch behauptet, der ANC-Aufruf "richtet sich gegen die Unabhängigkeitsparteien und gegen ihre Arbeit."

Dass es im Perelló einen Umtrunk mit DJ und ein gemeinsames Paella-Essen gibt, steht beispielhaft für diese schiefe ERC-Politik. Sie setzt nicht auf Kampf und Mobilisierung, sondern hofft weiter auf einen – bisher fruchtlosen – Dialog mit der spanischen Regierung.

Weder die antikapitalistische CUP noch Junts per Catalunya (Gemeinsam für Katalonien/JxCat), die Formation von Exilpräsident Carles Puigdemont, fühlen sich vom ANC ausgegrenzt. Sie nahmen nicht an der Demonstration teil. Sie halten die Kritik für berechtigt. Der neue JxCat-Chef Jordi Turull ermahnt den Koalitionspartner ERC schon.

Zwei Jahre hatten die CUP und JxCat der ERC für deren Dialog eingeräumt, an den die beiden Parteien nicht glauben. "Wir haben ein Regierungsabkommen, um uns der Unabhängigkeit anzunähern", sagte Turull. "Wenn wir uns davon entfernen, müssen wir Entscheidungen treffen", warnte er vor einem Zerbrechen der Koalition und mit Neuwahlen.

Das ERC-Problem ist vor allem, dass ein Dialog mit der sozialdemokratischen Regierung in eineinhalb Jahren nie wirklich begonnen hat. Spanien will weder über eine Amnestie noch über das Selbstbestimmungsrecht reden. Das Versprechen, dass die ERC-Sprecherin Marta Vilalta gegeben hat, wurde längst gebrochen. "Wenn es am Verhandlungstisch nicht vorangeht", die Regierung den politischen Weg nicht beschreite, gäbe es keine Unterstützung mehr von der ERD. "Dann wäre unsere Unterstützung für sie beendet."

So meinen viele in Katalonien, dass die ERC zwar der sozialdemokratischen Regierung von Pedro Sánchez in Madrid als Mehrheitsbeschaffer dient, im Gegenzug aber nichts umgesetzt bekommt. Nicht einmal die Repression wird gestoppt, noch immer wird zum Beispiel der Exilpräsident Puigdemont verfolgt und kann nicht in seine Heimat zurückkehren. Betroffen von Anklagen sind noch immer Tausende Menschen.

"Es wird immer schlimmer", meint Jordi im Perelló. Er versteht die ERC nicht mehr, die er stets gewählt hat. Bei den Kommunalwahlen im kommenden Mai will er das nicht mehr tun. Dass das spanische Innenministerium gerade das Bespitzeln von katalanischen Jugendorganisationen über infiltrierte Polizisten gerechtfertigt hat und noch dazu "Terrorismusbekämpfung" anführt, zeigt für ihn die Unmöglichkeit eines Dialogs an.

Dass Spanien kein Interesse an einer Konfliktlösung habe, zeige auch der Riesenskandal der aufgeflogenen Bespitzelung von Aktivisten, Journalisten und Politikern, bis hinauf zum Regierungschef Aragonès mit der Spionagesoftware Pegasus.

Dass Sánchez gerade sogar eine Zwangsverwaltung in den Raum gestellt hat, lässt wieder für immer mehr Menschen hier das Fass genauso überlaufen wie auch die massiven Probleme mit der Infrastruktur.

Großdemonstration in Barcelona

Jordi hat sich nach dem Hissen der Fahne im Dorf deshalb auf den Weg zur Großdemonstration nach Barcelona gemacht. Dort hat er sich nach Angaben der Veranstalter mit weiteren 700.000 Menschen für die Unabhängigkeit eingesetzt. Stimmen die ANC-Angaben, so wären das fast doppelt so viele wie im Vorjahr.

Damit wurde die ERC-Strategie zum Rohrkrepierer, die über den Nationalfeiertag nun noch stärker unter Druck kommt. Der ANC geht aus dem Machtkampf, den die ERC aus der Demonstration gemacht hat, gestärkt hervor. Das gilt auch, wenn man die politisch stark heruntergesetzten Zahlen der Polizei als Maß nimmt.

Nach deren Angaben sollen es nur 150.000 Teilnehmer gewesen sein. Das sind allerdings auch 50.000 mehr als im Vorjahr.