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Klima vs. Kapitalismus: Braucht die Weltrettung mehr als Sonne und Wind?

Plakat mit der Aufschrift: "Systemwandel statt Klimawandel". People's Climate March in New York City, 2014. Bild: Joe Brusky / CC BY-NC 2.0

Die Wirtschaft muss schrumpfen, der Kapitalismus enden, um den Klimakollaps zu verhindern. Grünes Wachstum ist eine Illusion, sagen einige Umweltschützer. Sind Energiewende und Green New Deal tatsächlich zum Scheitern verurteilt? (Teil 2)

Hier geht es zu Teil 1 der Analyse [1]: "Energiewende für Fortgeschrittene: Ökoenergie ist nicht knapp, teuer und schmutzig".

Spätestens seit dem Club of Rome Bericht "Limits to Growth" [2] gibt es eine Diskussion in Umweltbewegungen, ob eine wachsende Ökonomie überhaupt vereinbar ist mit den natürlichen Grenzen der Erde [3]. Unstrittig ist, dass es langfristig auf einem endlichen Planeten kein endloses Wachstum geben kann. Schwieriger wird es bei konkreten Fragen im Hier und Jetzt.

Lässt sich zum Beispiel die Klimakrise lösen, auch wenn in den nächsten Jahren die Wirtschaftsleistung weiter zunimmt bzw. nicht abnimmt? Degrowth- beziehungsweise Postwachstumskritiker:innen [4] sagen: Nein. Sie verweisen darauf, dass es bisher nur vereinzelte Fälle gibt, wo Wirtschaftswachstum und CO2-Emissionen absolut entkoppelt werden konnten – also die Treibhausgasmenge absolut sank bei steigendem Bruttoinlandsprodukt.

Das stimmt. Selbst bei den "Klimavorreitern" Deutschland oder Dänemark konnten über längere Zeiträume durchschnittlich nur zwei bis drei Prozent weniger Emissionen erzielt werden. Global hat es in den letzten Jahrzehnten keine absolute Entkopplung gegeben [5], auch nicht für die Gruppe der Industriestaaten.

Rezessionen – siehe die Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren, der Zusammenbruch der Sowjetunion, die Finanzkrise 2008/2009 oder die Coronakrise – scheinen historisch betrachtet der einzige Weg, um den Kohlendioxid-Ausstoß deutlich nach unten zu bringen.

Aber dieser Befund ist nicht überraschend. Denn es hat ja bisher noch keinen Klimaschutz gegeben, der diesen Namen verdient, schon gar nicht global. Aus der Geschichte lässt sich daher nicht einfach ableiten, was möglich ist. Die eigentliche Frage ist vielmehr, wie die Industriestaaten das heute notwendig gewordene CO2-Reduktionstempo erzielen können.

Da durch viele Jahrzehnte Nichtstun das Zwei-Grad-Budget an Treibhausgasen derart verringert wurde, sind sie gezwungen, bis 2035 zu dekarbonisieren [6] (die Entwicklungsländer haben noch bis 2050 Zeit). Das bedeutet, dass sie jedes Jahr ihre Treibhausgase um rund zehn bis fünfzehn Prozent gegenüber dem Vorjahr reduzieren müssen: eine enorme jährliche Reduktionsleistung, historisch einmalig und durchaus an der Grenze der Machbarkeit.

So hält der britische Klimaökonom Nicholas Stern in seinem Standardwerk von 2006 [7] ("Stern-Report") eine jährliche Steigerung der Kohlenstoffintensität um rund sechs Prozent für möglich. Zehn Prozent wären selbst dann nicht zu erreichen, wenn eine Volkswirtschaft stagniert. Aber Stern teilt gar nicht mit, warum mehr nicht möglich sein soll.

Seine Berechnung orientiert sich an historischen Fällen und ist relativ konservativ in ihren ökonomischen Annahmen. Zum Beispiel modelliert er die maximale Energiewende ohne stärkere Eingriffe des Staates und meist über Marktanreize.

Die Bedingungen für eine rasante Energiewende haben sich zudem seit Veröffentlichung der Studie deutlich verbessert und die technologische Dynamik macht es in Zukunft immer leichter, schneller zu dekarbonisieren. In Deutschland sanken etwa die Treibhausgase 2019 gegenüber dem Vorjahr um 6,3 Prozent [8], während die deutsche Wirtschaft um 0,6 Prozent wuchs.

Die Kohlenstoffintensität nahm also stark zu, um rund sieben Prozent, was eigentlich nach Stern nicht möglich ist. Und das sogar ohne wesentliche Klimaschutzmaßnahmen, zu großen Teilen ausgelöst durch günstige Preise für Erneuerbare auf den Märkten. Trotzdem sollte klar sein, dass die rasante Fahrt auf Null-Emissionen in weniger als fünfzehn Jahren kein Spaziergang werden wird. Es muss daher alles getan werden, um die Energiewende voranzutreiben.

Die schon im ersten Teil der Analyse [9] zitierte Studie vom Wuppertal Institut [10], in Auftrag gegeben von Fridays for Future und veröffentlicht im Oktober 2020, gibt Hoffnung, dass es gelingen kann. Sie zeigt, dass Deutschland bis 2035 im gegenwärtigen Wirtschaftssystem dekarbonisieren könnte, wenn alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Die Energy Watch Group geht in ihren Berechnungen [11] sogar davon aus, dass man bis 2030 auf null fahren könnte, ohne dabei den Kapitalismus überwinden zu müssen.

Das bedeutet für die Bundesregierung jedoch: Kursänderung sofort. Den Ausbau von Windrädern und Solarpanels müsste man umgehend verstärken, das Tempo faktisch um das Zwei- bis Dreifache gegenüber den besten Ausbaujahren erhöhen. Der Umbau des Stromnetzes braucht darüber hinaus eine signifikante Beschleunigung.

Unnötiger Auto- und Flugverkehr sollte vermieden (minus 20 Prozent), auf öffentlichen Verkehr verlagert und der Rest elektrifiziert beziehungsweise über Power-to-Gas (Umwandlung von Strom in alternative Kraftstoffe unter anderem für Flugzeuge) betrieben werden. Beim Heizen kann auf Wärmepumpen, solarthermische Kollektoren und grüne Nah- beziehungsweise Fernwärme [12] gesetzt werden. Auch das eine Herkulesaufgabe, aber zu stemmen, wenn die Ärmel hochgekrempelt werden, so die Studie.

Die Forscher machen dabei klar, dass die Kursänderung kein Selbstläufer ist, sondern eine politische Kehrtwende erfordert. Sie weisen auch darauf hin, dass je nachhaltiger der Lebensstil gestaltet werde, die Wende desto leichter zu meistern sei.

Im Klartext: Je weniger in Summe geflogen, mit dem Auto gefahren, geheizt, unnötig und energieintensiv konsumiert wird und je weniger Nutztiere gehalten werden, umso einfacher ist es, die rasante Dekarbonisierung in hohem Tempo zum Erfolg zu bringen. Dafür braucht es sozial faire Regelungen, Anreize und auch Verbote von Seiten des Staates. Die Regierungen müssen also den Rahmen setzen.

Studien sagen: Eine saubere Energiewirtschaft ist möglich

Die zahllosen 100-Prozent-Studien und -Initiativen in Städten und Landkreisen belegen ebenfalls eindrücklich [13], trotz aller Unterschiede in Details, dass ein rapider Wechsel im gegenwärtigen System ohne grundsätzliche wirtschaftliche Einbußen machbar ist.

2009 entwickelten die Forscher Mark Z. Jacobson von der Stanford University und Mark A. Delucchi von der University of California zudem ein detailliertes Null-Emissionsszenario für die gesamte Welt [14], veröffentlicht im renommierten Wissenschaftsmagazin Scientific American. Es enthält eine vollständige Umstellung der Energieversorgung bis zum Jahr 2030.

Windkrafträder, Solarpanels, Gezeiten- und Wellenkraftwerke sowie geothermische Anlagen könnten bis dahin die benötigte Globalenergie erzeugen, so die Forscher, billiger zudem, als die fossilen Energien. Die Investitionskosten schätzt die Studie auf 100 Billionen US-Dollar.

Da Sonne, Wind und Wasser keine Rechnung schicken und die Förder- und Transportkosten für fossile Brennstoffe, Kraftstoffe und Strom zwischen 5,5 und 7,75 Milliarden Dollar pro Jahr liegen, bilanziert die Studie, dass der Energiewechsel selbst dann wirtschaftlicher sei, wenn nur die direkten Energiekosten angesetzt würden, exklusive der Klima-, Umwelt- und Gesundheitsschäden.

Aktuelle Daten [15] von finnischen und deutschen Wissenschaftlern dokumentieren zudem, dass vor allem die stark gefallenen Preise für Stromspeicher-Batterien den Übergang zunehmend erleichtern, während die Internationale Agentur für erneuerbare Energien (IRENA) schätzt, dass die weltweite Batteriespeicherkapazität bis zum Jahr 2030 um das 17- bis 38-fache steigen könnte [16].

Die neuen wissenschaftlichen Szenarien zeigen, dass ab spätestens 2050 die Energieproduktion weltweit nicht mehr auf Kohle, Gas und Öl angewiesen sein muss. Das 100-Prozent-Szenario beinhaltet dabei: 69 Prozent Solarenergie, 18 Prozent Windenergie und der Rest zu großen Teilen Wasserkraft.

Die globale Energiewende würde zudem jedes Jahr viele neue Jobs schaffen. Die Kosten für eine Megawattstunde fielen von gegenwärtig 82 auf 61 Dollar. Der deutsche Leitautor der internationalen Untersuchung Christian Beyer fasst die Ergebnisse der Studie mit folgenden Worten zusammen:

Die Energiewende ist längst keine Frage mehr der technischen Machbarkeit oder ökonomischen Durchführbarkeit, sondern des politischen Willens.

Auch der US-Forscher Robert Pollin, einer der renommiertesten Klimaökonomen weltweit, kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Seine Untersuchungen zu einem globalen Green New Deal [17] zeigen, dass der Aufbau eines 100 Prozent sauberen Energiesystems etwa 2,5 Prozent des weltweiten jährlichen BIPs in den nächsten dreißig Jahren erfordern wird.

Ja, das ist in Dollar ausgedrückt eine Menge Geld, etwa zwei Billionen Dollar ab jetzt und danach ansteigend. Aber es bedeutet immer noch, dass 97,5 Prozent der weltweiten Wirtschaftstätigkeit für andere Dinge als Investitionen in saubere Energie verwendet werden können.

Nach Berechnungen des Forscherteams unter Leitung von Pollin werden durch den Green New Deal durchschnittlich 160 Millionen Arbeitsplätze [18] pro Jahr weltweit zwischen 2021 und 2030 hinzukommen.

Die Forscher widersprechen auch der Sorge, dass es nicht genügend verfügbare Flächen für Solar- und Windkraftanlagen gebe. So habe die Physikerin Mara Prentiss von der Harvard University in ihrem 2015 erschienenen Buch "Energy Revolution: The Physics and the Promise of Efficient Technology" gezeigt, dass weit weniger als ein Prozent der gesamten US-Landfläche [19] benötigt würde, um 100 Prozent des Energiebedarfs der USA zu decken.

Der größte Teil dieses Flächenbedarfs könne beispielsweise durch die Anbringung von Solarzellen auf Dächern und Parkplätzen und den Betrieb von Windturbinen auf etwa sieben Prozent der derzeitigen landwirtschaftlichen Flächen gedeckt werden.

Auch an Geld fehlt es nicht. So schätzt der Internationale Währungsfonds (IWF), dass fossile Energien jedes Jahr bis zu 5,9 Billionen Dollar an direkten und indirekten staatlichen Hilfen [20] erhalten (inklusive der Kosten für Umwelt- und Gesundheitsschäden etc.). Das macht Kohle, Öl und Gas deutlich billiger, als sie ohne die staatlichen Schutzschirme wären. Erneuerbare erhalten demgegenüber nur 110 Milliarden Dollar an direkten Subventionen. Die Gelder müssen nur umgelenkt werden.

Ein weiterer Einwand gegen die schnelle Energiewende ist, dass in kurzer Zeit nicht genügend Solarpaneelen bzw. Windräder bereitgestellt werden können [21]. Dieser Pessimismus wirkt ein wenig merkwürdig in Staaten, die ständig schwierige technologische Probleme lösen, Unsummen für komplizierte Waffensysteme bereitstellen, Menschen regelmäßig zu Weltraumstationen fliegen oder die Flugrichtung von Asteroiden durch auf ihnen landende Roboterraumfahrzeuge ändern [22].

Der energetische Infrastrukturumbau ist sicherlich nicht trivial, aber lösbar. Der Ingenieur Tom Solomon hat im "Land der unbegrenzten Möglichkeiten" zum Beispiel berechnet, dass die USA 295 Solarpanel-Fabriken in der Größe der Gigafabrik in Buffalo bauen müssen [23], um das Land auf Null-Emissionen zu bringen. "Gigafabrik" wird sie genannt, weil dort im Jahr so viele Solarmodule herstellt werden, um damit ein Gigawatt an Strom erzeugen zu können.

Dazu müsste die gleiche Anzahl an Großbetrieben für Windräder entstehen. So könnte die für ein klimaneutrales Amerika benötigte Menge von 6448 Gigawatt bereitgestellt werden. Umgerechnet hätte also jeder US-Bundesstaat sechs Solar- und sechs Windrad-Fabriken für die Dekarbonisierung zu errichten.

So etwas Ähnliches haben die Amerikaner schon einmal hinbekommen, sagt der Umweltjournalist und Klimaschützer Bill McKibben [24]. Das war vor fast 80 Jahren, als das Land nach dem Angriff auf Pearl Harbor in den Zweiten Weltkrieg eintrat. In wenigen Monaten baute man die global größte Industriefabrik in Ypsilanti im Bundesstaat Michigan.

Kurze Zeit später spuckte die Fabrik jede Stunde einen B-24 Kampfjet aus. Wohlgemerkt: Das sind große Flugzeuge "unendlich viel komplexer als Solarpanelen oder Turbinenblätter – jedes davon besteht aus 1.225.000 Teilen mit 313.237 Nieten".

Nebenan baute das US-Militär eine Panzerfabrik schneller auf als das dazu benötigte Kraftwerk. Also schob man eine Lokomotive in die Halle, um Hitze und Strom für die Produktion zu liefern. Allein diese Fabrik in Michigan stellte mehr Panzer her als die Deutschen im gesamten Kriegsverlauf produzierten.

Überall in den USA wurden Autofabriken und Industriebetriebe in rasantem Tempo konvertiert und stellten enorme Mengen an Stahlhelmen, Waffen, Propellern, Flugzeugmotoren oder Militärfahrzeugen her. Es war eine historische industrielle Mobilisierung von der Ost- bis zur Westküste.

Eine ähnliche Kraftanstrengung braucht es jetzt, um die USA auf Zwei-Grad-Kurs zu bringen. Aber nicht, um in den Krieg zu ziehen. Kein Bürger müsste dafür geopfert werden. Tatsächlich, so zeigen Daten, würden mit der beschleunigten Energiewende 150 Millionen Menschen gerettet, ungefähr doppelt so viele, wie im Zweiten Weltkrieg starben.

Die Ansätze für eine beschleunigte Energiewende sind an vielen Orten bereits vorhanden. 2018 kündigte Tesla an, das größte virtuelle Kraftwerk der Welt [25] in Australien zu bauen. Auf 50.000 Häuser werden nun Solarpanele montiert, die im Verbund das Stromnetz beliefern, inklusive dezentraler Batteriesysteme, die das Netz stabil und autark machen.

Audi hat in Ungarn zwei Logistikzentren mit 36.000 Solarmodulen in Betrieb genommen. Es ist mit 160.000 Quadratmetern die größte Aufdach-Photovoltaik-Anlage Europas [26] und soll jedes Jahr rund 9,5 Gigawatt-Stunden Energie produzieren, so viel wie der jährliche Energiebedarf von fast 4.000 Haushalten. Bis 2030 will das Unternehmen alle seine Produktionsstätten komplett klimaneutral machen.

Wenn Audi das kann, warum dann nicht alle anderen Unternehmen, alle öffentlichen Anlagen, alle Gebäude in Deutschland? Und warum baut der deutsche Autohersteller nicht ebenso nur noch klimaneutrale E-Autos oder elektrifizierte Transportmittel? Volvo will ab 2030 ganz auf E-Autos umstellen, General Motors ab 2035. Ansätze für die schnelle Energiewende sind überall vorhanden. Entscheidend ist, ob sie durch einen entsprechenden Zwei-Grad-Verstärker geschickt werden.

Energiewende ist Voraussetzung für Prosperität im 21. Jahrhundert

Jenseits der unnötigen und schädlichen Energiewende-Skepsis trifft die Wachstumskritik jedoch auch einen wichtigen Punkt: Energieeinsparungen erleichtern den Übergang zu einer sauberen Energiewirtschaft und sollten integraler Bestandteil der Energiewende sein. Klimawissenschaftler wie Alice Larkin und Kevin Anderson weisen daher immer wieder darauf hin, dass es noch große Potentiale auf der Nachfragenseite [27] gibt. Vor allem Hochemittenten müssten ihren Anteil dabei leisten.

Eine progressive Flugsteuer etwa könnte den Flugverkehr einschränken: erster Flug pro Jahr einfacher Preis, zweiter Flug doppelt so teuer, dritter Flug sechsmal so teuer und so weiter. Eine Urlaubsreise per Flugzeug wäre für eine Familie dann noch drin. Für Unternehmen, die ihre Manager hin und herjetten lassen, wird Vielfliegen jedoch unrentabel.

Videokonferenzen und Homeoffice wären schließlich nicht mehr nur die Corona-Ausnahme, sondern die Energiewende-Regel. Auch könnten Flüge unter 1000 Kilometer ersetzt werden durch Bahnverbindungen. Somit fiele ein großer Teil des Luftverkehrs in Deutschland weg. Die Angestellten der Lufthansa werden dann bei der Bahn benötigt.

Ob bei einem radikalen Green New Deal am Ende das Bruttoinlandsprodukt (BIP) – eine ohnehin abstruse Messeinheit für wirtschaftliche Gesundheit und Wachstum – sinkt, stagniert oder leicht steigt, ist letztlich unerheblich. Es kommt darauf an, dass die Emissionen runter gehen, und zwar nach strikten Budgetvorgaben.

Das kann aber nur gelingen, wenn eine umfassende Energiewende politisch einleitet wird. Dabei würde weder der Kapitalismus überwunden – obgleich das, wie gesagt, aus diversen Gründen anzustreben ist – noch die Volkswirtschaft geschrottet. Dieses Märchen wird seit Jahrzehnten erzählt, es wird aber dadurch nicht wahrer.

Denn die Wende ist nicht nur mit "Wohlstand für alle" vereinbar, sondern absolute Voraussetzung für Prosperität im 21. Jahrhundert. So würde eine ungebremste Klimakrise am Ende jegliche Wohlfahrt pulverisieren.

Der Kurs Richtung Klimakollaps kostet die Weltwirtschaft schon jetzt jedes Jahr 1,2 Billionen US-Dollar [28] (1,6 Prozent des BIP). Wirtschaftskraft, die für die Energiewende verloren geht. Allein ein sich erwärmender Arktischer Ozean könnte einer aktuellen Studie zufolge im Laufe des Jahrhunderts Wirtschaftsschäden von bis zu 90 Billionen US-Dollar [29] erzeugen.

Doch es wabert – trotz aller vielversprechenden Szenarien und Dynamiken – weiter Skepsis gegenüber einem Übergang zu einer sauberen Energiewirtschaft im Hintergrund von Umweltbewegungen, genährt von Naturschützern und Vordenkern, die wie Serge Latouche seit den 1980er und 1990er Jahren aus der "Ökonomie aussteigen" wollen oder die industrielle Gesellschaft grundsätzlich als Fehlentwicklung ansehen.

Auch bei einigen Kapitalismuskritikern ist Energiewende-Skepsis latent anwesend, wenn sie die Lösung der Klimakrise per se für unvereinbar halten mit dem gegenwärtigen Wirtschafts- sowie Politiksystem. Je näher der Abgrund im Zuge des Nichtstuns rückt, desto mehr könnten diverse Spielarten des Klimafatalismus an die Oberfläche gespült werden.

Beim Dokumentarfilm "Planet of the Humans" [30], produziert von US-Kapitalismuskritiker Michael Moore unter Regie von Umweltjournalist Jeff Gibbs, ist das gut zu beobachten. Mit Halbwahrheiten und Fehldarstellungen [31] werden im Film Erneuerbare Energien als Scheinlösung, ineffizient und schmutzig dargestellt und in Misskredit gebracht. Mit großem Erfolg. 13 Millionen Besucher:innen haben das Video in den letzten zwei Jahren allein auf Youtube angesehen.

Dabei wird aus berechtigter Kritik am Kapitalismus, an technischen Exzessen, falschen Industrialisierungen und Überproduktion wie Überkonsumption eine Sackgasse gezimmert. Das ist aber weder sachlich begründet noch politisch hilfreich. "System Change not Climate Change" ist als Slogan völlig richtig. Aber die Klimakrise wird entweder politisch gelöst – mehr oder weniger im gegenwärtigen ökonomischen System – oder eben nicht.

Die Energierevolution braucht sicherlich eine Systemänderung: Ein Zurückdrängen neoliberalen Vertrauens auf die freien Märkte, eine Befreiung von der fossilen Energiewirtschaft und vor allem ein Ende der Zuschauerdemokratie. Denn wenn immer mehr Bürger und gesellschaftliche Gruppen sich zusammentun und die klimapolitische Wende einfordern, den radikalen Green New Deal ganz oben und dauerhaft auf die Tagesordnung setzen, dann werden Politiker:innen, Parteien, Parlamente und schließlich auch Regierungen nicht anders können, als die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen.

Ob das früh genug geschieht, ist die eigentliche, letztlich existenzielle Frage der Menschheit. Robert Pollin bringt es so auf den Punkt:

Die eigentliche Frage ist natürlich nicht, ob der Green New Deal ökonomisch oder technisch umsetzbar, sondern ob er politisch machbar ist.


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[1] https://www.heise.de/tp/features/Energiewende-fuer-Fortgeschrittene-Oekoenergie-ist-nicht-knapp-teuer-und-schmutzig-7370548.html
[2] https://www.clubofrome.org/publication/the-limits-to-growth/
[3] https://taz.de/Wachstum-und-Klimakrise/!5892098/
[4] https://degrowth.info/de
[5] https://www.researchgate.net/publication/334453443_Decoupling_Debunked_Evidence_and_arguments_against_green_growth_as_a_sole_strategy_for_sustainability_A_study_edited_by_the_European_Environment_Bureau_EEB
[6] https://www.heise.de/tp/features/Dann-leben-wir-auf-einem-anderen-Planeten-7158352.html
[7] https://tinyurl.com/yc8deus7
[8] https://www.ecoreporter.de/artikel/klimaschutzbericht-2019-emissionen-in-deutschland-sinken-schneller/
[9] https://www.heise.de/tp/features/Energiewende-fuer-Fortgeschrittene-Oekoenergie-ist-nicht-knapp-teuer-und-schmutzig-7370548.html
[10] https://epub.wupperinst.org/frontdoor/deliver/index/docId/7606/file/7606_CO2-neutral_2035.pdf
[11] https://www.energywatchgroup.org/wp-content/uploads/EWG_Studie_2021_100EE-fuer-Deutschland-bis-2030.pdf
[12] https://www.heise.de/tp/features/Fragen-und-Antworten-zur-Fernwaerme-und-wie-sie-gruener-werden-soll-9186781.html
[13] https://www.google.de/books/edition/Der_energethische_Imperativ/IAlHBgAAQBAJ?hl=de&gbpv=1&pg=PT5&printsec=frontcover
[14] https://www.scientificamerican.com/article/a-path-to-sustainable-energy-by-2030/
[15] https://www.ecowatch.com/100-renewable-energy-by-2050-2519335518.html
[16] https://www.heise.de/tp/features/Wo-die-Kritiker-der-globalen-Energiewende-falsch-liegen-7284023.html?seite=all
[17] https://www.heise.de/tp/features/Pollin-Globaler-Green-New-Deal-schafft-Hunderte-Millionen-Jobs-7267250.html?seite=all
[18] https://www.heise.de/tp/features/Pollin-Globaler-Green-New-Deal-schafft-Hunderte-Millionen-Jobs-7267250.html?seite=all
[19] https://www.heise.de/tp/features/Wo-die-Kritiker-der-globalen-Energiewende-falsch-liegen-7284023.html?seite=all
[20] https://taz.de/IWF-zu-Energiesubventionen/!5806927/
[21] https://www.gemeinwohl.coop/nachrichten/immer-das-fordern-was-moeglich-ist-ulrike-herrmann-im-interview
[22] https://www.democracynow.org/2022/9/28/nasa_scientist_asteroid_technology_climate_crisis
[23] https://chears.org/gcan/wp-content/uploads/2013/04/Bill-McKibben-article-Aug-2016.pdf
[24] https://chears.org/gcan/wp-content/uploads/2013/04/Bill-McKibben-article-Aug-2016.pdf
[25] https://electrek.co/2022/04/27/tesla-expands-virtual-power-plant-new-regions-australia/
[26] https://audi.hu/de/news/details/647_es_gibt_neues_unter_der_sonne_europas_gro_te_aufdach-solaranlage/
[27] https://tinyurl.com/y3u3fwtk
[28] https://www.theguardian.com/environment/2012/sep/26/climate-change-damaging-global-economy
[29] https://www.independent.co.uk/climate-change/news/arctic-thaw-90-trillion-damage-roads-buildings-infrastructure-circle-permafrost-foundation-a7700696.html
[30] https://www.youtube.com/watch?v=Zk11vI-7czE
[31] https://www.rollingstone.com/politics/political-commentary/bill-mckibben-climate-movement-michael-moore-993073/