Koalitionskrise auf Anfang Juli vertagt

Symbolbild: Rachmaninoff. Lizenz: CC BY-SA 3.0

Seehofer ordnet vorerst nur die Zurückweisung von Personen mit Einreisesperre an und will abwarten, ob Angela Merkel in den nächsten beiden Wochen bei Verhandlungen mit anderen Ländern "wirkungsgleiche" Ergebnisse erzielt

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Heute Vormittag traf sich der Vorstand der CSU zu einer Sitzung in München, bei der der Parteivorsitzende und Bundesinnenminister Horst Seehofer einen 63-Punkte-Plan zur Migrationspolitik vorstellte. Von diesen 63 Punkten ist einer bereits vor dem offiziell Bekanntwerden der Liste umstritten: Die Zurückweisung von Asylbewerbern, die in anderen Ländern mit dem EURODAC-Fingerabruckidentifizierungssystem erfasst wurden.

Zu dieser Teilrücknahme einer von seinem Vorgänger Thomas de Maizière ausgesprochenen mündlichen Anweisung (für die Seehofer - anders als der FAZ-Autor Jasper von Altenbockum suggeriert - die Zustimmung der Grünen im Bundesrat nicht benötigt), holte sich der Bundesinnenminister in der heutigen Sitzung die Rückendeckung seiner Partei. Die hat er nun explizit auch dann, wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel dagegen ist.

Vorerst will Seehofer aber nur eine verhältnismäßig kleine Gruppe von Personen an der Grenze abweisen lassen, wie er in einer Pressekonferenz am Nachmittag bekannt gab: solche, die mit einem expliziten Einreiseverbot belegt wurden. Mit der Zurückweisung weiterer Personen will der Bundesinnenminister abwarten, ob Angela Merkel bis Anfang Juli eine "wirkungsgleiche Lösung" durch "bilaterale" oder "intergouvernmentale" Vereinbarungen findet, wie sie auf einer (fast zeitgleich zu der Seehofers abgehaltenen) eigenen Pressekonferenz sagte. Über die Ergebnisse ihrer diesbezüglichen Bemühungen möchte sie am 1. Juli erst mit der CDU und dann mit der CSU reden.

Ihr Innenminister bereitet bis dahin nach eigenen Angaben zusammen mit der österreichischen Regierung eine zur umfassenden Zurückweisung nötige flexible Kontrolle an der bayerischen Süd- und Ostgrenze vor, an der sich auch die wiedereingeführte bayerische Grenzpolizei beteiligen soll.

Handlungsoptionen

Nach dem 1. Juli haben sowohl Merkel als auch Seehofer mehrere Handlungsoptionen: Merkel kann eventuelle kleinere oder größere Zugeständnisse anderer Länder als Erfolg verkaufen und darauf bestehen, dass Seehofer die Grenzen weiter offen hält. Oder sie kann einen Misserfolg eingestehen und halbwegs gesichtswahrend Zurückweisungen akzeptieren - zumindest bis zur bayerischen Landtagswahl am 14. Oktober.

Besteht sie auf dem Offenhalten, kann ihr Seehofer entweder gehorchen und versuchen, den bayerischen Wählern kleinere oder größere Zugeständnisse anderer Länder als "wirkungsgleichen" Erfolg zu verkaufen - oder er kann darauf bestehen, dass so eine Zurückweisung nicht unter die Richtlinienkompetenz einer Kanzlerin fällt, wie zum Beispiel der ehemalige bayerische Innenminister Günter Beckstein meint (vgl. Seehofer erhält Rückendeckung). Dass die Kanzlerin hier anderer Meinung ist, gab' sie heute in der Antwort auf eine Frage bei ihrer Pressekonferenz preis. Eine mehrfach gestellte andere Frage - nämlich, ob sie in so einem Fall Zurückweisungen, akzeptiert, oder lieber Seehofer entlässt, wollte die Kanzlerin nicht beantworten.

Grüne würden Merkel stützen

Entlässt Merkel Seehofer, wird sich wahrscheinlich auch die CSU aus der Regierungskoalition und aus der Fraktionsgemeinschaft mit der CDU verabschieden. Zum Weiterregieren ohne CSU dienten sich der Kanzlerin gestern bereits die Grünen an. Sie haben 67 Abgeordnete im Bundestag - 21 mehr als die 46 der CSU. Wortmeldungen von Abgeordneten in der letzten Woche deuten jedoch darauf hin, dass nicht alle CDU-Abgeordneten bereit wären, sich so einer Entwicklung anzuschließen, weshalb unklar ist, ob Merkel dann noch eine parlamentarische Mehrheit hätte.

Für die FDP, die mit ihren 80 Abgeordneten ebenfalls für die CSU einspringen könnte, hat Parteichef Lindner in der Passauer Neuen Presse (PNP) deutlich gemacht, dass so etwas für ihn nur nach Neuwahlen infrage kommt. Da er bereits nach den Jamaika-Sondierungsgesprächen durchblicken ließ, dass er in Angela Merkel eines der größten Koalitionshindernisse sieht, kann man das auch als indirekten Hinweis an die CDU verstehen, im Falle einer Neuwahl einen anderen Kanzlerkandidaten aufzustellen - zum Beispiel Jens Spahn, mit dem sich nicht nur Lindner, sondern auch CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt gut verträgt (vgl. Wer wird Merkels Nachfolger?).

Ausgangslage anders als 1976

1976 konnte die CDU eine Abspaltung der CSU abwenden, indem sie drohte, in Bayern mit eigenen Listen anzutreten. Dieses Gerücht macht auch jetzt wieder die Runde. Dem bayerischen Wahlrecht nach müsste die CDU dafür bis zum 2. August 18 Uhr Wahlvorschläge für die sieben Regierungsbezirke einbringen. Weil sie im Bundestag sitzt, fällt zwar die Anzeigefrist zum 16. Juli weg - aber nicht die Verpflichtung, für jeden Bezirk eine einwohnerabhängige vierstellige Zahl von Unterschriften vorzulegen. Bevor diese Unterschriften gesammelt werden können, muss sie in den Regierungsbezirken Versammlungen abhalten. Der bayerischen Wahlleitung zufolge, bei der Telepolis heute anfragte, wäre so ein Vorhaben zwar "sportlich, aber möglich".

Eine andere Frage ist, wie viele CSU-Wähler sich für solche CDU-Listen entscheiden würden - und ob diese Listen nicht den Grünen und der SPD, bei denen die Politik der Bundeskanzlerin einer repräsentativen Civey-Umfrage im Auftrag der Tageszeitung Die Welt nach deutlich besser wegkommt als in der Union, mehr Wähler abspenstig machen würden als der CSU. In diesem Fall wäre ein getrenntes Antreten der Merkelpartei für die Christsozialen keine Drohung, sondern eine Gelegenheit.

Einer anderen Civey-Umfrage für die Augsburger Allgemeine nach plädiert in Bayern eine sehr deutliche Mehrheit von 70,6 Prozent für einen "Bruch der großen Koalition, wenn die CSU sich nicht damit durchsetzt, Flüchtlinge an der Grenze abweisen zu können." Explizit anderer Meinung sind nur 24,1, unentschieden weitere 5,3 Prozent. Zum Vergleich: Die Bayern-SPD liegt in der aktuellen GMS-Landtagswahlumfrage bei 13 Prozent, die Grünen kommen auf 12, die Linken auf zwei.

"Endspiel um die Glaubwürdigkeit"

Der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) zufolge teilen der CSU immer mehr Bürger ihre Meinung in dieser Sache mit: Alleine am Wochenende sollen sich dazu in der Zentrale über 1.800 E-Mails angesammelt haben - fast alle davon forderten die Partei dazu auf, "in der Auseinandersetzung mit Bundeskanzlerin Angela Merkel über die Zurückweisung von registrierten Flüchtlingen an der Grenze hart bleiben." Ein nicht namentlich genanntes Mitglied des Vorstands sagte der FAZ deshalb, es gebe "jetzt kein Zurück mehr": "Das Vorgehen sei zwar riskant, noch viel riskanter sei aber ein Einknicken." Markus Söder hatte gegenüber der CSU-Landesgruppe bereits letzte Woche verlautbart, man befinde sich "im Endspiel um die Glaubwürdigkeit" und die Zurückweisung an der Grenze sei "der Glaubwürdigkeitstest".

Den Eindruck, dass es um Glaubwürdigkeit geht, bekommt man auch in Sozialen Medien, wo den Christsozialen der Wind der Skepsis ins Gesicht bläst: "Seehofer versucht, über den Wahltermin zu kommen! Durchsetzen nein, ankündigen ja! Das war's aber auch schon!", meint beispielsweise ein Alter Schwabacher - und die Jesidin Ronai Chaker weist darauf hin, dass die CSU "drei Jahre Zeit [hatte,] sich gegen die Politik von Merkel zu stellen": "Und was haben sie getan? Richtig, nichts! Und warum? Weil sie innerhalb von diesen drei Jahren nicht vor einer entscheidenden Landtagswahl standen."

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