"Kauf es doch noch": Primitive Algorithmen
Keine Angst vor Facebook & Co.: "Persuasive technology" ist nicht schlauer als die Werbetreibenden dahinter - und vor allem deren Frauenbild ist ziemlich einfältig
Vorab: Es gibt gute Gründe, sich von "Sozialen Netzwerken" wie Facebook abzumelden. Zum Beispiel das Gefühl, dort zu viel Zeit zu verbringen, zu oft auf billige Provokationen einzugehen oder am Ende doch in einer Echokammer so landen - sei es aus eigener Harmoniesucht, weil wegen irgendwelcher Freundesfreunde mit Liebesentzug gedroht wird, oder sei es durch Algorithmen. Auch vermeintlich "passgenaue" Werbeanzeigen können ein Grund sein, sich dort zu verabschieden. Allerdings nicht, weil die "persuasive technology" dahinter so wahnsinnig raffiniert wäre.
Im Gegenteil: Vieles deutet darauf hin, dass die laut Google Translate "überzeugende" Technologie nicht schlauer ist als die Werbetreibenden, die sich davon erhoffen, unser Verhalten steuern zu können. Ein gutes Stück weit gilt hier vielleicht auch: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. Wer bewusst darüber nachdenkt, sich deswegen abzumelden, ist wahrscheinlich real am wenigsten willenlos ausgeliefert.
Klar: Dass Big-Data-Firmen wie Facebook und Google manipulativ sind, zeigt schon die Übersetzung von "to persuade" mit "überzeugen", denn das englische Verb kann laut seriösen Wörterbüchern und Übersetzungsportalen auch weniger positiv besetzte Bedeutungen wie "überreden" oder "breitschlagen" haben, was im Zusammenhang mit Werbeanzeigen passender wäre. "The Hidden Persuaders", der Titel eines kritischen Sachbuchs zum Thema Werbung aus den 1950er Jahren, wurde auf Deutsch sogar mit "Die geheimen Verführer" übersetzt.
Was sich seither stark verändert hat, sind die technischen Möglichkeiten. Was sich erstaunlich wenig verändert hat, ist das Denken der Werbefuzzis und beispielsweise deren einfältiges Frauenbild. Die Marketing-Professorin Marion Halfmann stellte diesbezüglich im Herbst "Nachholbedarf auf der Marktforschungsseite" fest. Vielleicht wird die Werbung dann irgendwann demnächst raffinierter. Wer sich dann durch die Anzeigen weniger genervt fühlt, aber plötzlich mehr Geld für unnütze Dinge ausgibt, kann über die Sache mit den "Sozialen Netzwerken" ja noch einmal nachdenken.
Bei Facebook jedenfalls werden Frauen bisher vor allem im Frühjahr nach dem Gießkannenprinzip mit Werbung für Diätprodukte bombardiert, weil wir uns ja mutmaßlich alle zu dick finden und abnehmen wollen, sollen oder müssen, bevor die Bikini-Saison anfängt.
Groteske Schlussfolgerungen
Wer darauf nicht reagiert, bekommt früher oder später Werbung für "XXL-Mode" angeboten. Dahinter stecken wohl die berühmten "lernenden Algorithmen". Trotzdem wurden mir auch Kleidungsstücke in meiner tatsächlichen Größe immer wieder angezeigt, wenn ich sie vorher auf der Seite eines Online-Versandhandel angeschaut und dann doch nicht bestellt hatte. Nach dem Motto: "Kauf es doch noch, ist doch wirklich ein schönes Teil - und jetzt auch noch fünf Euro billiger. Na komm schon!" - Ja, das ist nervig, lässt sich aber abschalten.
Alles, was über solche Beispiele hinausgeht, beruht entweder auf Klischees über Geschlecht und Alter wie "Ab 35 interessieren sich alle Frauen für Schönheitschirurgie" - oder auf teilweise grotesken Schlussfolgerungen aus dem tatsächlichen Online-Verhalten. Sich durch entsprechende Werbung belästigt zu fühlen und sich abzumelden, ist natürlich ebenso legitim wie als kritische Nutzerin von Facebook & Co. darüber zu lachen.
Ich habe jedenfalls keine Angst, von Algorithmen zum Kauf von überteuertem Kaffee in kleinen bunten Alu-Kapseln oder zum Kennenlernen von "treuen Polizisten aus meiner Gegend" verleitet zu werden. Beides wurde schon versucht. Letzteres ist zugegebenermaßen schon ein paar Jahre her, aber die Algorithmen scheinen mir seither nicht wesentlich schlauer geworden zu sein.
Mein Interesse an Müllvermeidung wird jedenfalls nur bei Kosmetikprodukten zur Kenntnis genommen, denn die neueste Sorte festes Shampoo wird mir angezeigt. Vermutlich, weil ich danach irgendwann mal aktiv gesucht habe - Kaffee erwähne ich nur oft im Zusammenhang mit bedingter Ansprechbarkeit am frühen Morgen. Die Algorithmen gingen bisher davon aus, dass mir in diesem Punkt sowohl die Müllmenge als auch der Preis egal sei.
Wie es damals zu der Sache mit den "treuen Polizisten" kam, war übrigens leicht zu erraten: Ich hatte in meinem Facebook-Profil keinen Beziehungsstatus angegeben, mich aber als "Tatort"-Fan zu erkennen gegeben. Letzteres zählte für die Algorithmen wohl mehr als alle staats- und polizeikritischen Äußerungen in von mir verfassten Artikeln sowie Facebook-Diskussionsbeiträgen. Als ich auf die Anzeige nicht reagierte, wurden mir etwas breiter aufgestellte Kuppelportale vorgeschlagen. Als ich auch darauf nicht reagierte, dachten die Algorithmen, sie hätten sich in meiner sexuellen Orientierung geirrt: "Gleichklang" hieß das nächste Angebot - eine Partnerbörse, die Lesben und Schwule explizit mit einbezieht.
Klar, wir müssen die Big-Data-Firmen und ihre Algorithmen weiter beobachten - und unser eigenes Verhalten auch, sofern wir nicht manipuliert werden und uns trotzdem nicht bei Facebook & Co. abmelden wollen. Auch dafür kann es aber legitime Gründe geben - zum Beispiel, Kontakte zu halten, wenn eben nicht alle, die diesen Schritt vorerst nicht mitgehen würden, den Nerv haben, noch zusätzliche Messenger auf ihrem Handy zu installieren, somit auf weiteren Kanälen theoretisch erreichbar zu sein und in der Praxis den Überblick zu verlieren.
Nur noch Kontakt zu Menschen zu halten, die sich auf einen der weniger verbreiteten Messenger einigen können, ist vor allem dann keine gute Idee, wenn man nicht in einer Echokammer landen will, die zu klein ist, um aus ihr heraus den Kapitalismus zu überwinden.
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