"Katastrophilie" als letzte Lust der Medien
Droht uns demnächst die Katastrophenunterversorgung?
Seit Aristoteles mündet nicht nur das Leben, sondern jedes gute Drehbuch in der Katastrophe. Ein bekannter deutschsprachiger Verlag formuliert das für sein Suspense-Angebot etwas handgreiflicher: "Mord", "Mehr Morde", "Noch mehr Morde". Für Kriminalromane ist das ein mehr als plausibles Leselustmotiv: "Weil's sich so angenehm lebt mit angesehenem oder angelesenem Mord, ist der Bedarf an Mord nie zu decken." Auch in Gesellschaften, deren Verbreitungsmedien reale Ereignisse spannungstechnisch und erlebnisorientiert als Krimis nachempfinden, ist der Bedarf an Mord außerordentlich hoch. Wer sich nicht an fiktiven Morden ausreichend sättigt, greift seit alters her zu bluttriefenden News, die deswegen noch längst keine Nachrichten sein müssen.
Doch in diesen heißen Tagen zeichnet sich eine medienevolutionäre Krise ab, eine Informationsapokalypse, die in ihrem ganzen Schrecken für unsere zukünftige kriminologische Aufklärungsnotdurft längst nicht auszuloten ist. BILD will grundsätzlich keine Berichte mehr über Selbstmorde bringen! Und das in einer Zeit, in der die Zeitungskrise immer weiter um sich greift. BILD, das Blatt, dem bislang kein Kick entging, das unsere tiefsten, verborgensten, mindestens aber ebenso unsere oberflächlichsten Lüste mit allem Datenmüll belieferte, wenn er denn irgendwie katastrophen- oder lusttauglich, am besten aber beides zugleich ist.
Ab jetzt gibt's BILD-Selbstmorde nur noch, wenn sie die Hamburger Chefredaktion gutheißt. Das soll allein bei besonders spektakulären Selbstentleibungen gelten. Für das Redaktionsstatut wäre also die klassische Überdosis Schlaftabletten kein journalistische Meisterleistungen auslösendes Spektakel mehr, der Flugzeugabsturz in öffentliche Gebäude dagegen politisch korrekt. Und Möllemann toppt selbstverständlich alles, weil der Selbstmord vielleicht doch ein Unfall war oder aber nicht - ad libitum. Wird BILD jetzt selbst zur Schlaftablette? Ist die neu entdeckte Sensibilität der Anfang vom Untergang der BILD-Katastrophe? Die vernichtenden Analysen Günter Wallraffs, der sogar eine Stiftung zur Wahrung der Rechte von Opfern der BILD-Berichterstattung gründete, könnten zum Redaktionsschnee von gestern werden.
Anlässlich der Bonusmeilen-Affäre wurde BILD noch im Sommer letzten Jahres vom Deutschen Presserat gerüffelt, weil man gegen die publizistische Sorgfaltspflicht verstoßen habe, die übrigens nach Auffassung des Bundesgerichtshofs bei dem Redaktionssteckenpferd von BILD - der Verdachtsberichterstattung - in erhöhtem Maße gelte. Doch im März 2003 wurde BILD-Chefredakteur Kai Diekmann der Ehrenpreis des "B'nai B'rith Europa" ("Söhne des Bundes") für die faire Berichterstattung über Israel überreicht und vielleicht zeigt das jetzt Wirkung. Droht BILD seriös zu werden?
Es könnte zur wahren Katastrophe der Katastrophengier werden, wenn die Medien freiwillig in die Ausnüchterungszelle gehen und wir unsere Katastrophen demnächst wieder selbst besorgen müssten. Fallen nach den Selbstmorden die Flutkatastrophen, die Autobahn-Massenkarambolagen, vielleicht noch die tödlich endenden Familiendiskurse einer neuen Aufmerksamkeitsmoderation zum Opfer? Und was ist überhaupt mit dem allgegenwärtige Terrorismus, der schließlich auch Nachahmungstäter gebiert, die es mal mit dem "Großen Satan" aufnehmen wollen, um unser aller Aufmerksamkeit wenigstens für ein paar Monate sicher zu sein? Die BILD-Berichterstattung zu Nine/Eleven war noch erfüllt von apokalyptischen Leitmotiven, die uns dieses Ereignis aus der erregenden Kategorie "Weltuntergang" so höllisch einfühlsam präsentierten. Ohne BILD-"Hystorien" (Elaine Showalter) wäre eine veritable Terroristen-Hexenjagd doch nicht einmal das halbe Vergnügen.
Wie viel Katastrophenabstinenz verkraftet eine Mediengesellschaft eigentlich? Wir würden der Informationen verlustig gehen, die uns täglich versichern, dass wenigstens wir noch leben! Der solideste Beweis der eigenen Existenz in diffusen Zeiten ist noch immer der Tod des Anderen. Wenn wir die Medien ihrer Katastrophen berauben, was bleibt dann von diesem medial geschöpften Katastrophenglobus überhaupt noch übrig? Die Welt ist eine Katastrophe und sie braucht Katastrophen, die sie im Innersten zusammenhalten. Immanuel Velikovsky meinte, dass die kosmischen Katastrophen auf Grund ihres überwältigenden Schreckens aus dem kollektiven Menschheitsgedächtnis verdrängt wurden. Medienkatastrophen wären dann eine Art unbewusster Anamnese, jeder voyeuristisch enthüllte Medientod ein seit unvordenklichen Zeiten verdrängter Meteoritenhagel.
Wer lediglich von Risikogesellschaft spricht, verschweigt jedenfalls die ganze Wahrheit, dass nämlich das eingetretene Risiko, die echte Katastrophe, dieser Einbruch in unsere wohl temperierte Alltäglichkeit der wahre emotionale Fluchtpunkt unseres gesellschaftlichen Inter-esses (Dabeiseins) ist. Auch in atavistischen Politikritualen, im agonalen (!) Sport und schadenfrohen Spiel ist die Katastrophe viel mehr als die Sättigungsbeilage für den erlebnishungrigen Fernseh-Zaunkönig. Das Katastrophenformat ist der Betriebsstoff unserer permanent flüchtenden Aufmerksamkeit, unbeschadet des Wissens, dass die Medien selbst die Katastrophe sind, über die sie berichten. Wir sind doch George Bush II., Tony Blair, Kim Jong Il, Saddam Hussein, Usama bin Ladin, Charles Taylor und unzähligen weißen wie schwarzen Rittern für ihre ungezählten uraufgeführten Dramen heimlich zu tiefstem Dank verpflichtet. Hier werden Katastrophenlust, Panikgier, die Freude am allfälligen Untergang aufs Beste bedient - und dürfen zudem völlig schmerzfrei weggezappt werden.
Was wäre unserer Alltagsexistenz noch an Authentizität abzugewinnen, wenn uns die lustvoll geborgten Fernkatastrophen abhanden kämen? Die Horror-Dosis, die wir inzwischen einwerfen, um unseren fernsehalltäglichen Suchtpegel zu erreichen, ist hoch geworden. Zugleich leben wir jedoch in dieser beunruhigenden Ambivalenz von Katastrophenabwehr und Katastrophenlust. Ist es gefahrvermeidende Fernsehmagie, wenn möglichst viele Attentate und Vernichtungsorgien unseren Monitor aufheizen? Zu viel Glück erregt bekanntlich nach Schillers "Polykrates" den Neid oder Zorn der Götter: "So kann ich hier nicht ferner hausen, Mein Freund kannst du nicht weiter sein. Die Götter wollen dein Verderben; Fort eil ich, nicht mit dir zu sterben.".
Doch alle diese Fernkatastrophen sind längst selbst katastrophenanfällig geworden. Sie bescheren unserer Erfahrung keinen klassischen Wendepunkt, keine echte Auflösung mehr, die uns besser aus der Katastrophe herauskommen ließe, als wir sie betreten haben. Nach Benjamin, Baudrillard und anderen sind es Katastrophen, die vor allem auf sich selbst verweisen, um nach kürzester Halbwertszeit der kollektiven Amnesie, vulgo: Blödigkeit, anheim zu fallen. Denn ob in China ein Sack Reis umfällt oder der Jangtsekiang über die Ufer tritt, ist zwar für unsere "Fernlinge" ein Unterschied, für uns ist es dagegen nur ein folgenloser "Brennpunkt"-Bericht mehr, der uns gerade mal bis zum nächsten Spielfilm trägt.
Nun gut, der BILD-Katastrophenmaschine wird auch ohne spektakuläre Selbstmorde der Stoff nicht ausgehen. Etwa mit jenen "breaking news" über Frau Gsell, die im Knast zu Gott gefunden hat. Und das nach nur 78 Tagen! Da ist es ja fast eine Katastrophe, dass die deutschen Gefängnisse überfüllt sind, echte Sünder keine Chance auf Bekehrung haben und die Kirchen leer stehen! Und schließlich die tröstlichste Katastrophe der Mediengeschichte: BILD-Leser werden nie aussterben, wenn BILD sich treu bleibt. Diese Hoffnung lassen wir uns nicht nehmen.