Kleider machen Mörder
Seite 2: Der Offizier und die Westentaschen-Nazis unserer Tage
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Mit der Figur des Hochstapler-Offiziers dekonstruiert "Der Hauptmann" zugleich auch die Figur des Offiziers, die Idee seiner "Ehre", die Idee des Kommandierens - "Offizier", das ist hier nur eine Form, nur Uni-Form, nur Hochstapelei eben. Mit dem Sujet des Hochstaplers greift Schwentke nicht nur eine Lieblingsfigur des NS-Kinos auf, sondern verrät uns etwas über seinen Gegenstand selbst - denn auch der Nationalsozialismus selbst war eine einzige Hochstapelei, so wie noch die Westentaschen-Nazis unserer Tage von AfD-Parteimitgliedern bis zur Visegrad-Gruppe nur eine Bande von politischen Hochstaplern sind.
Die Handlung beruht auf einer wahren Geschichte aus dem Emsland: Anfang April 1945 wurde der 19-jährige Gefreite Willi Herold, gelernter Schornsteinfeger, von seiner Einheit getrennt. Bei Bad Bentheim fand er eine Offizierskiste mit einer Hauptmanns-Uniform, gab sich fortan als Offizier aus und sammelte ein Dutzend Soldaten um sich und kam am 11. April zum Strafgefangenenlager Aschendorfermoor bei Papenburg, wo er ein Schreckensregiment errichtete.
Später setzte er sich vor der vorrückenden Front ab und veranstaltete in Ostfriesland Schauprozesse und Hinrichtungen. Die Täuschung flog noch vor Kriegsende auf, ein deutsches Militärgericht ließ Herold jedoch laufen. Erst im August 1946 begann in Oldenburg der Prozess gegen Herold und 13 weitere Angeklagte. Sie wurden für die Ermordung von 125 Menschen schuldig gesprochen.
Herold und sechs Mitangeklagte wurden zum Tod verurteilt, und im November 1946 hingerichtet. Herold ging als "Der Henker vom Emsland" in die Geschichte dieser Tage ein. 1996 drehten Paul Meyer und Rudolf Kersting ein TV-Doku über die Vorgänge: "Der Hauptmann von Muffrika" erhielt das Prädikat: "besonders wertvoll".
Auch im Film führt der Weg von Herolds Trupp (Milan Peschel und Frederick Lau spielen einfache Soldaten, Waldemar Kobus und Alexander Fehling sind als Offiziere zu sehen) dann zunächst in ein Lager, wo er Gefangene (Samuel Finzi, Wolfram Koch) demütigt und mordet, und weiter in eine Kleinstadt, wo er ein weiteres Schreckensregime errichtet, und sich ein letzter, überdrehter (und tatsächlich karnevalesker) Tanz auf dem Vulkan ereignet.
Vor dem Ende gibt es nur zwei kurze Brüche im Fluss des Grauens, zwei erratische Szenen: Die kurze Farb-Aufnahme des realen Ortes, wo früher das Lager stand. Und eine Waldlichtung voller Skelette, über die Herold geht.
"Der Hauptmann" ist ein überaus gelungener, starker Film, ein Film der dem Bösen und dem Exzess des Nationalsozialismus direkt ins Auge blickt. Dieser Film steht in einer Reihe mit den großen Spielfilm-Verarbeitungen des Faschismus, von Visconti, Pasolini, Liliana Cavani, und Lina Wertmüller.
Eine Studie über Terror und Exzess, über die Abgründe alles Menschlichen, aber auch - gelegentlich - über Menschlichkeit am Abgrund. Wie schon in seinen früheren Kinowerken und Fernseharbeiten erzählt Robert Schwentke von einer Initiationsreise, diesmal einer tiefschwarzen: Ein junges unbeschriebenes Blatt trifft auf eine extrem kalte, zerfallende Welt. Auf der Reise entdeckt er sich selbst und wird zu einem anderen Mensch.
Das gibt's nur einmal, das kommt nie wieder, dass Triebe sich derart entfesseln. So hofft man - aber sind wir heute noch sicher? Mit den letzten Szenen von "Der Hauptmann", einer Scharade, die im Gegenwartsdeutschland spielt, zeigt Schwentke, dass uns gar nicht so viel trennt von den rassistischen, gewaltbereiten, machtgeilen Figuren seines Film.
Da fährt der Regisseur mit seinen Schauspielern in voller Nazi-Montur durch eine Fußgängerzone von heute, und ohne jede Genehmigung führen sie mit Waffen "Passkontrollen" durch. Eine gespenstische Situation, zu sehen, wie da Volksfestatmosphäre aufkommt beim Drangsalieren von Passanten. Sie sind wieder da.