Können Nato und Pentagon einen diplomatischen Ausweg in der Ukraine finden?
Die US-Politik in der Ukraine befindet sich in der Sackgasse. Man befürchtet, nicht mehr ernst genommen zu werden. Daher die Logik: Gegner einschüchtern, trotz der unvorstellbar realen Gefahr einer Eskalation. Was tun?
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der für seine entschiedene Unterstützung der Ukraine bekannt ist, hat kürzlich in einem Fernsehinterview in seinem Heimatland Norwegen seine größte Befürchtung für diesen Winter geäußert: dass die Kämpfe in der Ukraine außer Kontrolle geraten und zu einem großen Krieg zwischen der Nato und Russland führen könnten. "Wenn die Dinge schief gehen", warnte er gravitätisch, "können sie furchtbar schief gehen".
Das war ein seltenes Eingeständnis von jemandem, der sehr stark in den Krieg involviert ist. Es spiegelt den Zwiespalt wider zwischen den jüngsten Erklärungen der politischen Führer der USA und der Nato auf der einen und denen der Militärs auf der anderen Seite.
Die politisch Verantwortlichen scheinen immer noch an einem langen, unbefristeten Krieg in der Ukraine festhalten zu wollen, während militärische Führer wie der Stabschef der Streitkräfte der Vereinigten Staaten, General Mark Milley, sich zu Wort gemeldet und die Ukraine aufgefordert haben, "die Gunst der Stunde zu nutzen" und Friedensgespräche zu führen.
Admiral im Ruhestand Michael Mullen, ein ehemaliger Stabschef, meldete sich als erster zu Wort, vielleicht um Milley auf die Sprünge zu helfen, indem er dem Sender ABC News sagte, die Vereinigten Staaten sollten "alles in ihrer Macht Stehende tun, um zu versuchen, sich an den Verhandlungstisch zu setzen, um diese Sache zu lösen".
Die Asia Times berichtete, dass andere führende Militärs der Nato Milleys Ansicht teilen, dass weder Russland noch die Ukraine einen eindeutigen militärischen Sieg erringen können, während französische und deutsche Militärs zu dem Schluss kommen, dass die stärkere Verhandlungsposition, die die Ukraine durch ihre jüngsten militärischen Erfolge erlangt habe, nur von kurzer Dauer sein werde, wenn man Milleys Rat nicht beherzigt.
Warum also sprechen sich die militärischen Spitzen der USA und der Nato so eindringlich gegen die Aufrechterhaltung ihrer eigenen zentralen Rolle im Krieg in der Ukraine aus? Und warum sehen sie eine solche Gefahr auf sich zukommen, wenn ihre politischen Vorgesetzten ihre Hinweise, auf Diplomatie zu setzen, ignorieren?
Eine vom Pentagon in Auftrag gegebene Studie der Rand Corporation mit dem Titel "Responding to a Russian Attack on Nato During the Ukraine War" ("Wie auf einen russischen Angriff auf die Nato während des Ukraine-Krieges geantwortet werden könne") gibt Aufschluss darüber, was Milley und seine Militärkollegen so alarmierend finden.
In der Studie werden die Möglichkeiten der USA untersucht, auf vier Szenarien zu reagieren, in denen Russland eine Reihe von Nato-Zielen angreift. Das reicht von Angriffen auf US-Geheimdienstsatelliten oder einem Nato-Waffendepot in Polen bis hin zu größeren Raketenangriffen auf Nato-Luftwaffenstützpunkte und Häfen, darunter der US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein in Deutschland und der Hafen von Rotterdam.
Diese vier Szenarien sind allesamt hypothetisch und setzen eine russische Eskalation über die Grenzen der Ukraine voraus. Die Analyse der Autoren zeigt jedoch, wie schmal und brüchig der Grat ist zwischen begrenzten sowie angemessenen militärischen Reaktionen auf eine russische Eskalation und einer Eskalationsspirale, die außer Kontrolle geraten und zu einem Atomkrieg führen kann.
Der letzte Satz der Schlussfolgerung der Studie lautet:
Der mögliche Einsatz von Atomwaffen verleiht dem Ziel der USA zusätzliche Dringlichkeit, eine weitere Eskalation zu vermeiden – ein Ziel, das nach einem begrenzten konventionellen Angriff Russlands immer wichtiger erscheint.
Andere Teile der Studie sprechen sich jedoch gegen eine Deeskalation oder gemäßigte Reaktionen auf russische Eskalationen aus. Sie stützen sich dabei auf dieselben Bedenken hinsichtlich der "Glaubwürdigkeit" der USA, die für verheerende und letztlich sinnlose Eskalationsrunden in Vietnam, Irak, Afghanistan und anderen Kriegen, die verloren wurden, verantwortlich gewesen sind.
Die politische Führung der USA fürchtet stets, dass ihre Feinde (zu denen inzwischen auch China gehört) zu dem Schluss kommen könnten, dass es möglich sei, mit militärischen Mitteln die US-Politik entscheidend zu beeinflussen und die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten zum Rückzug zu zwingen, wenn sie nicht energisch genug auf sie reagieren. Eskalationen, die von solchen Befürchtungen angetrieben werden, haben jedoch stets nur zu noch weitergehenden und demütigenden Niederlagen der USA geführt.
In der Ukraine werden die Bedenken Washingtons hinsichtlich der "Glaubwürdigkeit" dadurch noch verstärkt, dass die USA ihren Verbündeten beweisen müssen, dass der Artikel 5 der Nato – der besagt, dass ein Angriff auf ein Nato-Mitglied als ein Angriff auf alle angesehen wird – eine wirklich wasserdichte Verteidigungspflicht darstellt.
Die US-Politik in der Ukraine befindet sich also in einem Spannungsfeld zwischen dem Bedürfnis nach Feind-Einschüchterung sowie Unterstützung von Verbündeten einerseits und den unvorstellbaren realen Gefahren einer Eskalation andererseits. Wenn die US-Führung weiterhin so handelt wie in der Vergangenheit und auf Eskalation setzt, um nicht an "Glaubwürdigkeit" zu verlieren, wird sie weiter mit dem Atomkrieg flirten. Die Gefahr wird mit jeder Drehung der Eskalationsspirale zunehmen.
Biden und Johnson haben westliche Ukraine-Politik verpfuscht
Während den Kriegsherren und -damen in Washington und den Nato-Hauptstädten langsam dämmert, dass es keine "militärische Lösung" gibt, fließen still und heimlich versöhnlichere Äußerungen in ihre öffentlichen Statements ein. Insbesondere ersetzen sie ihr früheres Beharren darauf, dass in der Ukraine die Grenzen von vor 2014 wiederhergestellt werden müssen – würde eine Rückgabe des gesamten Donbass und der Krim bedeuten –, durch die Aufforderung an Russland, sich nur noch auf die Positionen zurückzuziehen, die vor dem 24. Februar 2022 eingenommen wurden. Dem hatte Russland bei Verhandlungen in der Türkei bereits im März zugestimmt.
US-Außenminister Antony Blinken erklärte am 5. Dezember gegenüber dem Wall Street Journal, dass das Ziel des Krieges nun darin bestehe, "Territorium zurückzuerobern, das seit dem 24. Februar von der [Ukraine] beschlagnahmt worden ist". Das WSJ berichtete, dass "zwei europäische Diplomaten... sagten, dass [der Nationale Sicherheitsberater der USA, Jake] Sullivan dem Team von Selenskyj empfohlen habe, über realistische Forderungen und Prioritäten für die Verhandlungen nachzudenken, einschließlich eines Überdenkens des erklärten Ziels, dass die Ukraine die 2014 annektierte Krim zurückerobert."
In einem anderen Artikel zitierte das Wall Street Journal deutsche Beamte mit den Worten: "Sie halten es für unrealistisch zu erwarten, dass die russischen Truppen vollständig aus allen besetzten Gebieten abgezogen werden", während britische Beamte als Mindestgrundlage für Verhandlungen die Bereitschaft Russlands definierten, "sich auf die Positionen zurückzuziehen, die es am 23. Februar besetzt hatte."
Eine der ersten Handlungen von Rishi Sunak als britischer Premierminister Ende Oktober bestand darin, dass sein Verteidigungsminister Ben Wallace den russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu zum ersten Mal seit der russischen Invasion im Februar anrief. Wallace teilte Shoigu mit, dass Großbritannien eine Deeskalation des Konflikts anstrebe – eine deutliche Abkehr von der Politik der früheren Premierminister Boris Johnson und Liz Truss.
Ein wichtiger Stolperstein, der westliche Diplomaten vom Friedenstisch fernhält, ist die maximalistische Rhetorik und Verhandlungsposition von Präsident Selenskyj und der ukrainischen Regierung, die seit April darauf besteht, dass sie sich mit nichts zufrieden geben wird, was nicht die volle Souveränität über jeden Zentimeter des Territoriums beinhaltet, das die Ukraine vor 2014 besaß.
Diese maximalistische Position ist jedoch eine bemerkenswerte Abkehr von der Position, die die Ukraine bei den Waffenstillstandsgesprächen in der Türkei im März einnahm, als sie sich bereit erklärte, im Gegenzug für einen russischen Rückzug auf Positionen vor der Invasion ihre Ambitionen auf einen Nato-Beitritt aufzugeben und keine ausländischen Militärstützpunkte zu unterhalten. Bei den Gesprächen erklärte sich die Ukraine bereit, über die Zukunft des Donbass zu verhandeln und eine endgültige Entscheidung über die Zukunft der Krim um bis zu 15 Jahre zu verschieben.
Die Financial Times berichtete am 16. März über diesen 15-Punkte-Friedensplan. Selenskyj erläuterte seinem Volk in einer landesweiten Fernsehsendung am 27. März das "Neutralitätsabkommen" und versprach, es einem nationalen Referendum zu unterziehen, bevor es in Kraft treten könne.
Der britische Premierminister Boris Johnson intervenierte jedoch am 9. April und hob das Abkommen auf. Er erklärte Selenskyj, dass das Vereinigte Königreich und der "kollektive Westen" "auf lange Sicht" hinter der Ukraine stünden und sie in einem langen Krieg unterstützen würden, aber keine Vereinbarungen zwischen der Ukraine und Russland unterzeichnen würden.
Das erklärt, warum Selenskyj jetzt so beleidigt ist über westliche Vorschläge, er solle an den Verhandlungstisch zurückkehren. Der in Ungnade gefallene Johnson ist inzwischen zurückgetreten. Er lässt nun Selenskyj und das ukrainische Volk zurück, die sich beide weiter an Johnsons Versprechen hängen.
Im April letzten Jahres behauptete Johnson, er spreche im Namen des "kollektiven Westens", aber nur die Vereinigten Staaten vertraten öffentlich eine ähnliche Position, während Frankreich, Deutschland und Italien im Mai zu neuen Waffenstillstandsverhandlungen aufriefen.
Jetzt hat Johnson selbst eine Kehrtwende vollzogen und schrieb in einem Leitartikel für das Wall Street Journal am 9. Dezember nur noch, dass "die russischen Streitkräfte auf die De-facto-Grenze vom 24. Februar zurückgedrängt werden müssen".
Johnson und Biden haben die westliche Ukraine-Politik verpfuscht, indem sie sich auf eine Politik des bedingungslosen, endlosen Krieges versteift haben, die von den Militärberatern der Nato aus guten Gründen abgelehnt wird: um einen Dritten Weltkrieg zu vermeiden, den Biden selbst zu verhindern versprochen hat.
Die Staats- und Regierungschefs der USA und der Nato machen nun endlich kleine Schritte in Richtung Verhandlungen, aber die entscheidende Frage, mit der die Welt im Jahr 2023 konfrontiert sein wird, ist, ob sich die Kriegsparteien an den Verhandlungstisch setzen werden, bevor die Spirale der Eskalation katastrophal außer Kontrolle gerät.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Nachrichtenmedium Common Dreams. Dort findet er sich im englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.
Medea Benjamin ist die Mitbegründerin von CODEPINK und der Menschenrechtsgruppe Global Exchange. Seit mehr als 40 Jahren setzt sie sich für soziale Gerechtigkeit ein. Sie ist Autorin von zehn Büchern, darunter "Drone Warfare: Killing by Remote Control", "Kingdom of the Unjust: Behind the US-Saudi Connection" und "Inside Iran: The Real History and Politics of the Islamic Republic of Iran". Ihre Artikel erscheinen regelmäßig in Medien wie Znet, The Guardian, The Huffington Post, CommonDreams, Alternet und The Hill.
Nicolas J. S. Davies recherchiert für "CODEPINK: Women for Peace" und ist Buchautor, u.a. von "Blood On Our Hands: the American Invasion and Destruction of Iraq. Zusammen mit Medea Benjamin hat er gerade "War in Ukraine: Making Sense of a Senseless Conflict" veröffentlicht.