Klassen- und Identitätspolitik – nicht zwangsläufig ein Widerspruch
Böhmermann sorgt mit Attacken gegen "Terfs" für Gesprächsstoff – Identitätspolitik sorgt mittlerweile in allen Milieus für Streit, besonders unter Linken. Ein neuer Sammelband trägt ausnahmsweise Konstruktives zur Debatte bei.
Wieder einmal gibt es Streit im linksliberalen Milieu und wieder geht es um die Identitätspolitik. Da werfen Till Randolf Amelung und Holger Marcks in der Jungle World Jan Böhmermann Wissenschaftsfeindlichkeit und die Verbreitung von Fake-News vor. Stein des Anstoßes ist Böhmermanns "ZDF-Magazin Royale" vom 2. Dezember, wo dieser zum Rundumschlag gegen Leute ausholt hatte, die Forderungen und Aktivismus von Transpersonen kritisieren.
Dabei setzt Böhmermann die Staatsfeministin Alice Schwarzer fast mit AfD-Politikerinnen gleich und beschuldigt am Ende auch noch Putin, die Kampagne mit voranzutreiben. Während Böhmermann in seiner Abrechnung mit den Terfs, so das Szenewort für transfeindliche Feministinnen, die nötige Differenzierung fehlt, so bleiben auch beiden Kritiker Amelung und Marks mit ihrer pauschalen Verteidigung der von Böhmermann Gescholtenen an der Oberfläche.
Hätten sie weiter recherchiert, wäre ihnen aufgefallen, dass mit Schwarzer nicht pauschal Feministinnen angegriffen werden. Vielmehr ist es Schwarzer selbst, die seit Jahren Feministinnen, die nicht auf ihrer Linie sind, mit ihrem Alleinvertretungsanspruch exkommuniziert, so wie es umgekehrt jetzt wohl auch manche Trans-Aktivist:innen praktizieren.
Interessant ist auch, dass sowohl Böhmermann als auch seine Kritiker in der Jungle World große Freunde der liberalen Gesellschaft sind, die bedroht sei und dass Putin und seine "Versteher" da mitmischen, dürfte wohl zwischen ihnen auch unstrittig sein.
Diese Auseinandersetzung soll hier nur ein Beispiel für den alltäglichen Streit um die Identitätspolitik sein. Um Argumente geht es selten, vielmehr wird der jeweils gegnerischen Seite schnell irgendeine Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit oder gar Faschismus vorgeworfen.
Kritisches zur linken Identitätspolitik
Erhellendes dazu hat der Publizist Gerhard Hanloser herausgegebenen Sammelband "Identität & Politik" lesen, der kürzlich im Mandelbaum-Verlag erschienen ist. Zehn Autorinnen und Autoren beschäftigten sich mit sehr unterschiedlichen Aspekten der Identitätsdebatte. Die Aktivistin Anne Seeck wählt einen subjektiven Zugang: "Ich schreibe aus einer marginalisierten Perspektive, in der eine Ost-West-Migration und Einkommensarmut eine Rolle spielen. In einer Krise fragte ich mich. Wer bin ich?"
So beschreibt Seeck ihren biographischen Zugang. Sie beschreibt, wie sie als DDR-Oppositionelle an ihrer Identität zu zweifeln begann, als sie von ihren Mistreitern kritisiert wurde, weil sie einen Ausreiseantrag stellte. Sie beschreibt, wie sie sich in verschiedenen politischen Zusammenhängen der Linken immer wieder mit der Frage ihrer Identität beschäftigte.
"Ich habe die Normalität überschritten, die existierenden Normen und Werte in zwei Gesellschaftssystemen. Heute setzt mir die neoliberale Politik Schranken für eine sogenannte gelingende Identität. Die Identität ist ein lebenslanger Prozess und ein Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse", verweist Seeck am Schluss ihres Beitrags auf den materialistischen Kern, der in der aktuellen Identitätsdebatte manchmal etwas zu kurz kommt.
Die Beiträge im Sammelband beschäftigten sich mit Aspekten der Identitätsdebatte in verschiedenen Ländern. So befasst sich Moshe Zuckermann mit der Identitätsbildung arabischer Jüdinnen und Juden in Israel, die sich über Jahrzehnte von den aus Europa Eingewanderten benachteiligt sahen.
Zuckermann beschreibt, wie genau daraufhin auch ein Schwenk ins rechte Lager passierte. Die Zugewinne der israelischen Ultrarechten kommen auch aus diesen Kreisen. Bernhard Schmid wiederum beschäftigt sich mit der Debatte über Islamo-Gauchismus, die angebliche Kooperation von Linken und Islamisten, die über Jahre in Frankreich geführt wurde.
Schmid bestreitet zwar, dass es diesen Islamo-Gauchismus in Form einer Kooperation gibt, benennt aber auch Fehler linker Milieus, die sich nicht deutlich genug vom Islamismus abgrenzen. Schmid gibt zudem Einblick in die Debatten einer kurzlebigen Indigenen-Partei in Frankreich, die Ethnizität zum Hauptwiderspruch machen musste und Klassenpolitik als linke Agenda, die man nicht annehmen wolle, ablehnte.
Janette Otterstein geht in ihrem informativen Beitrag auf einen der Ursprungstexte der linken Identitätspolitik ein, das Combahee-River-Collective-Statement. Der 1977 von schwarzen Feministinnen mit akademischem Hintergrund verfasste Text habe weder Bündnisse mit anderen grundlinken Gruppen noch einen positiven Bezug zum Klassenkampf ausgeschlossen, erklärt Otterstein sowohl anhand des Textes als auch anhand aktueller Erklärungen einer der Mitverfasserinnen.
Hier könnte man die These zuspitzen, dass erst mit dem Abschwung der Linken die Identitätspolitik ihren Mittelschichtcharakter bekommen hat. Die Autorinnen des Combahee-River-Collective-Statements waren hingegen in einer Bewegung aktiv, die eine sozialistische Gesellschaft aufbauen wollte – und gnau dort intervenierten sie mit ihrem Statement.
Die heutigen Auseinandersetzungen hingegen haben diesen systemüberwindenden Charakter nicht mehr. Da bliebt dann nur noch die Verteidigung der "offenen Demokratie", die immer wieder gerne herangezogen wird, obwohl doch die Identitätsdebatten zeigen, wie begrenzt diese angebliche Offenheit ist.
Ziel kann nicht die deutsche Flagge mit buntem Schmetterling sein
Christoph Jünke liefert in seinem ersten Beitrag mit einem Streifzug durch die Geschichte identitätspolitischer Debatten schwere Kost. Dabei geht er dankenswerterweise auch auf Diskussionen ein, die bereits seit den 1990er-Jahren geführt wurden, damals noch unter dem Label Political Correctness versus liberale Demokratie.
Allerdings gab es gerade zu dieser Zeit auch in der linken Szene oft sehr heftige Auseinandersetzungen um Themen, die wir heute als identitätspolitisch bezeichnen würden. Dabei wurden auch schon mal Veranstaltungen wie die des Satirikers Wiglaf Droste oder der Publizistin Katharina Rutschky blockiert. Letztere hatte mit ihrem Buch "Missbrauch des Missbrauchs" für einen angeblich differenzierten Blick auf die Debatte um sexuellen Missbrauch plädiert und war dafür von feministischer Seite scharf kritisiert worden.
Man könnte hier einen der Ausgangspunkte einer Debatte benennen, die bis heute nicht an Spaltungspotential eingebüßt hat.
Mehr Kooperation statt Spaltung
Dabei macht Jünke immer wieder klar, dass er diese Polarisierung ablehnt. Nicht eine "bundesdeutsche Nationalfahne mit buntem Schmetterling" könne das Ziel sein. Damit hat der die liberale Identitätspolitik gut auf den Punkt gebracht. Seine Alternative benennt Jünke als emanzipatorischen Sozialismus, der ohne einen radikalen Demokratismus nicht auskommen kann.
"Und doch gibt erst der sozialistische, also antikapitalistisch-gemeinwirtschaftliche, solidarische Gesellschaftsbruch diesem radikalen Demokratismus seine historische Realisierungschance", argumentiert Jünke für eine Klassenpolitik, die den Kampf gegen Diskriminierung nach ethnischer Herkunft oder Geschlecht nicht ausspart.
In dem Band hätte vielleicht noch ein Beitrag gefehlt, der aufzeigt, wie ein solches Zusammenwirken in der Praxis funktioniert hat. Dabei sei an die Unterstützung des Streiks britischer Bergarbeiter durch eine Initiative von Schwulen und Lesben Mitte der 1980er-Jahre erinnert, die in dem Film "Pride" eindrucksvoll dargestellt wurde. Auch nachdem die Bergarbeiter ihren Streik verloren hatten, engagierten sie sich weiter für die Rechte sexueller Minderheiten und beteiligten sich an deren Protesten.