Klimanotstand in der Weltgesellschaft

Seite 2: Lithium und die "Verkehrswende" der EU

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Von dieser Wucht der Märkte und den neuen grünen Methoden, "unseren Wohlstand" zu sichern, ist in Lateinamerika schon einiges angekommen. Zum Beispiel bei Clemente Flores, einem Vertreter der indigenen Kolla-Gemeinden in Argentinien, der sich mit einer dramatischen Botschaft an die Europäer wendet. "Der Wechsel zu den Elektroautos wird unsere Gemeinden und unsere Landschaft umbringen. … Ihr glaubt, damit könnt ihr die Menschheit retten, aber ihr werdet uns alle umbringen."

Die Kollas leben im Hochgebirge Argentiniens, in einer extrem trockenen Landschaft mit ausgedehnten Salzwüsten. Eine Reihe internationaler Konzerne hat hier in den vergangenen Jahren begonnen, Lithium abzubauen. Lithium steckt in den Batterien von Handys, Tablets und den Speichern von Solaranlagen. Doch der Hype um Elektroautos, für deren Batterien Lithium in großen Mengen gebraucht wird, hat das Metall in einen strategischen Rohstoff verwandelt und entsprechend starke wirtschaftliche und politische Begehrlichkeiten geweckt.

Mit großen Maschinen wühlen die Konzerne in den hochandinen Salzwüsten Argentiniens nun den Boden um. Beim Abbau des Lithiums verbrauchen sie extrem viel Wasser und kontaminieren die kostbaren Grundwasserreserven, die in der extrem trockenen Region Jahrtausende gebraucht haben, um sich zu bilden. Flussläufe und Feuchtgebiete trocknen aus, die Lamas, von denen die Kollas leben, sterben durch kontaminiertes Wasser. Der Verlust des Trinkwassers kann das Leben in dieser ökologisch fragilen Region für Mensch und Tier schon bald unmöglich machen. Geschätzte 70 Prozent der weltweiten Reserven lagern im "Lithium-Dreieck" Chile, Argentinien und Bolivien, in hochandinen Salzseen wie Atacama, Salinas Grandes, Uyuni und Hombre Muerto. Überall gibt es indigene Kulturen, die seit Jahrtausenden dort leben, ohne die Ökosysteme zu ruinieren. Jetzt steht ihr Überleben auf dem Spiel, weil Industrie- und Schwellenländer klimafreundlicher werden wollen, ohne Art und Ausmaß ihres Wohlstands infrage zu stellen. Die Menschen im globalen Süden leiden heute bereits überproportional an den Folgen des Klimawandels, den sie am wenigsten mit verursacht haben. Und nun sollen sie auch noch den Preis zahlen für die klimafreundliche Rettung unserer imperialen Lebensweise.

Salar de Atacama. Bild: Francesco Mocellin / CC-BY-SA-3.0

Lithium lässt sich im Prinzip auch schonender und nachhaltiger abbauen. Man könnte also mit der E-Auto-Offensive in Europa warten, bis solche Lösungen entwickelt und in den produzierenden Unternehmen weltweit als Standard durchgesetzt wurden. Man könnte bis dahin jede Menge CO2 auf anderen Wegen einsparen. Zum Beispiel indem man deutlich weniger Auto fährt, was für das Klima ohnehin besser wäre als die Umrüstung des heutigen Autoverkehrs auf Elektroantrieb. Man könnte Städte autofrei umgestalten und ländliche Regionen so ausstatten, dass niemand mehr ein eigenes Auto braucht.

Viele Staaten und Städte haben sich mittlerweile das Ziel gesetzt, bis 2050 "klimaneutral" zu werden. Jüngst mit großem Tamtam und als "erster Kontinent" auch die EU. Doch die Reduzierung des Verbrauchs von Konsumgütern und eine echte Wende im Bereich der Mobilität sind dabei in der Regel kein Thema. Auch die "Verkehrswende" der EU orientiert sich hauptsächlich daran, möglichst schnell den Umstieg auf Elektromobilität durchzusetzen, im Sinne der Verteidigung "unserer Wettbewerbsfähigkeit" und "unseres Wohlstands".

Ab 2030 sollen Neuwagen, so wurde es in der EU beschlossen, durchschnittlich 37,5 Prozent weniger CO2 ausstoßen als 2021. Um das zu erreichen muss der Anteil emissionsfreier Fahrzeuge kontinuierlich erhöht werden. Der Clou dabei ist, dass Elektroautos grundsätzlich als emissionsfrei gelten, weil sie dort wo sie fahren keine Abgase erzeugen. Das ist ungefähr so trickreich wie die Abgasmanipulationen der Autoindustrie. Zum einen wird großzügig darüber hinweggesehen, dass die Autos, die Batterien und der Ladestrom unter heutigen Bedingungen nicht emissionsfrei erzeugt werden. Zum anderen begünstigt diese Regelung auch die Produktion großer und schwerer Elektroautos, die als emissionsfrei gelten, obwohl sie insgesamt klimaschädlicher sind als ein kleiner, effizienter Verbrenner.

Der Rest bleibt der "Wucht der Märkte" überlassen. Aber wer sind eigentlich "die Märkte" in diesem Fall? Bei Lithium ist es eine Handvoll internationaler Konzerne, die das Geschehen beherrscht, darunter die US-Konzerne Albemarle und FMC, die chilenische Sociedad Quimica y Minera (SQM) und die chinesische Firma Tanqi Lithium.

Der Bedarf an Batteriezellen wird sich - so die Schätzung in einer Studie des World Economic Forum (WEF) und McKinsey vom vergangenen September - bis zum Jahr 2030 um das 14-fache erhöhen. Genau kann das aber niemand vorhersagen. Die Erwartung eines gigantischen Booms und die damit einhergehenden Unsicherheiten haben bereits in den vergangenen Jahren heftige Spekulationswellen auf dem Lithiummarkt losgetreten. So haben sich die Lithiumpreise bis Ende 2017 vervielfacht.

Anfang 2018 informierte die SQM über ein Abkommen mit der chilenischen Regierung, das dem Konzern eine drastische Ausweitung der Lithiumproduktion bis 2025 erlaubt. Von damals 50.000 Tonnen kann die SQM ihre Produktion bis 2025 auf 216.000 Tonnen erhöhen. Morgan Stanley meldete daraufhin, unter diesen Bedingungen würde sich die Lithiumproduktion Argentiniens, Australiens und Chiles bis 2025 insgesamt verdreifachen. Das war das Signal für den Lithiumpreis, weltweit in einen Sinkflug überzugehen.

Die SQM ("Soquimich") kann mit diesem Coup ihre Marktmacht ausbauen und verbesserte durch die sinkenden Lithiumpreise nebenbei die Bedingungen für die weltweite E-Auto-Offensive. Einst ein staatliches Unternehmen, war die SQM während der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet privatisiert worden und dabei in den Besitz der Familie Pinochets gelangt. Noch heute liegt ein Drittel des Konzerns in den Händen von Julio Ponce Lerou - ein ehemaliger Schwiegersohn Augusto Pinochets und einer der reichsten Chilenen. Der Konzern ist immer wieder in Skandale verstrickt und gilt als korruptestes Unternehmen Chiles.

Ökologische Verwüstungen durch den Bergbau

Von den Expansionsplänen der SQM sind vor allem die indigenen Gemeinden der Atacama-Region betroffen. Sie waren vor der Entscheidung nicht einmal angehört worden und kämpfen seitdem gegen das Abkommen und die Ausweitung der Abbaugebiete. Im vergangenen Oktober, während der großen Protestwelle in Chile, blockierten sie die Zugangswege zu den Lithium-Produktionsstätten.

Unterstützt werden sie von "Litio para Chile", einem breiten Bündnis sozialer Organisationen, dem unter anderem auch Gewerkschaften angehören. Sie mobilisieren gegen die "Privatisierung des Reichtums der Nation". Gefordert werden unter anderem die Enteignung der SQM und eine Verstaatlichung der Lithiumproduktion.

Die ökologischen Verwüstungen durch den Bergbau haben in Südamerika in den vergangenen Jahrzehnten unglaubliche Dimensionen angenommen, vor allem auch durch die Zunahme großer Tagebaue, in denen oft ganze Berge nach und nach weggesprengt werden. In den meisten Bergbauprojekten Lateinamerikas gibt es heftige, oft gewalttätige Konflikte. Die lokale Bevölkerung wehrt sich gegen die Verschmutzung ihres Trinkwassers, die Vergiftung ihrer Böden, die Häufung von Krankheiten. Ihre Aktivisten werden eingeschüchtert, entführt, ermordet.

Satellitenaufnahme der Salar de Atacama (Chile) mit drei Anlagen zur Lithiumgewinnung. Bild: NASA Earth Observatory

In Chile wird mittlerweile von "Zonas de Sacrificio" gesprochen, Opferzonen, Gebiete, in denen die Natur und die Gesundheit der Bevölkerung dem geopfert wird, was als wirtschaftlicher Fortschritt gilt, und was Geld in die Taschen der Oberschicht und in die Kassen der großen Konzerne spült.

Eine der wichtigsten Quellen dieser Umweltzerstörung in Chile ist die Kupferproduktion, die häufig im Tagebau stattfindet. Bei den Sprengungen mit Dynamit bilden sich arsenbelastete, toxische Staubwolken, die später irgendwo in der Landschaft niedergehen. Pro Tonne Kupfer fallen 200 Tonnen Abfälle an. Die türmen sich auf Abraumbergen und in schwer belasteten, kilometerlangen Abraumseen, von denen es in Chile mittlerweile 2200 gibt.

Kupfer gehört, neben Aluminium und Stahl, zu den Metallen, die auch für die Produktion von Windkraft- und Solaranlagen gebraucht werden. Der Boom der erneuerbaren Energien treibt die Nachfrage nach diesen Metallen weltweit in die Höhe.

Um Bauxit, das Ausgangsmaterial für Aluminium zu gewinnen, werden in Brasilien große Flächen Regenwald abgeholzt. Bei der Aluminiumproduktion entstehen Abfälle in Form von giftigem Rotschlamm, die eine dauerhafte Bedrohung für die benachbarten Regionen darstellen.

Das Hilfswerk Misereor hat in einer Studie einmal auf diesen problematischen Effekt des Booms der erneuerbaren Energien hingewiesen. Auch Strom aus erneuerbaren Quellen, so das Fazit, sei "ökologisch und sozial nicht zum Nullkostentarif zu haben." Misereor plädiert deshalb für "eine grundlegende Transformation im Bereich der Mobilität ebenso wie des Konsums, der Produktion von Elektroartikeln aller Art und letztlich auch im Hinblick auf unseren Energieverbrauch".

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