Kippt das Mordurteil gegen Zschäpe?
Drei Koryphäen der Rechtswissenschaft kritisieren das Oberlandesgericht München für sein Urteil im NSU-Prozess scharf. Statt Beweisen hätten die Richter mit "einer Art Wahrscheinlichkeitsvermutung" gearbeitet. Der BGH berät derzeit über die Revision
Sollte der Aufwand von 438 Verhandlungstagen, hunderten Zeugenvernehmungen, annähernd zwei Jahrzehnte währenden Ermittlungen und einer deutlich sechsstelligen Anzahl von Aktenseiten am Ende vergebens gewesen sein? Lebenslange Haft für Beate Zschäpe für die Mittäterschaft an den zehn Morden ihrer beiden rechtsextremen Terrorkameraden Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt - so lautete das Urteil im NSU-Prozess. Es ist allerdings noch nicht rechtskräftig. Und jetzt haben drei Berliner Juristen teils fundamentale Kritik an der Entscheidung und am Münchner Oberlandesgericht geübt.
Dessen Staatsschutzsenat habe bei der Urteilsfindung die Beweise nicht vollständig gewürdigt. Das Urteil gegen Zschäpe beruhe stattdessen auf "einer Art Wahrscheinlichkeitsvermutung", schreiben die drei Juristen Kirstin Drenkhahn, Carsten Momsen und Laura Farina Diederichs in "Organisationsdelikte und Beteiligungsstrafbarkeit." Drenkhahn und Momsen gelten als Schwergewichte unter Deutschlands Strafrechtlern. Sie lehren Strafrecht an der Freien Universität Berlin. Diederichs ist dort Doktorandin. Die drei Juristen veröffentlichten ihre Kritik in der renommierten Neuen Juristischen Wochenschrift (NJW) 36/2020.
Das Problem beschreiben sie so: "Zschäpe wurde als Mittäterin verurteilt, obwohl sie selbst nie an einem der Tatorte anwesend war." Mittäterschaft gebe es gesetzlich und in der höchstrichterlichen Rechtsprechung aber nur dann, wenn der Verurteilte konkret an den einzelnen Taten beteiligt sei. Zschäpe hätte also bei den Morden des NSU dabei sein oder auf andere Weise an jedem einzelnen Mord mitwirken müssen.
Hat sie aber auch nach Feststellung der Münchner Richter nicht. Sie leiteten "Zschäpes bestimmenden Einfluss vor allem über die Konzeption der Taten als Tatserie her", analysieren die drei Berliner Juristen. Der Zusammenschluss von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt zum "Nationalsozialistischen Untergrund" begründe, dass Zschäpe "gleichberechtigt bei der Auswertung der Ausspähunterlagen mitwirkte".
Die Mittäterschaft und damit die Verurteilung als unmittelbare Mörderin leite sich "vor allem aus der gemeinsamen Planung und arbeitsteiligen Durchführung ab". Hier aber begehe das Münchner Gericht einen fatalen Fehler. Denn die Morde an acht türkisch- und einem griechischstämmigen Gewerbetreibenden und einer Polizistin seien erst nach der Planung und damit erst nach dem Zschäpe vorgeworfenen Tatbeitrag verübt worden.
Was ein wenig wie juristische Haarspalterei klingen mag, trifft tatsächlich ein zentrales Problem des NSU-Urteils. Schon während des Prozesses hatte das Gericht angedeutet, dass es Zschäpe für Mittäterschaft an den Morden verurteilen wolle und nicht wegen der milder bestraften Beihilfe. Zschäpes Verteidiger haben darauf schon früh reagiert und allesamt in ihren Plädoyers eine Mittäterschaft für ausgeschlossen erklärt. Entsprechend haben sie nach dem Urteil auch ihre Revisionen beim Bundesgerichtshof begründet.
Die drei Berliner Juristen ziehen zudem einen Vergleich zu den Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in einem anderen Terrorkomplex, nämlich der Ermordung des früheren Generalbundesanwalts Siegfried Buback im April 1977 und der Rolle der linksextremen Terroristin Verena Becker bei dieser Tat. Becker habe zwar "großes Tatinteresse" gezeigt, sie habe auch dazu gestanden, "den demokratischen Rechtsstaat und seine Repräsentanten zu bekämpfen". Aber sie sei eben "an der eigentlichen Tatausführung nicht beteiligt" gewesen.
Der Bundesgerichtshof habe darum in einer Haftentscheidung festgestellt, dass es auch "im Bereich terroristischer Kriminalität" keinen Grund dafür gebe, von den "allgemeinen Maßstäben für die Begründung der Mittäterschaft" abzuweichen. Tatsächlich wurde Becker am Ende wegen "psychischer Beihilfe" zu vier Jahren Haft verurteilt und nicht wegen Mittäterschaft an einem Mord zu lebenslänglich.
In ihrer Kritik gehen die drei Berliner Juristen auch der Frage nach, was das OLG München bewogen haben könnte, im Fall Zschäpe die Definition der Mittäterschaft über die bisher in Gesetz und Rechtsprechung üblichen Grenzen auszuweiten.
Der NSU-Prozess habe große öffentliche Aufmerksamkeit erfahren, schreiben sie. Teilweise sei der Eindruck entstanden, "die Öffentlichkeit erwarte von dem Verfahren Wiedergutmachung und lückenlose Aufklärung". Das sei "angesichts der Grausamkeit der Taten und der bis heute nicht aufgeklärten Verstrickung staatlicher Behörden nachvollziehbar".
Das Gericht habe darum "möglicherweise" Zschäpe "als Hauptangeklagte die volle Verantwortung zuschreiben" und so "jedenfalls ein wenig eine befriedende Wirkung" erzeugen wollen.
Damit freilich - und jetzt wird die Kritik grundsätzlich und massiv - unternähmen die Münchner Richter "einen Schritt in die Vergangenheit", und zwar in Zeiten noch vor dem Erlass des ersten Reichsstrafgesetzbuches im Jahr 1871, "zurück zum Komplott" im mittelalterlichen Strafrecht von Kaiser Karl V. aus dem Jahr 1532 oder zum Vorwurf der Konspiration im US-Strafrecht. Beides stehe freilich "in scharfem Gegensatz zum Beteiligungssystem" des Strafgesetzbuches.