Koalos, Realos und Fundis

Seilschaften und Kräfteverhältnisse in der frischgebackenen Bundestagsfraktion “Die Linke”

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Soviel Aufbruch war schon lange nicht mehr. Seit Anfang der achtziger Jahre ist zum ersten Mal eine neue Formation in den Bundestag eingezogen, auf die wesentliche Teile der außerparlamentarischen Linken und der von der Sozialdemokratie enttäuschten Wähler ihre Hoffnung setzen. 8,7 Prozent erreichte die Linkspartei bundesweit, und wenn auch die große Mehrheit der 54 Abgeordneten bereits auf dem Ticket der PDS Parlamentserfahrung gesammelt hat, so können doch die neuen Leute der Wahlalternative WASG nicht als deren Fellowtravellers subsummiert werden.

Andererseits: Gab es Erwartungen auf eine unbeugsame Opposition nicht auch in den ersten Jahren der Grünen, die als “Antipartei” (Petra Kelly) nichts weniger als Basisdemokratie, Gewaltfreiheit, Ökologie und Soziale Politik – so ihre vier Grundsätze – versprach? Zehn Jahre später konnte man das meiste schon in der Pfeife rauchen bzw. durch die Mundharmonika pfeifen: Where are all the flowers gone ... Ob die roten Nelken der Sozialisten genauso schnell welken wie die Sonnenblumen?

Fraktionsvorstand der Fraktion "Die Linke" im Deutschen Bundestag bei der Fraktionsklausur in Schmöckwitz. Foto: Linkspartei

Die erste Fraktionsklausur der neuen Truppe Anfang Oktober eröffnete vorläufige Einsichten in die Kräfteverhältnisse – die meisten Parlamentäre waren vordem schwer einzuschätzen, beziehungsweise selbst den Fachjournalisten nicht bekannt gewesen. Die Kraftfelder überlagern sich zum Teil und gruppieren sich im wesentlichen um die Pole Frauen und Männer, WASG und PDS, West und Ost, Sozialdemokraten und Sozialisten sowie – von den Grünen bekannt – Fundis und Realos (für die Jüngeren: Einen Schnellkurs über die Grünen Strömungskämpfe, über Fundis und Realos und so weiter, gibt es hier).

Frauen und Männer

Die Frauen waren zunächst die großen Gewinner bei den Wahlen auf der Fraktionsklausur ( Wahlergebnisse). In den 14köpfigen Vorstand wurden nur fünf Männer gewählt. Im Gegenzug bilden allerdings mit Gregor Gysi und Oskar Lafontaine zwei Polit-Charmeure die Doppelspitze, die zwar Zuspruch beim weiblichen Geschlecht finden, aber nachweislich nicht dazugehören. Auch bei der Wahl für den Posten eines der Bundestagsvizepräsidenten setzte sich mit Lothar Bisky ein Mann gegen die Gegenkandidatin Gesine Lötzsch durch. Eine große Überraschung gab es jedoch bei der Entscheidung über die stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden. Eigentlich waren der bisherige PDS-Wahlkampfleiter Bodo Ramelow und Klaus Ernst, WASG-Frontmann in Bayern, gesetzt. Letzterer musste indes der zuvor weithin unbekannten WASG-Politikerin Inge Höger-Neuling aus Nordrhein-Westfalen das Feld überlassen und war darüber erkennbar sauer.

Dass die Frauen nicht feministisch-stur auf ihren Ansprüchen beharrten, sondern sehr politisch die Inhalte in den Vordergrund rückten, zeigen einige andere Entscheidungen. So wurde von ihnen ohne weiteres ein Novum in der Bundestagsgeschichte akzeptiert, nämlich dass es neben der Brandenburgerin Dagmar Enkelmann einen zweiten gleichberechtigten Parlamentarischen Geschäftsführer geben soll, und zwar das schwäbische Sturmgeschütz Ulrich Maurer (WASG). Bei der Bestimmung des Vorsitzes im Arbeitskreis Außenpolitik erhielt die Ex-Grüne Monika Knoche nur 29 Stimmen, weil auch viele ihrer Geschlechtsgenossinnen den erfahreneren Internationalisten Wolfgang Gehrcke (PDS) bevorzugt hätten. Offenen Widerspruch gegen die Ladies-First-Politik gab es schließlich bei der Wahl für die Vertreterin im Arbeitskreis Wirtschaft. Auch einige Frauen hätten lieber den ausgewiesenen Keynesianer Axel Troost von der WASG gegenüber der von Gysi favorisierten Barbara Höll in diesem Amt gesehen. Doch die Fraktionsregie ließ weder Gehrcke noch Troost zur Kandidatur zu – der Quote wegen. Honi soit qui mal y pense?

Koalos gegen den Rest

Sind die Kategorien Realo und Fundi überholt, wie Katja Kipping meint? Kipping war sächsische Spitzenkandidatin der Linkspartei und hatte während des Wahlkampfes neben Lafontaine und Gysi die stärkste Medienpräsenz ( ). Sie gehört zusammen mit dem ebenfalls neu in Bundestag gewählten Michael Leutert zu einem Kreis junger Politiker, die sich als “emanzipatorische Linke” bezeichnen, mit Marx von der “Assoziation der Produzenten” schwärmen, aber gleichzeitig die Regierungsbeteiligungen der Linkspartei.PDS in den Ländern Berlin und Mecklenburg-Vorpommern sehr loyal kritisieren.

Klar ist, dass es Fundamentalisten im Sinne von Jutta Ditfurth – Ablehnung jeder Form von Regierungsbeteiligung – bei der Linksfraktion nicht gibt. Aber sehr wohl gibt es Unterschiede bei der Bewertung der Regierungsbeteiligung heute (in den erwähnten Bundesländern) oder in naher Zukunft. Interessanterweise stehen bekennenden Sozialdemokraten (die meist aus der WASG und damit meist aus dem Westen kommen) an diesem Punkt keineswegs rechts von bekennenden Sozialisten (meist aus der PDS und damit meist aus dem Osten).

Versuchsweise wird man der Gemengelage gerecht, wenn man neben Fundis und Realos als dritten Begriff noch die Koalos, die Koalitionsfreudigen, einführt. Zu dieser Gruppe, politisch geführt von Gysi, gehören die Architekten der bisherigen Rot-Roten-Regierungsbündnisse, also etwa Lothar Bisky, Roland Claus und Dietmar Bartsch (letztere ohne Ämter in der Fraktion). Sodann die meisten der auf der Klausur gewählten Leiterinnen der Facharbeitskreise: Neben der erwähnten Barbara Höll sind das Petra Pau (Innenpolitik), Martina Bunge (Soziales) und Petra Sitte (Umwelt).

Von ihnen zu unterscheiden wären die Realos, deren Koalitionsneigung geringer ist, vor allem, weil sie erst vor kurzem nach großen Enttäuschungen die SPD verlassen haben. Ihr politischer Kopf ist zweifellos Lafontaine, direkt dahinter stehen Maurer und Ernst. Alle drei haben sich öffentlich mit Lob für die Rot-Roten-Koalitionen in Schwerin und Berlin weitgehend zurückgehalten. Auch die frauenpolitische Sprecherin Karin Binder (DGB und WASG Karlsruhe) und die erwähnten Monika Knoche, Katja Kipping, Michael Leutert und Gesine Lötzsch ( nach ihrer Niederlage gegen Bisky mit dem AK-Vorsitz für Regionalpolitik und Ostdeutschland abgefunden) dürften im Zweifel eher in diesem Lager zu finden sein, ebenso wie der unkonventionelle Ex-Grüne “Haschisch-Richter” Wolfgang Neskovic.

Sehr weitgehende Abneigung gegen Koalitionsspielchen aller Art darf man den Abgeordneten Ulla Jelpke, Diether Dehm, Heike Hänsel und Eva Bulling-Schröter unterstellen. Eventuell wird sich auch die neue Fraktionsvize Inge Höger-Nölling in dieser – nennen wir sie: aufgeklärt-fundamentalistischen - Gruppe wieder finden. Sie schloss explizit und öffentlich ein Bündnis mit der SPD auch für die Zeit nach 2009 aus und will auch die Koalition in Berlin nicht fortgesetzt wissen.

Die große Masse der Abgeordneten ist auch nach der Klausurtagung schwer einem dieser Lager zuzuordnen, da die meisten Abstimmungen geheim erfolgten. In jedem Fall wäre es verfrüht, der Linkspartei schon jetzt denselben politischen Verfall wie den Grünen zu prognostizieren. Viel ist im Fluß.

Im Hintergrund

Eines steht fest: Die Koalos haben in der Fraktion bis dato keine Mehrheit. Ihr Gewicht wird allerdings dadurch erhöht, dass sie wichtige Positionen im Fraktionsapparat mit ihren Leuten besetzen konnten. Missbehagen auf der Klausurtagung wurde insbesondere über die Art und Weise der Wahl des zentralen Mitarbeiterstabes spürbar. Die Stellen waren zuvor nicht ausgeschrieben worden, nicht einmal parteiintern. So gab es keine Alternative zu den vorgeschlagenen Kandidaten, zumeist erfahrene Apparatschiks aus der Parteizentrale im Karl-Liebknecht-Haus, und die ausnahmsweise nicht-geheime Abstimmung machte Kritikern ein Nein zusätzlich schwer. Künftig wird also Wolfgang Grützmacher als Koordinator der Fraktionsspitze wirken, die graue Finanz-Eminenz Uwe Hobler die Gelder verwalten, Ruth Kampa ihren Geschäftssinn als Kennerin der PDS-Schachtelbeteiligungen einbringen und Pressesprecher Hendrik Thalheim weiterhin je nach gusto die Kontakte zu den Medien herstellen – oder auch nicht. Auch Halina Wawzyniak als Justitiarin steht der Berliner Senats-PDS nahe, hat aber gegen die EU-Verfassung votiert.

Diesem Block stehen zwei Vertreter der WASG gegenüber, die es vermutlich als Frischlinge nicht ganz einfach haben werden. Trotzdem unterstützte auch Oskar Lafontaine die in Schmöckwitz abgenickte Mitarbeiterstruktur, da er mit allen Personen in den vergangenen Wochen ein Vertrauensverhältnis aufgebaut habe. Kritiker verweisen auf die starke Stellung des Apparats vor allem in Entscheidungssituationen. Er berät den Fraktionsvorstand, strukturiert wichtige Debatten durch Tischvorlagen, kann Findungsprozesse verlangsamen oder forcieren, Gelder schneller auszahlen oder zurückhalten.