Keiner weiß mehr
Die Grobstruktur eines Schulsystems ist eine zweitrangige Frage: Mit der OECD-Karte durch die deutsche Bildungswüste
Als Kara Ben Nemsi durch die Wüste ritt, standen ihm nicht nur überlegene Feuerwaffen zur Verfügung. Der "Sohn der Deutschen" war auch ein kognitives Weltwunder, das die Sprachen, Sitten und Gebräuche der besuchten Völker beherrschte, wie er auch ein stupendes Weltwissen im Übrigen besaß, das seine kläglichen Widersacher immer dumm aussehen ließ. Made in Germany! Kara Ben Nemsi war allerdings keine Mammutpflanze der bundesrepublikanischen Lernplantagen, sondern eine literarische Selbstschöpfung im paradoxen Geiste eines völkerversöhnenden Kolonialismus. Die scheinbar unverwüstliche Formel "Wissen ist Macht" verbindet die narzisstischen Bildungsabenteuer Karl Mays mit unseren etwas alltäglicheren Vorstellungen pädagogischer Welterschließung. Doch sollte die Macht nicht länger mit uns sein?
Deutsche Bildungsdiaspora
Denn mit der Bildung stimmt was nicht. Erst kam der Pisa-Schock und jetzt erschüttert der aktuelle OECD-Bericht das kulturelle Selbstverständnis der Nation. Der Bericht präsentiert sich als Mängelliste der deutschen Bildungspolitik. Im Vergleich mit 26 Ländern sind die hiesigen Bildungseinrichtungen unterfinanziert. In Kindergärten und Schulen fehle es an Erziehern und Lehrern. Das sei fatal, weil sich frühe Förderung besonders auszahlt.
Deutschland ist bei den Bildungsausgaben pro Schüler und Student von Platz 10 auf Platz 15 abgerutscht. Trotz der überdurchschnittlichen Unterstützung von Oberschülern und Studenten gibt es hier zu Lande weniger Akademiker als in den Vergleichsländern. Deutschland ist von Frankreich, Japan, Finnland, Belgien und den Niederlanden überholt worden. Deutschland gibt 5,3 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Bildung aus und liegt damit unter dem Länderdurchschnitt von 6,2 Prozent. Nun nehmen zwar Südkorea mit 8,2 Prozent und die USA mit 7,3 Prozent Spitzenpositionen ein, aber rund ein Drittel der dortigen Bildungsbudgets ist privat finanziert. Werden hier Äpfel mit Birnen verglichen? Im Länder-Durchschnitt schließt nahezu jeder dritte Absolvent mit einem Studium ab, während in Deutschland nur jeder fünfte die höheren akademischen Weihen empfängt.
Eine gesellschaftliche Katastrophe überbietet inzwischen die andere. Nicht nur Wirtschaft und Arbeitsmarkt kränkeln vor sich hin, auch das Wissen, die Basis gesellschaftlichen Wohlstands schwindet. Sind unsere Schüler einfach zu blöd oder antiquierte und budgetschwache Bildungsstrukturen zuständig für die Krise? Der Tatbestand ist jedenfalls nicht wirklich neu. Der Bildungspolitiker Georg Picht konstatierte 1964 eine Bildungskatastrophe mit einer Kritik, die der gegenwärtigen fatal ähnelt. Pichts Schulschelte war folgenreich. Das bundesrepublikanische Schulsystem wähnte sich bis zur Pisa-Studie in einer guten Verfassung. Jetzt dagegen ist gar nichts mehr klar.
Selbst die Frage, ob der OECD-Bericht überhaupt aussagekräftig ist, treibt die Geister auseinander. Die Kultusminister der Länder wollen sich jedenfalls bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung über den Bericht beschweren, weil sie die Auslegung der Ergebnisse für grundfalsch halten. Für die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Doris Ahnen, ist die Radikalkritik der OECD unerklärlich. Allerdings verweisen die Kultusminister zur Selbstverteidigung ihres segensreichen, wenngleich eher unstreitig gemächlichen Tuns darauf, dass sie seit Pisa wach wären und die Einführung von Bildungsstandards und die Herabsetzung des Einschulungsalters vereinbart hätten.
Einheitsschule oder Einheitsbrei?
Das will nicht so fundamental klingen, wie andere Kritiker nun handeln wollen. Das unmittelbar nach dem Bericht panisch vor die Öffentlichkeit geworfene Rezept von Rot-Grün sieht eine zehnjährige Einheitsschule vor, die auch der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft angelegen ist. Das originellste Wahlkampfthema hat bereits die schleswig-holsteinische SPD gebucht: "Schule für alle". Das ist ein flächendeckender Wahlkampfslogan im Stil der Siebzigerjahre, als Hilmar Hoffmann in Zeiten satter Budgets "Kultur für alle" fordern konnte. Als gegenwärtige Forderung dagegen erscheint das nicht nur anbiedernd, sondern auch etwas zahnlos, wenn man bedenkt, dass die allgemeine Schulpflicht bisher jedenfalls noch keiner Reform zum Opfer gefallen ist.
Ministerpräsidentin Heide Simonis schwärmt: "Da werden Kinder und Jugendliche vom Babyalter bis 16 Jahre zusammen leben und lernen." Droht solchermaßen wildromantische Bildungspolitik dieser Tage zu einem weiteren Prestigeprojekt der reformoffensiven Koalitionäre zu werden? "Die "Schule für alle" soll effizienter sein als das gegenwärtige Modell, Kinder frühzeitig in mehr und weniger Begabte zu sortieren. Also lagen Dorfschulen mit einem Lehrer und acht gleichzeitig unterrichteten Klassen gar nicht so falsch in jener Zeit, die indes nicht mal behauptete, aus der Not eine Tugend zu machen. Das neue Konzept, das längst noch keines ist, wird dagegen schon jetzt schön geredet: Da das Gleichheitsprinzip unserer Gesellschaft entspricht, wäre nun auch die Auflösung des dreigliedrigen Schulsystems richtig. Für den Thüringer SPD-Chef Christoph Matschie passt folglich das tradierte Schulsystem eher zu einer mittelalterlichen Ständeordnung als zu einer modernen Gesellschaft.
Erstaunlich ist, dass diese historische Parallele erst jetzt in ihrer ganzen bildungspolitischen Brisanz erkannt wird. Vielleicht liegt das daran, dass dieser Vergleich auf ähnlichen Erwägungen beruht, die während der chinesischen Kulturrevolution dafür ursächlich dafür waren, Professoren und Studenten aus der Universität zu jagen und auf den Acker zu schicken. Denn diese Auslegung des Gleichheitsprinzips, die nun die Einheitsschule schmackhaft machen will, war immer schon geeignet, Beliebigkeitsentscheidungen zu begründen. Heißt Gleichbehandlung, schlechte Schüler zu fördern oder alle unabhängig von ihren Fähigkeiten gleich zu behandeln? Ein Bildungssystem wird erst dadurch demokratisch, dass es Schwache und Leistungsstarke gleichermaßen fördert. Es wäre wohl ein grotesker Gleichheitsbegriff, der zwingend in der "klassenlosen" Schule kulminiert, wenn doch Talente nicht nur dem Prinzip "Dumm geboren ist keiner, dumm wird man gemacht" folgen. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Josef Kraus, hält es für wichtig, Schüler früher einzuschulen, Schulklassen zu verkleinern sowie der Überalterung von Lehrern begegnen. Andere wollen wiederum den Kindern nicht ihre Kindheit stehlen und bestimmte Reifungen abwarten, bevor der Ernst der Schule beginnt.
Dachten wir früher, ausdifferenzierte Gesellschaften benötigten auch im Bildungsbereich weitere Differenzierungen, wird zumindest vordergründig nun Entdifferenzierung zum Gebot der Stunde. CDU-Vorsitzende Jürgen Rüttgers sieht das mit einer wahlplakattauglichen Feststellung anders: "Schülerinnen und Schüler brauchen Leistungsanreize statt Gleichmacherei." Auch das ist eine schiefe Alternative und Fleißkärtchen alleine dürften ohnehin kaum reichen, der grassierenden Frustration von Schülern zu begegnen. Wer Leistungsanreize fordert, wo eine klassische Pädagogik zu Recht intrinsische Motivationen bevorzugt, muss vor allem eine konjunkturfreudige Wirtschaft und einen geschäftigen Arbeitsmarkt präsentieren. Und so schließt sich der fatale Zirkel lernfreudiger Schüler und echter Berufsaussichten, der gegenwärtig eine schlingernde Politik beschreibt.
Die flatterhafte Diskussion der Bildungspolitiker sollte leicht entpolarisiert werden können, wenn weder Einheitsschule noch "Stände-Modell" sakrosankt behandelt werden. Denn mit dem bisherigen Modell kann man auch die bereits bestehenden Cross-over-Chancen vernünftig erweitern, um Spätzündern Gelegenheit zum Karrierekick zu geben. Und warum sollte andererseits einer in einer Schule hocken, die seinem frühen Talent so gar nicht gerecht wird? Denn jenseits des drohenden Wahlkampfgetöses kann die alte wie neue Zauberformel doch nur lauten, individueller zur fördern, besser die Potenziale des Nachwuchses erkennen und zur rechten Zeit, die je nach Lern- und Leistungstypen verschieden anzugeben ist, zu heben. Ist das möglich, ist die Grobstruktur eines Schulsystems eine zweitrangige Frage. Doch in Wirklichkeit gibt es zu wenig Geld und außer ein paar Fassadenkorrekturen ist wohl nicht viel zu erwarten.
Die Zukunft der Bildung
Schulreformen sind noch "schicksalsabhängiger" als die übrige Reformpolitik. Denn wer die Entwicklung von Wissen, Ausbildung und Berufsperspektiven hochrechnen will, muss in Dekaden denken. Schneller denn je verändern sich dagegen die Umstände, die nicht nur traditionsgläubigen Schulmeistern den Atem verschlagen könnten, sondern auch für wahre Reformwillige schlicht nicht planbar sind. Ob Schüler und Studenten mit dieser oder jener Reform für das Leben oder die Arbeitslosigkeit lernen, bleibt schwer zu beantworten. Und während die einen bereits von Eliten träumen, menetekeln die anderen von der Bildungsdiaspora BRD.
Was gestern wünschbar war, ist heute schon Makulatur. So entsteht dann etwa eine Akademikerschwemme, die einen bildungspolitischen Erkenntnisstand von gestern anzeigt und - ohne über Los zu gehen - vom Arbeitsamt in das soziale Abseits umgeleitet werden muss. Auch mit der OECD-Studie kommt wieder auf den Tisch, Deutschland brauche mehr Akademiker - so wie gestern die GreenCard angeblich der Weisheit letzter Schluss war, um nicht in das digitale Abseits zu geraten. Wurde vor Zeiten die Akademikerschwemme kritisiert, um das Handwerk und berufsbezogenere Ausbildungen zu stärken, lautet das Menetekel nun wieder, dass es dereinst zu wenig Akademiker gibt.
Doch die Universitäten sind selbst längst Teil der Krise, weil Studien mit oder ohne Studiengebühr zu lange dauern und die Anbindung von Uni und Beruf in Deutschland viel zu fragil bleibt. Höhere Bildung wollen freilich alle besitzen. Cui bono? Dietrich Schwanitz hat diesen zumeist diffusen Wunsch mit seinem Buch "Bildung. Alles, was man wissen muss" bedient, bestsellertauglich bedient. Aber eine Berufsgarantie ist mit solchem Wissen nicht verbunden. Denn man weiß eben nicht, was man in Zukunft wissen muss und die Bildung, von der Herr Schwanitz und auch in erheblichem Maß noch unsere höheren Lehranstalten sprechen, dürfte die schwächste Anwärterin auf eine berufliche Zukunft sein.
Die Zukunft der Bildung wird radikalere Strukturänderungen mit sich bringen, als es die neuesten bildungspolitischen Aufgeregtheiten ahnen lassen. Unis und Schulen werden sich aus der räumlichen Abgeschiedenheit entfernen. Die Zukunft des Lernens gehört trotz der pädagogischen Anfeindungen gegenüber dem Computer dem virtuellen Lernen, dem Lernen unter virtualisierten Bedingungen. Die Pädagogik eines allgegenwärtigen Interface könnte klassische Schulen und Universitäten als antiquierte Einrichtungen ausweisen, die vielleicht morgen ganz verschwinden. Stattdessen dürften kognitive Umräume entstehen, Smart-Umgebungen, die permanentes Lernen so einfach gestalten könnten wie den Sprung in eine Suchmaschine. Das löst zwar längst nicht die Fragen einer Pädagogik unter virtuellen Bedingungen, aber die Individualisierungsgewinne könnten immerhin die viel beschworene Durchlässigkeit des Bildungssystems bei der Förderung individueller Fähigkeiten auf ein völlig anderes Niveau bringen.
Die gegenwärtig erregte Diskussion ist dagegen Ausdruck einer Krise. Nicht nur der Krise der Bildung, sondern der Krise einer Bildungspolitik, die nicht recht weiß, welche Richtung sie nun einschlagen soll. Der vorgeblichen Leistungsschwäche der Schüler korrespondiert die Hilflosigkeit der Bildungspolitik. Die Wüste wächst mal wieder. Und Bildungswüsten tragen die meisten in sich, die nicht mit Kara Ben Nemsi den Weg allen Wissens so privilegiert wie unwahrscheinlich beschreiten können.