Kompromiss für UN-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft nach Verhandlungsmarathon gefunden

Die Zivilgesellschaft ist jedoch mit vielen Punkten unzufrieden, die Deklarationen der Regierung und der Zivilgesellschaft markieren den Spannungsbogen zwischen dem politisch Machbaren und dem gesellschaftlich Wünschbaren

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Um 14.43 Uhr Ortszeit, nach einer weiteren Nachtsitzung vom Montag zum Dienstag und mehrmaligen Unterbrechungen am Dienstag Vormittag, war es vollbracht. Nach zweijährigen Verhandlungen und 18 Stunden bevor der erste Staatspräsident ans Rednerpult des Weltgipfels zur Informationsgesellschaft (WSIS) tritt, erklärte der senegalesische Kommunikationsminister, dass er namens der afrikanischen Staatengruppe den letzten Kompromissvorschlag zur Finanzierung zustimmt (s. a. WSIS: Regierungen einig über Uneinigkeit). Ein Beifallssturm wehte durch den Saal und aus dem altehrwürdigen Völkerbundgebäude hinaus an die Gestaden des Genfer Sees. Staatssekretär Furrer, der den monströsen Verhandlungsmarathon bis zur Erschöpfung moderiert hatte, atmete tief durch. Am Ende wird alles gut.

Mit "Ende gut, alles gut" war einst Sowjetbotschafter Pjotr Abramassimow in die Geschichte der Diplomatie eingegangen, als er am 3. September 1971 auf den Treppen des Schöneberger Rathauses im damaligen Westberlin vor die Fernsehkameras trat und nach zwei Jahren harter Verhandlungen das Vier-Mächte-Abkommen präsentierte. Mit dem Abkommen setzte ein Prozess ein, der nach 17 Jahren und 67 Tagen zum Abriss der "Berliner Mauer" führte. Wie lange wird es dauern, bis die WSIS-Deklaration von Genf den "digitalen Graben" zugeschüttet hat? Auch 17 Jahre? Früher, später oder wann?

Das "Ende gut, alles gut" ist wohl nur die halbe Wahrheit. Natürlich ist es gut, dass das drohende Desaster von Genf, die "Cancunisierung" des hoffnungsvoll gestarteten WSIS-Prozesses, vermieden wurde (Nach Mitternacht ging es nur noch ums Geld). Natürlich ist es gut, dass sich Regierungen, wenngleich auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner, noch irgendwie einigen können in dieser konfliktgeladenen globalisierten Welt. Natürlich ist es gut, dass Fidel Castro und Robert Mugabe und andere Staatsmänner nach Genf kommen und sich zu den Menschenrechten bekennen. Doch die Lobeshymnen, die die Regierungen jetzt auf den WSIS-Erfolg singen, wollen nicht so recht harmonisch daherkommen. Und es ist vor allem die Zivilgesellschaft, die Wasser in den Wein von Genf gießt.

Für die Zivilgesellschaft ist es weniger gut, dass der gigantische Anlauf, den die Weltgemeinschaft für diesen Gipfel genommen hat, zunächst zu nicht viel mehr als zu einem "Luftsprung" geführt hat. Und sie beklagt, dass dort wo Lösungen notwendig gewesen wären, diese diplomatisch auf die lange Bank geschoben wurden. Die Regierungen hätten eine tolle Pirouette gedreht, nicht viel mehr, hört man in den weiten Gängen des PALEXPO in Genf immer wieder.

Unfaire oder notwendige Kritik?

Die Kritik wird von den Regierungen als unfair empfunden. Immerhin sei es gelungen, die Menschenrechte, einschließlich des Rechts auf freie Meinungsäußerung, als Grundlage für die Informationsgesellschaft zu bestätigen. Ja doch, sagt die Zivilgesellschaft, das ist schon okay. Aber eine Weltkonferenz, die zu einem "Status quo minus" geführt hätte wäre ja auch eine Katastrophe.

Um eine Bekräftigung des Ist-Zustandes zu bekommen, hätte man eigentlich nicht zwei Jahre verhandeln müssen. Erwartet hatte man von dem "Cybergipfel" einen "Status quo plus". Der Cyberspace schafft neue grenzenlose Kommunikationsräume und der Weltgipfel zur Informationsgesellschaft wäre der Platz gewesen, um z.B. Artikel 19 der UN-Menschenrechtsdeklaration von 1948, in dem die Meinungsäußerungsfreiheit für das Industriezeitalter fixiert ist, um Zugangs- und Partizipationsrechte für das Informationszeitalter zu erweitern. Das aber ist nicht geschehen.

Oder das Thema geistiges Eigentum und freier Zugang zu Wissen. Die brasilianische Regierung ist stolz darauf, dass sie die Verweise auf WTO- und WIPO-Verträge aus der WSIS-Deklaration rausdiskutiert und das Recht auf freien Zugang zu Wissen reindiskutiert hat. Eine Art Balance zwischen geschlossenen und offenen Wissensräumen in der Informationsgesellschaft. Das ist schon gut und es hätte durchaus schlimmer kommen können, ist hier die Reaktion. Aber, sagt die Zivilgesellschaft, erstens sind diese noblen Grundsätze durch keine Mechanismen untersetzt und zweitens hat man sich die Chance entgehen lassen, differenziertere Verfahren einzuführen die z.B. Unterschiede machen zwischen Eigentumsrechten an geistigen Produkten für die Bildung und an geistigen Produkten für die Unterhaltung.

Ähnlich wird von der Zivilgesellschaft der Paragraph zur Software kritisiert. Gut sei, dass auf "unterschiedliche Softwaremodelle" hingewiesen wird, aber man bleibe an der Oberfläche wie bei Zugangsmöglichkeiten und Kosten stecken. Dass aber Software und Internet-Architektur mit der Öffnung oder Schließung von Bewegungsräumen im Cyberspace zu tun haben und demzufolge mit Rechten und Freiheiten der "Netizens", d.h. der Netzbürger von morgen, bleibt außerhalb der Reichweite der Regierungsdeklaration. Eine weitere verpasste Chance.

Die Regierungen sind natürlich auch stolz auf den Finanzkompromiss. Der gibt der Gruppe von Ländern, die einen freiwilligen digitalen Solidaritätsfonds gründen wollen, freie Hand, dies unter dem WSIS-Banner zu tun. Und er lädt die Staaten ein, die erst noch nachdenken wollen, eine Studie anzufertigen über die Effizienz von vorhandenen Finanzierungsmechanismen. Auch hier sieht die Zivilgesellschaft das Glas eher halb leer als halb voll. Wer greift denn nun wirklich nach dem Genfer Gipfel in die Tasche um WiFi und Internet Access Points nach Zentralafrika oder Mittelasien zu bringen? Nichts Konkretes steht da in den WSIS-Dokumenten.

Zivilgesellschaftliche Messlatte

Weil sich diese Unkonkretheit an der Oberfläche in den Regierungsverhandlungen seit Wochen abzeichnete, hatten die zivilgesellschaftlichen Gremien schon bei PrepCom3 im September beschlossen, eine eigene Deklaration auszuarbeiten (Kollaps beim Endspurt). Die 18seitige Deklaration wird nun zusammen mit einem kurzen "Vision Statement" und einem "Benchmark-Dokument" am Donnerstag der Öffentlichkeit präsentiert. In diesen Dokumenten wird nicht um den heißen Brei herumgeredet, dort kommt man schneller zur Sache und sagt, was notwendigerweise zu geschehen hätte.

Erst wenn man die beiden Deklarationen, die die Regierungen und die Zivilgesellschaft produziert haben, vergleicht, erhellt sich der eigentliche Spannungsbogen zwischen dem politisch Machbaren und dem gesellschaftlich Wünschbaren, der über WSIS liegt. Vielleicht ist gerade die Sichtbarmachung dieser Differenz der eigentliche WSIS-Erfolg. Nie zuvor bei einem UN-Gipfel wurde den Regierungen eine so präzise Messlatte vor die Nase gesetzt, an denen sie sich auf den Weg zur zweiten Gipfelphase nach Tunis wohl oder übel messen lassen müssen.

Dabei wird auch ein Dilemma unserer Zeit sichtbar. Wenn die aus dem 20. Jahrhundert stammenden Mechanismen der traditionellen Diplomatie konfrontiert werden mit den Herausforderungen einer globalisierten Welt. geraten sie an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Während sich die Umwelt mit rasender Geschwindigkeit fortentwickelt, sind die Regierungen durch ihre eingeübten Verhandlungsformalien gefesselt und können sich allenfalls im Schritttempo vorwärts bewegen. Dies führt dazu, dass sich trotz Vorwärtsbewegung die Distanz zwischen dem, was beschlossen wird, und dem, was beschlossen werden müsste, wächst.

Wie können diese dabei entstehenden Leerräume gefüllt werden? Möglicherweise ist dies der Moment, wo die anderen "Stakeholder", die private Industrie und die Zivilgesellschaft, die erstmalig in einen Weltgipfelprozess mehr oder minder direkt mit einbezogen wurden, nicht mehr nur aktiv werden können, sondern wo sie es müssen. Diese "Stakeholder" sind netzwerkartig organisiert und können flexibel auf sich schnell verändernde Umgebungen reagieren. Hier entsteht eine neue Dynamik, die, wenn sie mit Verantwortungsbewusstsein und Legitimität verbunden wird, möglicherweise mehr erreichen kann als ein Regierungskompromiss. Das erstaunliche Wachstum einer zivilisierten Zivilgesellschaft im WSIS-Prozess ist ein interessantes Indiz dafür, wohin die Reise von Genf aus geht.

Esther Dyson, First Lady des Internet und Ex-ICANN-Chair, hat dies am Montag bei einem "Wissenschaftsgipfel" im Genfer Forschungszentrum CERN, wo Tim Barners Lee vor zwölf Jahren das "World Wide Web" erfand, ins Bewusstsein gerufen. Sie appellierte an die Verantwortung jedes einzelnen Internetnutzers, sich bei der Diskussion von Lösungen für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts einzumischen, nicht als "Besserwisser" oder "Kritikaster", sondern als verantwortungsbewusste "Netizens" im Informationszeitalter.

Der Zivilgesellschaftliche WSIS-Koordinierungskreis berichtet:

"Auf dem diese Woche in Genf stattfindenden UN-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft wird es kein freies Internet geben. Anfänglich mit Unglauben aufgenommene Gerüchte haben sich nun bewahrheitet. Der Gipfel, der sich u.a. mit Lösungen zur Überwindung der digitalen Spaltung befasst, geht mit schlechtem Beispiel voran. Alle akkreditierten Besucher bekommen ein auf zwei Stunden begrenztes Zeitkontingent für den Internetzugriff - für die Option während des 5-tägigen Gipfels zeitlich unbegrenzt auf das Internet zugreifen zu können, werden 199 Schweizer Franken verlangt."