Krankheitsbekämpfung und Persönlichkeitsformung
Interview mit Charlotte Jurk über Antidepressiva und Neoliberalismus
Depression ist eine Krankheit, die von den dunklen Seiten einer krisengeschüttelten Konkurrenzgesellschaft zeugt: Einsamkeit, Lethargie und Angstzuständen. Für die Pharmaunternehmen stellt sie einen riesigen Markt dar. Ein Effekt, den Charlotte Jurk in ihrem Buch "Der niedergeschlagene Mensch" untersucht hat.
Frau Jurk, ist Depression eines neues Phänomen oder eine Krankheit, die es schon immer gab, die aber in der letzten Zeit in den Focus der Aufmerksamkeit geraten ist? Was unterscheidet die “neue“ Depression von den altbekannten Formen der Niedergeschlagenheit oder Melancholie?
Charlotte Jurk: Der Begriff der Krankheit ist von den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen er geprägt wird, nicht zu trennen. Egon Friedell hat das ja ganz gut auf den Punkt gebracht, indem er meinte, Krankheiten seien – wie auch Musik oder Architektur – spezifische Hervorbringungen einer Epoche. Der Inhalt dessen, was als "Depression" bezeichnet wird, hat sich in den letzten 100 Jahren fundamental verändert. Traurigkeit und Melancholie galten noch vor 40 Jahren durchaus als angemessene Reaktion oder tiefgründige Auseinandersetzung mit dem persönlichen Schicksal und der Welt, an der wir leiden (müssen). Heute dagegen, und das macht das „Neue“ aus, das uns mit dem ausufernden Begriff der Depression begegnet, haben all diese Gemütszustände den Geruch des Pathologischen an sich, der sie zu einer Angelegenheit der Medizin macht. Depression ist zu einer Metapher des Versagens geworden, eines Versagens, das therapierbar sein soll.
Begriffsmutation
Schaut man sich an, in welcher Weise psychiatrische Experten die Kriterien bestimmen, die für eine Diagnose der Depression notwendig sind, so fällt auf, dass die Messlatte immer niedriger gehängt wird. Während in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts Suizidgedanken als ein entscheidendes Kriterium für das Vorliegen einer Depression galten, reichen heute „Grübelneigung“, „Appetitstörung“, „Libidoverlust“ oder „schnelle Ermüdung“ aus, um als depressiv eingestuft zu werden. In diesem Sinne wäre so gut wie jeder für die Diagnose geeignet.
Hat die ansteigende Depression etwas mit dem Wegbrechen des sozialen Sicherheitsnetzes und der wachsenden Fremdbestimmung der Menschen zu tun, die sich dann auch noch einreden sollen, die Ökonomisierung ihres Lebens wäre ein Schritt zu mehr Selbstkontrolle und Eigeninitiative, sprich: mehr Selbstbestimmung?
Charlotte Jurk: Angesichts der Begriffsmutation der Depression ist es kaum zu beurteilen, ob tatsächlich mehr Menschen depressiv sind, als in vergangenen Zeiten. Tatsache ist jedoch, dass immer mehr Menschen sich therapiebedürftig fühlen. Sicherlich hat das damit zu tun, dass viele Menschen am Arbeitsplatz unter enorm erhöhtem Druck stehen, ihre ganze Persönlichkeit für das Gelingen der Firmenziele einzusetzen. Insofern wird die psychische Befindlichkeit zu einem ganz entscheidenden „Qualitätskriterium“ der Person. Und psychische Abweichung wird zur Gefahr.
Überlastung und Unterforderung
Andererseits ist gerade dieses der Grund für ein zunehmendes Gefühl innerer Leere. Das verordnete Konzept der Autonomie und Selbstbestimmung führt in eine Vereinzelung, die die Angewiesenheit auf den Anderen (als conditio humana) ausblendet. Klaus Dörner beschreibt die moderne Selbstbezogenheit als Mangel an Beanspruchung durch Andere. Letztlich führt genau dieser Mangel dazu, dass das eigene Selbst schwindet.
Hat der gesteigerte Leistungsdruck in der Arbeit nicht auch auf paradoxe Weise eine permanente “Unterforderung“ der in den immer extremer werdenden Spezialtätigkeiten aufgespaltenen und in Teilbereichen beschäftigten Menschen zur Folge, mit der das Selbstwertgefühl verloren geht?
Charlotte Jurk: Die Frage nach der Unterforderung wird in der Tat zu selten gestellt. Schaut man auf die körperlichen Erkrankungen, so wird man feststellen, dass wir heute eher an Unterlastung – der Muskeln, der Sinnesorgane – erkranken. Der Schwund vielfältiger Fähigkeiten geht einher mit dem Ausbilden einseitiger Fähigkeiten. Dazu kommen die technischen Möglichkeiten, den Körper zu designen – ganz nach den Vorbildern, die in den Medien vorgeführt werden. Ähnliches gilt für den seelischen Bereich: Die Indienstnahme der psychischen Ausstattung zum Zweck der Selbstoptimierung ist gang und gäbe. Solchermaßen geeicht auf instrumentelle Zwecke vergeben wir unsere schöne Möglichkeit der kreativen Träumerei, des unbezweckten Beisammenseins, der unvoreingenommenen Aufnahmebereitschaft. Was wir wert sind hängt vom Erfolg des Geplanten und nicht vom Sich-Einstellen des Ungeplanten ab. Seelisch sicher eine Unterforderung.
Spielt es bei der Depression auch eine Rolle, dass die Anforderungen an Konsumenten und Arbeitnehmer extrem unterschiedlich, ja gegensätzlich sind?
Charlotte Jurk: Ist es nicht erstaunlich, wie wenig wir uns über die permanente Befassung mit paradoxen Aufgaben noch wundern? Wir sollen auf der einen Seite unser Selbst gestalten, uns verwirklichen, unser Potential gegenüber der stets lauernden Konkurrenz ausbauen. Andererseits aber sollen wir teamfähig, sozial, ehrenamtlich engagiert und loyal sein. Wir sollen am Arbeitsplatz Eigenständigkeit beweisen in einer Arbeitsumgebung, die alles dem normierten qualitätsgesicherten Prozess unterwirft.
Zunehmende Biologisierung psychischer Krankheiten
Wir sollen flexibel sein und doch spezialisiert. Wir sollen lustvoll konsumieren und gleichzeitig eine vorausschauende, sparsame Altersvorsorge betreiben. Solcherlei Doppelbotschaften können in eine lähmende Handlungsunfähigkeit führen – eines der „unerfreulichsten“ Symptome der modernen Depression. Das Perfide: diese Handlungsunfähigkeit soll sich jeder als individuelles Versagen anlasten.
Ist Depression eine Hype der Pharmaindustrie um damit viel Geld zu verdienen?
Charlotte Jurk: Ja. Die Pharmaindustrie freut sich. Sie rechnet mit permanenten Zuwachsraten zwischen 5 und 10 % bei Medikamenten gegen Depression. Was will man mehr?
Wie schätzen sie die Funktion von Psychopharmaka für depressive Menschen ein? Sind diese Teil der Lösung oder Teil des Problems?
Charlotte Jurk: Nicht umsonst habe ich der Entwicklung der Antidepressiva in meinem Buch breiten Raum gewidmet. Die Entdeckung der Psychopharmaka ist in der Medizin der „Beweis“, dass psychische Krankheiten als körperliche Krankheiten verstanden werden müssen. Wenn Chemie wirkt, so die These, dann ist auch Chemie für die Seelenprozesse verantwortlich zu machen. Das schwächt die Position des psychoanalytischen Denkens und stärkt die Position eines blanken Biologismus in der Erklärung des Menschen. Das Versprechen, den Aus-Schalter für psychisches Leiden zu liefern, haben diese Medikamente niemals einlösen können. Aber ihr Absatz steigt und steigt.
Prozac und Neoliberalismus
Die massenhafte Produktion von Psycho-Drogen hat schon etwas Beängstigendes. Im Laufe der Geschichte von Antidepressiva haben diese es bis heute auf den Status von „Lifestyle-Medikamenten“ geschafft. In Frankreich hat sich die Zahl der verschriebenen Antidepressiva von 1981 bis 2001 versiebenfacht. In Deutschland ist die Verschreibung von Antidepressiva der neuen Generation innerhalb eines Jahres – 2001 auf 2002 – um 25 % gestiegen. Ihre Wirkung wird als unproblematische Methode der Selbstoptimierung und Leidvermeidung gepriesen und ihre Nebenwirkung systematisch banalisiert. Dabei ist die Nebenwirkung dieser Medikamente häufig die, dass man nicht mehr von ihnen lassen kann. Seit 2003 ist es in Großbritannien verboten, Kindern unter 18 Jahren Paroxetan (ein Antidepressivum neuerer Bauart) zu verordnen, weil eine Studie erwiesen hat, dass bei Einnahme ein „3,2-faches Selbstmordrisiko“ bestand. Drei Schulamokläufer in den USA hatten Antidepressiva im Blut, was darauf hinweist, dass die Erregungssteigerung durch das Medikament durchaus zur Gefahr für andere werden kann.
Hat generell das Auftauchen von Prozac etwas mit dem Neoliberalismus zu tun?
Charlotte Jurk: Prozac ist wirklich ein Phänomen. Es enthält einen Wirkstoff, der inzwischen in vielen Antidepressiva enthalten ist und im Fachjargon SSRI (deutsch: Serotoninwiederaufnahmehemmer) heißt. In den USA wurde Prozac ganz offensiv als „Glücksdroge“ auf den Markt geworfen. 1990 – das neoliberale Programm hat seinen Siegeszug angetreten – schreibt der amerikanische Psychiater Peter Kramer ein Buch über Prozac: Jetzt endlich sei es möglich, die eigene Persönlichkeit zu formen. Wozu noch Depression? In Momenten der Schwäche oder der Krise führt diese Pille dazu, dass man sich wieder hineinstürzen kann in Genuss und Konkurrenzkampf.
Depression als Stoffwechselstörung im Gehirn
Noch dazu zügelt Prozac den Appetit, kann insofern der Formung des marktgerechten Körpers nur dienlich sein und Prozac wirkt (angeblich) gegen Ängste und Unsicherheit. Besser hätte eine Droge doch gar nicht in die neoliberale Ideologie gepasst, die da suggeriert, jeder könne alles erreichen, wenn er nur hart genug (an sich) arbeitet. Zur Leistungssteigerung wird Prozac übrigens gern im Leistungssport eingesetzt. Bis zu neuen Pillen täglich, berichtet der Radprofi Jesus Manzani, habe er eingenommen, weil die ihn die auf langen Etappen „härter machen“ und das Hungergefühl vertreiben.
Welche Rolle spielt die aktuelle Gehirnforschung auf dem Gebiet?
Charlotte Jurk: Die Gehirnforschung hat die Meinungsführerschaft auf dem Gebiet der Depression übernommen. Von welchem Psychiater bekommen Sie heute nicht erzählt, dass Depressive an einer Stoffwechselerkrankung des neurologischen Systems leiden? Ivan Illich hat darauf hingewiesen, dass der Systemgedanke - auf den menschlichen Körper angewandt - eine Zäsur in der Geschichte der Medizin markiert. Es geht nicht mehr um Heilung, sondern um „richtige“ Kalibrierung. Und bei der bestimmen wie auch immer ermittelte Normwerte die Richtigkeit. Gerade im Bereich der Hirnforschung wird der Vergleich Gehirn – Festplatte gern bemüht. Der Mensch wird zum Computer gemacht. Verhalten, Meinung, Denken, Fühlen – all dies sind Funktionen der Zentraleinheit Gehirn.
„Gesunde Skepsis wünschenswert“
Die Psychiatrie ist heute in großem Maße biologisiert. Psychische Erkrankung ist in einem solchen Konzept nicht mehr eine Erscheinung sozialer Bezüglichkeiten, sondern psychische Erkrankung ist das Ergebnis von Veränderungen im Neuronen-Netzwerk oder sie hat genetische Ursachen. Eine meines Erachtens gefährliche Entwicklung, zieht sie doch sofort den Willen nach sich, die vermeintlichen Hirnprozesse „zum Besseren“ hin zu steuern. Das Gehirn eines solchen Patienten wird quasi aus seiner Lebensgeschichte, aus seinem sozialen Umfeld entfernt, wird gemessen, gescannt und beurteilt. Von den richtigen Kalibrierungsmitteln – sprich Antidepressiva – wird der Patient von nun an lebenslänglich abhängig bleiben.
Wird es ihrer Einschätzung nach mit einem Umschlagen der Finanz- in eine Wirtschaftskrise zu einer Vermehrung von Depressionserscheinungen kommen?
Charlotte Jurk: Wie die Menschen auf die massenhafte Vernichtung von Arbeitsplätzen reagieren, ist schwer voraus zu sagen. Eines aber ist sicher, der Gang zum Arzt kann im sozialen System häufig von Vorteil sein, um Krankengeldansprüche zu realisieren, gerade wenn man in einer finanziell prekären Situation ist. Und die Ärzte sind im Zuge der Gesundheitsreform auch nicht abgeneigt, vielen Menschen eine chronische Erkrankung zu attestieren, weil sie damit ihre Pauschalentgelte erhöhen können. Depression eignet sich als chronische Diagnose gut.
Wie würde ihrer Meinung nach eine wirksame Therapierung von depressiven Menschen aussehen? Ist dies überhaupt wünschenswert?
Charlotte Jurk: Dass es Verzweiflungszustände gibt, die schier unaushaltbar sind, dass es Depressionen gibt, die auch schwere Wahnzustände mit sich bringen und Menschen an den Rand ihrer Existenz – das soll hier unbestritten sein. Da braucht es Behandlung, intensive Begleitung, Gespräche und Sorge. Gerade das aber droht unter der beschleunigten Apparate- und Psychopharmaka-Psychiatrie unter die Räder zu geraten. Gegenüber der behaupteten „Volkskrankheit“ Depression aber wäre eine gesunde Skepsis wünschenswert. Wünschenswert wäre, wenn wir es lernten, uns wieder gegenseitig mehr aus dem Sumpf zu ziehen.