Kathedrale der Künste
Tate Modern, weltgrößtes Museum für zeitgenössische Kunst, öffnet die Pforten
Am südlichen Ufer der Themse, direkt gegenüber der City, dem Finanzzentrum Londons, eröffnet Queen Elizabeth II heute eine neue Filiale der Tate Gallery, Tate Modern, welche für sich beansprucht, weltgrößtes Museum für zeitgenössische Kunst zu sein.
Die Dimensionen des Museums, das in einer ehemaligen Kraftwerkshalle untergebracht ist, sind fürwahr gigantisch und lassen den Menschen klein und unbedeutend erscheinen. Nach fünf Jahren Planung und Umbauarbeiten, welche 400 Millionen Mark verschlungen haben, präsentiert sich das ehemalige Industriegebäude nun mit den Worten seiner Fans als "cathedral of cool". Ein gigantisches Glasdach lässt die 40 Meter hohe Haupthalle von Licht durchflutet sein. Den Boden der Halle bildet eine über die gesamte Länge von 120 Metern leicht ansteigende Betonrampe. Gigantische Stahlskulpturen der amerikanischen Künstlerin Louise Borgouise, die von Wendeltreppen umgeben sind, sind der zentrale Blickfang in dieser Halle. Daneben erheben sich sechs Stockwerke mit zum Teil Raumhöhen von 10 Metern voller Ausstellungsstücke. Drei Viertel der Bestände an zeitgenössischer Kunst der Tate Gallery werden hier zu bewundern sein, die bisher größtenteils in Archiven lagerten.
Kritik an dem gigantomanischem Kunsttempel, der von Kunst-Gemeinplätzen wie Monets Wasserlilien und Dali-Objekten strotzen wird, wurde eigentlich nicht laut, mit Ausnahme des bekannten Arguments, dass man für das Geld auch Krankenhäuser hätte bauen können. Bildende Kunst, in Grobritannien lange vernachlässigt, ist nun ein entscheidender Faktor in der kulturellen Identitätsfindung der Nation. Kunst galt in England früher als elitäres Hobby der Reichen und es wurde nicht als notwendig erachtet, diese der Bevölkerung nahezubringen. Arbeiter- und Mittelklasse sollten sich mit Popkultur und erzieherischer Aufklärungskunst begnügen oder die Statuen von Kriegshelden bewundern. Erst in den letzten drei Jahrzehnten änderte sich diese Sichtweise langsam, wozu auch der neidvolle Blick auf erfolgreiche Prestigeprojekte im Ausland - wie etwa das Centre Pompidou in Paris und das Guggenheim Museum in Bilbao - beigetragen haben mag.
Mit den internationalen Erfolgen junger britischer Künstler, den sogenannten YBAs, seit Anfang der 90ziger Jahre erkämpfte sich Kunst langsam auch die Aufmerksamkeit der Massenmedien. Künstler wie Damian Hirst erzielten mit eher fragwürdigen Schockeffekten, die außer New Yorks konservativem Bürgermeister niemanden schockieren, den Effekt, ähnlich wie Popstars, Fussballer und Mitglieder der Königsfamilie permanent in den Klatschspalten der Tagespresse vertreten zu sein. Wurden die YBAs anfangs noch überwiegend angefeindet, so verwandelte sich diese Haltung spätestens mit der Ausstellung "Sensations" 1997/98 in Bewunderung und die Künstler wurden zu Subjekten des Nationalstolzes.
Mit der mittlerweile nicht mehr so bezeichneten aber trotzdem weitergeführten "Cool Britannia"-Vermarktungsstrategie von New Labour für das kreative Großbritannien wurde Kunst immer mehr zu einem zentralem Element der Umerziehung der Bevölkerung in ein Land von Kunstliebhabern, welche gelernt haben, den Connosseur-Blick über abstrakte Gemälde schweifen zu lassen, während sie trockenen Weisswein trinken (und nicht mehr Liebfrauenmilch, wie noch im Zeitalter vor der Ankunft der Kunst). Die Eröffnung von Tate Modern ist vorläufiger Höhepunkt dieser Entwicklung, die niemandem entgehen konnte, da die Print- und Broadcast-Medien monatelang fast täglich Vorbereitungsarbeit geleistet hatten. Der Umstand, dass Tate Modern den kulturellen Orientierungspunkt für eine neue gesellschaftliche Elite bildet, wird am besten dadurch unterstrichen, dass die Hauptfrage, welche die Organisatoren nun noch quält, die ist, ob die Popsängerin Madonna Ciccione der Eröffnung beiwohnen wird oder nicht.
Kaum angesprochen wurde in den Medien jedoch das Problem der "urbanen Erneuerung", welche mit dem Projekt Tate Modern eingeleitet wurde. Das von der Industrieruine zum Kunsttempel pharaonischen Ausmaßes mutierte Gebäude steht an zentraler Stelle im Bezirk Southwark am südlichen Themseufer. Dieses Innenstadt-Viertel ist zwar eines der ältesten Stadtgebiete Londons, litt jedoch in der Nachkriegszeit an einer Mischung aufgegebener Lagerhäuser und einer Vielzahl uralter Eisenbahnbrücken, die das Viertel durchschneiden und außer für Rave-Parties in ihrem katakombenartigem Inneren für moderne Stadtentwicklung wenig zu bieten hatten. Mit dem Beginn der Umbauarbeiten für Tate Modern wurde das Gebiet jedoch plötzlich für Immobilienentwickler interessant. Mieten begannen anzusteigen, Lagerhäuser wurden zu Büros für City-Firmen und in den Katakomben siedelten sich Geschäfte wie der riesige Weinsupermarkt "Vinopolis" an. Die "Ureinwohner" des Gebiets, ärmere Bevölkerungsschichten und Künstler und Musiklabels wie Ninja Tune/Coldcut, mussten dem Druck der Immobilienentwickler weichen. Ein weiteres Opfer des Verdrängungswettkampfes ist das Internet-Labor "Backspace", welches das einzige unabhängige und innovative Zentrum für Netzkunst und -Kultur in London war und sich seit Dezember 1999 erfolglos auf der Suche nach neuen Räumen befindet. Es scheint wohl zu einer der Ironien in einer kapitalistischen Weltmetropole zu zählen, dass der Erfolg der anerkannten zeitgenössischen Kunst die tatsächlich aktiven jungen Künstler zur innerstädtischen Migration zwingt.