Ken No Sen
Eine Kurzgeschichte
Gunter bewunderte von seiner Le-Corbusier-Liege aus den Ziergarten im Nebel als er auf dem Holz vor der Haustür schwere Schritte hörte. Er drehte sich um und sah das Flackern von Blaulicht. Zeitgleich mit dem Klingeln stand er auf, ließ seinen Blick einen Moment auf dem Practical Katana über dem Wandschrank ruhen und ging schließlich in den Flur.
Um 9:11 Uhr öffnete er die Tür und ein großer Mann in makelloser Uniform sah ihn aus Augen an die ebenso grau waren wie seine kurz geschorenen Haare.
"Gunter Glueck?"
"Ja."
"Guten Morgen. Ich bin Polizeioberkommissar Stiller. Wir haben einen Hausdurchsuchungsbefehl."
Er hielt ein Schreiben vor sich.
Gunter nahm das Blatt entgegen, faltete es und steckte es ein.
"Ich verstehe. Wären ihre Kollegen im Mannschaftswagen wohl so freundlich und würden auf der Einfahrt parken? Das hier ist eine Sackgasse und unsere Nachbarn kommen sonst nicht raus."
"Wir werden genau dort stehen bleiben."
"Aha. Bitte, kommen Sie doch rein."
Sie gingen in die Küche. Ein jüngerer, sehr kräftiger Beamter folgte ihnen und blieb im Türrahmen stehen.
Gunter deutete auf einen freien Stuhl.
"Bitte setzen Sie sich doch. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Tee? Oder lieber Kaffee? Ich mache auch einen passablen Mokkachino …"
[Schlüsselwort erkannt. 2 Nachrichten verschickt] erschien eine Mitteilung am Rande von Gunters Sichtfeld.
"Danke und danke nein, Hr. Glueck."
"Ich sehe, Sie haben keine Zeugen mitgebracht, Herr Oberkommissar."
"Nein."
"Dann denke ich, es wird Zeit, dass Sie welche besorgen."
"Falls Sie darauf bestehen. Bis jemand von der Gemeinde hier ist würde es bestimmt eine halbe Stunde dauern. Wir könnten aber natürlich auch bei Ihren Nachbarn klingeln. Falls Sie das wirklich wollen ..."
"Ich bitte darum."
"Na dann. Lause?"
"Ja, Chef?"
"Sehen Sie zu, ob Sie in den umliegenden Häusern zwei Zeugen auftreiben können."
"Wie geht es jetzt weiter, Herr Oberkommissar?"
"Meine Kollegen und ich werden nacheinander alle Räume durchsuchen. Dabei sind wir angewiesen, alle Unterlagen mitzunehmen, die sachdienlich sein könnten. Ebenso jegliche Computer und Datenträger."
"Brauchen Sie mich währenddessen?"
"Wahrscheinlich nicht. Aber bitte verlassen Sie das Grundstück nicht."
Nach einiger Zeit kam der zweite Polizist zurück, bei ihm Doris und Peter, Nachbarn von weiter hinten in der Straße.
"Was ist denn los?", fragte Doris.
"Die Polizei ist hier für eine Hausdurchsuchung. Ich möchte euch beide bitten, meine Zeugen zu sein.", antwortete Gunter.
"Oh."
"Ich bin auf der Terrasse, falls Sie mich doch noch brauchen." Gunter zog sich eine Jacke an und nahm eine Thermoskanne, ein paar Zeitungen und einen Stapel quadratischer bunter Papiere mit als er die Küche verließ.
Am Terrassentisch angekommen nahm er ein Blatt Papier vom Stapel und begann, es mehrfach zu falten. Seine Hände zitterten. Er hörte auf und griff stattdessen zu den Zeitungen.
"GLUECK EIN KINDERSCHÄNDER", titelte die "FOTO" auf Seite 1.
"Jetzt wissen wir, warum Gunter Glueck von der DDD Privatsphäre so wichtig ist: Er braucht sie, um seine Vorliebe für Kinderpornos geheim zu halten. FOTO hat alle Fakten ..."
Im Haus fiel etwas klirrend zu Boden.
"Ist das das Ende der DDD?", schrieb die "baz" auf Seite 1.
"Nach dem Überraschungserfolg vor 4 Jahren schien es, als könne nichts mehr die Direkten Demokraten stoppen: Mit einem Parteiprogramm welches mehr Transparenz und Bürgerbeteiligung verspricht und nicht nur auf einen Bierdeckel passt, sondern auch in ebendieser Form bundesweit verteilt wurde, schienen sie perfekt in die Zeit zu passen. Parteigründer Gunter Glueck weicht angenehm vom Einheitspolitiker ab: Nach einer Karriere in Forschung und Lehre arbeitete er lange in der Privatwirtschaft. In seinem 'Altersruhestand' hatte er dann zunächst mehrere Bücher sowie eine regelmäßige Online-Kolumne geschrieben. Nun erreichten uns Gerüchte, dass Strafermittlungen gegen Glueck laufen ..."
"Herr Glueck?"
"Ja?"
"Wir haben Ihren Tresor gefunden. Würden Sie ihn bitte öffnen?"
"Selbstverständlich." Gunter begleitete die Beamten in sein Arbeitszimmer. Dort schloss er, unter neugierigen Blicken von Peter, den Wandsafe auf. Er war voller Fotoalben. Ein Beamter nahm sie heraus und begann, sie schnell durchzublättern. Gunter sah im Daumenkino seinen Sohn im Zeitraffer wachsen und diverse Urlaube. Bei der Hochzeitsreise nach Hawaii klebten zwei Seiten zusammen. Der Beamte zog sie rasch auseinander und eine zerriss.
Gunter beeilte sich den Raum zu verlassen und ging zurück auf die Terrasse.
"Eine Idee, deren Zeit gekommen ist?", schrieb "Das Fenster" auf Seite 8.
"3 Monate vor der Bundestagswahl beleuchten wir alle Parteien im Detail. Bei manchen ist das einfacher als bei anderen. 'Bei uns gibst Du die Demokratie nicht alle 4 Jahre an der Garderobe ab. Wir fragen Dich. Jedes Mal.', mehr steht nicht im Parteiprogramm der 'Direkten Demokraten Deutschlands'. Das kommt an: Die Wahlbeteiligung erreichte 84%, so viel wie seit 1987 nicht mehr ..."
Gunter legte die Zeitung weg, faltete aus den verschieden gemusterten Papieren geschickt ein Eichhörnchen nach dem anderen und arrangierte sie auf dem Tisch vor sich.
[Anruf: Prof. Dr. A. Rosenberg], blinkte eine Meldung.
Gunter nahm die 360-Grad-Kamera von seinem Schlüsselbund und legte sie vor sich auf den Tisch. Dann machte er eine Faust und streckte den Daumen nach oben.
[Anruf angenommen] erschien kurz in grün bis die Verbindung aufgebaut war.
An einem massiven Schreibtisch aus dunklem Holz saß ein Mann Mitte 60, schlank und mit hoher Stirn, den weißen Henriquatre-Bart akkurat gestutzt. Hinter ihm füllte ein Bücherregal das komplette restliche Sichtfeld.
"Professor Rosenberg. Ich hatte mich schon gefragt, wann wir uns einmal unterhalten."
"Ich möchte Ihnen in dieser schweren Stunde meinen Respekt aussprechen: Wir haben beide die vermeintlichen Volksparteien rechts überholt ..."
"Einer im einfachen und der Andere im doppelten Wortsinn."
"... Des Weiteren will ich Sie trösten: Wären Sie nicht heute persönlich gescheitert dann später mit Ihren Ideen: Dem Wähler die Möglichkeit zu geben, für einzelne Themen entweder selbst abzustimmen oder temporär zu delegieren … das ist viel zu kompliziert! Was man heute auch von ihrer Quelle halten mag, die Worte bleiben wahr:
'Die Aufnahmefähigkeit der großen Masse ist nur sehr beschränkt, das Verständnis klein, dafür jedoch die Vergesslichkeit groß.'"
Rosenberg lächelte breit.
"Hmm, ich finde mich ja woanders wieder: 'Ich kenne keinen sicheren Treuhänder der ultimativen Macht einer Gesellschaft außer dem Volk selbst. Und wenn wir es nicht für aufgeklärt genug halten, um seine Kontrolle besonnen auszuüben, dann ist die Lösung nicht, sie ihm zu entziehen, sondern seine Besonnenheit durch Bildung sicherzustellen.'
In Ihrer 'Alternative' sehe ich keine."
"Ein kluger Mann, gewiss. Aber weise? Die Bürger schätzen Bequemlichkeit und Sicherheit höher als alles andere. Außerdem kannte er unsere Zeit nicht: Sowohl für die Wettbewerbsfähigkeit als auch zur Rettung des Planeten bedarf es Kollektivismus."
"Und Ihre Hetzjagden auf Arbeitslose sollen wohl Gemeinschaftsgefühl erzeugen?"
"Jeder Zeitpunkt hat ein passendes Feindbild. Wichtig ist allein, dass es immer eines gibt. Und eine starke Hand, welche es kanalisiert."
Rosenberg sah auf den Tisch und sagte dann: "Wussten Sie, dass Origami in der Edo-Periode entstand? Das waren 10 Generationen goldener Frieden."
"Ich habe ja die ganze Zeit, während Sie sprachen an, ein anderes Reich gedacht. Das war mal für 1000 Jahre geplant, hielt in Wirklichkeit aber deutlich kürzer."
Rosenberg schüttelte leicht den Kopf.
"Ich wünsche Ihnen ein ruhiges Rest-Leben. Grüßen Sie Herrn Stiller."
[Anruf beendet. Dauer: 19:32]
Gunter legte den Kopf in den Nacken und sah eine ganze Weile in den mittlerweile klaren Himmel.
"Hallo Herr Glueck." Gunter drehte sich um und sah einen stämmigen Mann Anfang 50 mit Dreitagebart in Jeans und T-Shirt.
"Ah, Herr von Meitner. Wie schön, dass Sie es geschafft haben!". Gunter stand auf und sie schüttelten die Hände.
"Eine Nachricht mit dem Angebot für ein exklusives Interview live während einer Hausdurchsuchung erreicht einen nicht alle Tage. Wenn ich den Absender nicht kennen würde, hätte ich das wohl für einen Hoax gehalten ..."
"Darf ich Ihnen etwas anbieten? Essen? Trinken?"
"Danke nein. Sie haben mich nicht eingeladen, damit ich angenehme Fragen stelle, oder?"
"Ich lese 'Bebes Blog' regelmäßig und freue mich auf ALLE Fragen." Gunter lächelte.
"Zunächst etwas, dass mich schon länger interessiert: Sie haben mehrfach betont, dass Sie nichts von Auslandseinsätzen der europäischen Streitkräfte halten. Aktuell ist eine internationale Mission in Venezuela absehbar. Nehmen wir an, Ihre Wähler stimmen mit knapper Mehrheit dafür. Der Verfassung nach sind Abgeordnete aber ausschließlich dem eigenen Gewissen verpflichtet. Wie würden Sie abstimmen?"
"Das eine ist meine private Meinung, etwas auf das jeder Bürger ein Recht hat. Mein Verständnis des Wortes 'Demokratie' sorgt aber dafür, dass ich in jedem Fall so abstimme wie die Mehrheit der Wähler über unsere Plattform."
"Das ist natürlich leicht gesagt. Bei den meisten Entscheidungen im Bundestag ist heute nicht ersichtlich, welcher Abgeordnete wie gestimmt hat ..."
"... Weshalb wir schon heute jedes Mal auf eine namentliche Abstimmung drängen. Und ich bin zuversichtlich, dass wir bald genug Sitze haben, damit das nicht länger nur ein Wunsch bleibt. 'Gläserner Staat statt gläsernen Bürgern'‚ das kann ich scheinbar gar nicht oft genug sagen."
"Was aber wieder ‘nur’ Ihre Privatmeinung ist. Im Parteiprogramm steht der Satz jedenfalls nicht. Denken Sie, Ihre Meinung hat mehr Gewicht als die anderer?"
"Sicher nicht. Sie wird aber stärker wahrgenommen, ebenso wie die von Schauspielern und ehemaligen Profi-Sportlern."
"Die haben aber nicht das an Sie delegierte Stimmrecht von Hunderttausenden bei Themen von Bildung bis Bundeshaushalt …"
"Das ist sicherlich eine große Macht, die aber bei uns innerhalb einer Minute endet sobald das zugrunde liegende Vertrauen fehlt."
"Bei der unkonventionellen Verteilung Ihrer Parteimittel proportional zu den delegierten Themen-Stimmen werden Sie und einige wenige Parteimitglieder recht reich ..."
"Reich war ich vorher schon: Reich an Zeit, Freunden, Ideen und Gesundheit. Und mein Lebensabend ist auch ohne diese Einnahmen bereits finanziert ... weshalb sie in meinem Fall vollständig als Parteispenden in den Pool zurückgehen."
Von Meitner schaute lange auf die Schar von Papiernagern.
"Wunderbare Tiere: Sie arbeiten in winzigen Schritten stetig an der Zukunft.", sagte Gunter.
"Machen wir weiter mit dem naheliegenden: Warum ist gerade die Polizei hier?"
"Den Durchsuchungsbefehl habe ich noch nicht gelesen. Aber ich nehme an, es wird nach Beweisen für Terrorismus und/oder Kinderpornographie gesucht. Die 'FOTO' wettet auf letzteres."
"Krass. Und? Sind Sie Terrorist oder pädophil, Herr Glueck?"
"Weder noch."
"Diese Fälle können sich über Jahre hinziehen. Die Beamten der digitalen Spurensicherung haben alle Hände voll zu tun, soweit ich weiß. Das Ermittlungsergebnis wird also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr vor den Wahlen veröffentlicht werden."
"Das ist mir bewusst."
"Glauben Sie, die Unschuldsvermutung rettet Sie? Oder Ihre Partei?"
"Nein. Und deswegen habe ich Sie eingeladen."
"Ich denke nicht, dass ich, oder sonst jemand, Ihnen noch helfen kann."
"Wir werden sehen. Fällt Ihnen an meiner Brille etwas auf?"
"Ich habe schon schönere gesehen."
"Das mag sein, aber diese hat andere Qualitäten. Freunde aus meiner Zeit bei der HAL haben sie mir geschenkt."
"Gut für Sie. Aber was hat das mit der Sache zu tun?"
"Was wäre, wenn ich zweifelsfrei meine Unschuld beweisen könnte? Noch vor der Wahl."
"Bei diesen Geschichten bleiben immer Zweifel. Das wissen Sie genauso gut wie ich."
"Üblicherweise, ja. Nun bin ich ja Mathematiker, wie Sie vielleicht wissen. Und wir nehmen die Dinge sehr genau."
Gunter lächelte erneut.
Eine Zeit lang saßen sie schweigend nebeneinander, den Blick auf die mittlerweile von der Abendsonne beleuchteten Bäume des gegenüberliegenden Hügels gerichtet.
"Hmm. Zweifelsfrei und vor der Wahl? Dann bliebe von dem ganzen Theater wahrscheinlich nur eine Menge kostenloser Publicity ..."
"Exakt das würde ich auch erwarten."
"Das ist aber alles immer noch reine Theorie. So etwas lässt sich einfach nicht beweisen."
"Sind Ihnen beim Weg durchs Haus die Bodycams der Polizisten aufgefallen?"
"Nicht aufgefallen, nein. Aber ich weiß natürlich, dass sie mittlerweile bundesweit Pflicht sind."
"Nun, meine Brille ist ein weiterentwickelter Prototyp der, neben den üblichen Funktionen, ein deutlich umfangreicheres Lifetracking ermöglicht. Sie zeichnet alles auf was ich sehe und höre. Lückenlos. Fälschungssicher und redundant archiviert. Selbst wenn ich schlafe drehe ich sie auf dem Nachttisch in meine Richtung. Seit der Parteigründung."
Von Breitner schluckte.
"Das ist ... faszinierend. Das sind mehrere Jahre Video."
"In 4K und mit Stereoton. Nachts wird es wohl etwas langweilig sein. Obwohl meine Frau natürlich behauptet, ich würde manchmal sehr laut schnarchen …"
"Damit könnten Sie tatsächlich Ihre Unschuld beweisen. Aber wer soll diese Menge Material zuverlässig so schnell sichten?"
"Hier, das geht morgen auf allen Kanälen raus. Ich wollte, dass Sie und Ihre Leser es als erste erfahren."
Gunter holte aus dem Stapel bunter Papiere ein einzelnes weißes heraus und schob es über den Tisch.
"G-Prize - 1 Million Euro zu gewinnen
Auf unserem MyTube-Kanal findet sich das komplette Leben unseres Gründers Gunter Glueck der letzten Jahre. Wer als erster darin Beweise für Kinderpornographie oder Terrorismus findet, bekommt 1 Million Euro.
An alle Journalisten, Detektive und Buttenplag-Veteranen: Wir wünschen gute Jagd!
PS: Als Bonuspreis gewinnen die 3 lustigsten 10s-Ausschnitte, die mit dem Hashtag "#kanzlerglueck" auf Trigger landen, jeweils 10.000 Euro"
"Eine letzte Frage habe ich noch: Woher, glauben Sie, kommen diese Anschuldigungen?"
Gunter grinste und streckte ihm im goldenen Licht des Sonnenuntergangs die Hand entgegen.
"Vielen Dank, dass Sie gekommen sind! Ich wünsche Ihnen eine angenehme Rückfahrt."