Kobane in Trümmern, Türkei in Flammen
Der Kampf um die Stadt Kobane und um die politische Zukunft der Türkei tritt in eine entscheidende Phase
Der Kampf um die kurdische Grenzstadt Kobane, die seit drei Wochen wütenden Angriffen des Islamischen Staates (IS) ausgesetzt ist, steht auf Messers Schneide. Im Laufe des Tages tobten in nahezu allen Stadtteilen heftige Häuserkämpfe, die immer wieder von Explosionen begleitet wurden. Zugleich entflammten in vielen Städten der Türkei Proteste gegen den Islamischen Staat, bei denen etliche Demonstranten von Sicherheitskräften und Islamisten erschossen wurden.
Seit gut 48 Stunden werden die Verteidiger der Stadt durch gezielte und indirekt koordinierte Luftschläge der US-Flutwaffe unterstützt, doch bleibt die Blockade der Türkei gegenüber der umkämpften Stadt weiterhin bestehen. Offensichtlich hat der internationale Aufschrei über die kaltblütige Taktiererei der Antiterrorkoalition gegenüber den syrischen Kurden (Massakerpolitik) zu einem Umdenken innerhalb der US-Regierung geführt, die nun den hohen symbolischen Wert Kobanes erkannt hat.
Zum ersten Mal hätten die US-Luftschläge "einen gewissen Effekt" gezeitigt, zitierten US-Medien einen Sprecher der Volksverteidigungskräfte (YPG) der Stadt. Sie hätten geholfen, die IS-Kämpfer aus dem Osten Kobanes zu vertreiben, aber die Kämpfe dauern weiterhin an.
Dabei kommt die US-Luftunterstützung offensichtlich zu spät, da sie erst nach dem Einsetzen des Häuserkampfes intensiviert wurde, wo sie nicht dieselbe Wirkung erzielen kann, wie es in den Wochen zuvor der Fall gewesen wäre, als der IS den Ring um die belagerte Stadt immer enger zog und in der umliegenden Geröllwüste ein leichtes Ziel abgab.
Obwohl die Dschihadisten in Teilen der Stadt laut den besagten Angaben der YPG zurückgedrängt werden konnten, bleibt die Lage dramatisch. Die tschetschenischen Eliteeinheiten des IS, die von dem berüchtigten georgischen Terroristen Omar al Shishani geleitet werden, führten gegen Mittag einen brutalen "Enthauptungsschlag" gegen die YPG aus. Ein gepanzerter und mit Sprengstoff vollgeladener LKW wurde im Stadtzentrum unweit des Hauptquartiers der YPG zur Explosion gebracht. Die dadurch ausgelösten Verwüstungen, die sogar den Boden unter den Füßen der Journalisten auf der türkischen Grenzseite beben ließen, überstiegen die Effekte aller einzelnen US-Luftschläge bei weitem.
Umstritten sind die Folgen dieses Terroraktes, der das gesamte Stadtgebiet in einen Rauchschleier hüllte. Die YPG behauptet, den LKW vor Erreichen des Ziels zur Explosion gebracht zu haben, der IS wiederum meldet, bei der Explosion seien viele YPG-Angehörige getötet worden. Inzwischen melden aber auch kurdische Newssites, dass die Kämpfe nun im Zentrum der Stadt toben.
Bislang weigert sich die Türkei weiterhin, die Grenze für kurdische Kämpfer und Waffen- und Munitionslieferungen zu öffnen. Türkische Newssites berichten sogar von Verhaftungen von Mitgliedern der YPG, die zurück nach Kobane gehen wollten, um gegen den IS zu kämpfen.
Diese eiserne Blockade Kobanes stellt somit - neben der offensichtlichen Unterstützung der Dschihadisten durch Ankara - den wichtigsten Grund für die massiven und blutigen Proteste dar, die in weiten Teilen der Türkei in den letzten Tagen aufgeflammt sind. Inzwischen sind 19 Menschen bei den blutigsten Protesten in der jüngsten Geschichte der Türkei getötet worden, wie Reuters am Abend des 8. Oktober meldete. Städte mit einer kurdischen Bevölkerungsmehrheit wie Diyarbakir (Amed) lagen unter einer dichten Rauchwolke. Inzwischen hat die AKP-Regierung eine Ausgangssperre in etlichen Provinzen des Landes verhängt und Militäreinheiten in die betroffenen Städte entsandt.
Dabei tauchen immer mehr Beweise für Schusswaffeneinsatz seitens der Polizeikräfte und deren Kooperation mit islamistischen Kräften auf. Türkische Medien berichteten, dass Islamisten gemeinsam mit Polizisten mitunter mit Schusswaffen bewaffnet auf Jagd nach Demonstranten gingen. Videoaufnahmen belegen, wie türkische Polizisten bei ihren Angriffen auf die Demonstranten "Es lebe ISIS" brüllen.
Die nun eingeleitete innenpolitische Eskalation könnte somit der AKP-Regierung einen willkommenen Vorwand liefern, um die schleichende Islamisierung der Türkei weiter zu forcieren - und die ohnehin erodierenden verbliebenen demokratischen Errungenschaften endgültig zu schleifen.
Kurden: Wir wollen Waffen, keine Intervention!
Die Kurden wollen keinesfalls eine internationale Intervention in Syrien erzwingen - ganz im Gegenteil. Die vor Ort befindliche Reporterin Jenan Moussa machte mehrmals nach Gesprächen mit der lokalen Bevölkerung klar, dass die Kurden keine Intervention des Westens oder gar der Türkei wünschen. Man verlangt ein Ende der Blockade Kobanes.
Auch das Zentrum für kurdische Öffentlichkeitsarbeit Civaka-Azad bemühte sich, die Interventionslust in den deutschen Massenmedien einzudämmen, nachdem das ARD Morgenmagazin die Interviewaussagen des Ko-Vorsitzenden des Kantons Kobane, Salih Muslim, falsch übersetzte:
Heute Morgen im ARD Morgenmagazin wurde Salih Muslim bei einer Liveschaltung interviewt. Dabei wird Muslim so übersetzt, als habe er auch Bodentruppen für Kobane gefordert. Wir haben nochmals telefonisch mit ihm Kontakt aufgenommen. Er verneint solch eine Aussage. Es handelt sich um eine fehlerhafte Übersetzung.
Civaka-Azad
Laut Civaka-Azad habe Muslim gesagt, dass Kobane schwere Waffen und keine ausländischen Bodentruppen brauche. Die Bevölkerung des Kantons sei bereit, ihre Heimat gegen den IS selbst zu verteidigen, doch sei man waffentechnisch unterlegen. Selbst in ihrem verzweifelten Überlebenskampf scheinen die Kurden Kobanes noch instrumentalisiert und ignoriert zu werden.
Zudem scheinen nun die Beziehungen zwischen den USA und der Türkei gänzlich in Scherben zu liegen. Inzwischen nimmt selbst die New York Times kaum noch ein Blatt vor dem Mund, um die heftigen Spannungen zwischen den NATO-Partnern zu charakterisieren. Washington sei "entsetzt ob der Untätigkeit Ankaras", titelte das meinungsbildende Ostküstenblatt.
Erdogan bestehe demnach darauf, dass der Sturz des Assad-Regimes zu einer Priorität der "Antiterrorkoalition" avanciere, was von Washington abgelehnt werde und die Spannungen mit Präsident Obama erhöht habe. Das Weiße Haus räume dem Kampf gegen den Islamischen Staat Priorität ein. Die NYT sprich inzwischen offen von einem möglichen Bruch zwischen Obama und Erdogan. Dies würde die gesamten Antiterrorkoalition gefährden, da die Türkei nicht nur ein NATO-Alliierter ist, sondern auch die wichtigste Transitroute für Ausländer bildet, die in die Reihen des Islamischen Staates aufgenommen werden wollen.