"Die Unabhängigkeit umsetzen"
Hunderttausende demonstrierten in Katalonien für die Unabhängigkeit von Spanien vor dem Beginn eines "Dialogs" mit Madrid
"Un-, Un-, Unabhängigkeit", schallte der Schlachtruf am vergangenen Samstag immer wieder durch die Straßen der katalanischen Metropole Barcelona. Seit langem gibt es riesige Demonstrationen in Katalonien am 11. September, an dem die Katalanen ihren Nationalfeiertag (Diada) begehen und für ihre Unabhängigkeit von Spanien eintreten.
Obwohl die Unabhängigkeitsbewegung angesichts der Covid-Pandemie zaghaft mobilisiert hatte, sind wieder Hunderttausende Menschen ihrem Aufruf gefolgt. Nach Angaben der Veranstalter haben etwa 400.000 Menschen die Straßen Barcelonas geflutet, während die Polizei die Beteiligung auf unglaubwürdige 108.000 absenkt.
Der Katalanische Nationalkongress (ANC) oder die Kulturorganisation Òmnium Cultural wollten nach dem Covid-Jahr wieder stark auftreten, allerdings sollten Sicherheitsabstände eingehalten werden können. Riesige Zusammenballungen wie bis 2019 sollten vermieden werden, als während der Diada oft mehr als eine Million Menschen über Stunden nur dicht gedrängt stehen konnten.
Die Erwartungen der ANC-Präsidentin Elisenda Paluzie wurden in der Phase der "Neubelebung" aber übertroffen. Der ANC hatte mehr als 100.000 Teilnehmer erwartet, die ab 17 Uhr 14 erneut auf der Straße gehen sollten, um dem Fall Barcelonas 1714 unter die spanische Bourbonenherrschaft zu gedenken und für die Unabhängigkeit einzutreten. Die Bewegung hat mit der wohl bisher größten Demonstration in Europa seit Ausbruch der Covid-Pandemie machtvoll gezeigt, dass mit ihr weiter zu rechnen ist.
Es ging ihr nun vor allem darum, Druck auf die eigenen Parteien zu machen, damit sie sich auf eine gemeinsame Strategie verständigen. Das gilt umso mehr, da nun ein "Dialog" zwischen der katalanischen und der spanischen Regierung beginnen soll. So forderte der Òmnium-Chef Jordi Cuixart, der erst kürzlich nach mehr als drei Jahren aus der Haft freikam, eine "große gemeinsame Strategie", um eine Amnestie und die Unabhängigkeit zu erreichen.
Die spanischen Behörden hatte ihn und andere Anführer der Bewegung nach massiver Kritik und den Forderungen des Europarats "begnadigt". Real wurde nur die Reststrafe ausgesetzt. Der Forderung, die Repression zu stoppen, kamen die spanischen Behörden nicht nach. Mehr als 3.000 weitere Verfahren laufen weiter.
Gespräche mit der spanischen Regierung
Dass in den Gesprächen am runden Tisch etwas herauskommen kann, glauben immer weniger Menschen in Katalonien. Die sollten schon vor eineinhalb Jahren beginnen und sich längst in einer fortgeschrittenen Phase befinden. Die sozialdemokratische Regierung unter Pedro Sánchez spricht auch nur von Dialog, statt von Verhandlungen zur Konfliktlösung. Wie unverbindlich das in Madrid gehandhabt wird, zeigt sich auch daran, dass wenige Tage vor Beginn der Gespräche weder Zeitpunkt noch eine Tagesordnung bekannt sind. Unklar ist auch weiter, ob Sánchez teilnehmen wird.
So twitterte der frühere Regierungschef Quim Torra ein Bild von dem Massenprotest und schrieb: "Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren: Unabhängigkeit.". Die ANC-Präsidentin Paluzie sprach den im Februar gewählten Regierungschef Pere Aragonès auf der Abschlusskundgebung direkt an: "Präsident, setzen sie die Unabhängigkeit um.".
Die spanische Regierung werde nie Zugeständnisse machen, wolle die Gespräche nur nutzen, um die Bewegung durch Spaltung zu schwächen. Sie forderte, den Willen umzusetzen, den 52 Prozent der Bevölkerung auch bei den Wahlen im Februar deutlich ausgedrückt haben.
Aragonès und seine Republikanische Linke (ERC), die Sánchez auf den Präsidentensessel gehievt haben und ihn weiter stützen, erklären aber, allein die Tatsache sei ein "Erfolg" sei, dass es zu den Gesprächen kommt. Aragonès fordert vor dem Dialog "Einheit" vom Koalitionspartner "Gemeinsam für Katalonien" (JxCat) und von der antikapitalistischen CUP, die die Koalitionsregierung stützt. Ansonsten sollte sie eine "Alternative" vorlegen und sie "konkretisieren".
Diese Argumentation ist nach Ansicht von vielen Beobachtern schwach, da es nach eineinhalb Jahren noch immer unklar ist, worüber eigentlich gesprochen werden soll.
Gestärkt wurde die Skepsis gerade durch das einseitige Vorgehen der spanischen Regierung im Streit um die Erweiterung des Flughafens von Barcelona. Die ohnehin schlechten Vorzeichen für den Dialog wurden noch darüber verschlechtert, dass in Madrid gerade eine vereinbarte Investition von 1,7 Milliarden Euro ausgesetzt hat.
Es ist zwar richtig, dass das Projekt innerhalb der katalanischen Regierung umstritten ist, doch das gilt auch für die spanische Regierung. Auch der linke Koalitionspartner "Unidas Podemos" (UP) lehnt es in dieser Form ab, weil es das Naturschutzgebiet "La Ricarda" teilweise zerstören würde. Es sei "nicht vereinbar mit dem Klimanotstand, den wir erleben", erklärte die UP-Ministerin und Vizeministerpräsidentin Yolanda Díaz.
Dass nicht einmal dieser Vorgang mit den Katalanen und der ERC verhandelt wurde, sehen immer mehr Katalanen als Zeichen dafür, dass von Verhandlungen mit Madrid nichts zu erwarten ist. Sogar Aragonès zeigte sich empört, sprach von "Erpressung".
Madrid schreibe vor, wie die Erweiterung laufen soll und wenn ihre Vorstellung abgelehnt werde, würde auch die Investition zurückgezogen. Der katalanische Regierungschef will zwar beide Vorgänge trennen, aber die Position seiner ERC wurde darüber weiter geschwächt. Auch das hat die Demonstration sehr deutlich gemacht.