Krieg erreicht die Heimatfront
Nach dem tödlichen Bombenangriff in Nordafghanistan beschäftigt der Feldzug Parlament und Justiz in Deutschland
Der Afghanistan-Krieg erreicht Deutschland. Nach der Bombardierung zweier Tanklastwagen im Nordosten Afghanistans ist der Krieg ins Zentrum der deutschen Politik – und damit des Wahlkampfes – gerückt. Zum ersten Mal in ihrer Regierungszeit musste Bundeskanzlerin Angela Merkel nach der tödlichen Attacke in einer Regierungserklärung zu dem Feldzug Stellung nehmen. Während die Opposition mehr oder weniger vehement einen Abzug der 4240 deutschen Soldaten aus dem Afghanistan-Krieg fordert, beharrten Merkel und andere Vertreter der großen Koalition auf eine weitere Beteiligung an dem Besatzungsregime. „Deutsche Sonderwege“ seien grundsätzlich keine Alternative, sagte die CDU-Politikerin in ihrer rund 15-minütigen Rede.
Vier Tage zuvor hatten Luftstreitkräfte der NATO nahe der Stadt Kundus zwei Tanklastwagen bombardiert (War der Befehl zum Abwurf der Bomben falsch?). Der Befehl für den Luftangriff kam von dem in der Region zuständigen Kommandeur der Besatzungstruppen, einem Oberst der Bundeswehr. Während der deutsche Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) von 58 Toten spricht, geht ein Zwischenbericht der NATO von 78 Todesopfern aus. Zuvor hatten internationale Medien von bis zu 125 Opfern berichtet, die nach dem Angriff verbrannten.
Neben der Bundeswehr untersucht die NATO und die UNO nun das Geschehen, während sich die deutschen Besatzungstruppen der wachsenden Kritik ihrer Alliierten aus den USA, Frankreich und Großbritannien ausgesetzt sehen. Eine Kernfrage ist derzeit, ob der Bundeswehr-Oberst in vollem Wissen und Gewissen gehandelt hat. Mindestens zwei deutsche Tageszeitungen hatten am Dienstag unter Berufung auf militärische Protokolle über eine „mindestens 20-minütige Aufklärungslücke“ vor dem Angriff berichtet. Zudem ist zu klären, ob die deutschen Truppen von der Präsenz von Zivilisten nahe der Tankwagen wussten. In diesem Fall könnte der Angriff als Kriegsverbrechen geahndet werden. Schon jetzt prüfen Staatsanwaltschaften in Potsdam und Leipzig die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen den in Sachsen stationierten Regionalkommandeur.
Merkel attackiert in Regierungserklärung Kriegsgegner
Im Bundestag verschanzten sich die Akteure am Dienstag indes in ihren politischen Schützengräben. Bundeskanzlerin Merkel bedauerte pflichtgemäß die „möglichen zivilen Opfer“ der Bombardierung. Zugleich wies sie die Kritik an dem Vorgehen deutlich zurück. Sie verbitte sich „Vorverurteilungen“ – sowohl im Inland wie auch im Ausland. Am heutigen Mittwoch reagierten Frankreich und Großbritannien mit neuerlichen Vorwürfen gegen die deutschen Truppen.
Auch Verteidigungsminister Jung rechtfertigte den Angriff, da der deutsche Militär vor Ort eindeutige Beweise darüber gehabt habe, dass die Tankwagen von Aufständischen entführt worden waren. Der für den Angriff verantwortliche deutsche Oberst dürfe nun nicht alleine stehen gelassen werden, sagte Jung laut einem Bericht der Deutschen Presse-Agentur.
Aus der Opposition kamen erwartungsgemäß kritische Stimmen. FDP-Chef Guido Westerwelle übte vor allem Kritik an der Informationspolitik der Bundesregierung. Diese habe mehr zur Verwirrung als zur Aufklärung beigetragen, sagte der Liberale. Härtere Töne kamen von den Grünen. „Ihr Grundsatz lautet: Vertuschen, Leugnen und – wenn das dann gar nicht mehr anders geht – Entschuldigen für das, was Sie vorher bestritten haben“, sagte der Vizevorsitzende der Grünenfraktion im Bundestag, Jürgen Trittin, zu Verteidigungsminister Jung.
Die Linke nutzte die Debatte für einen Frontalangriff auf die Kriegsbefürworter. Der Militäreinsatz in Afghanistan sei gescheitert, sagte Parteichef Oskar Lafontaine. Am späten Nachmittag folgten rund 1000 Menschen einem Demonstrationsaufruf der Linkspartei. In Sichtweite des Reichstagsgebäudes unterstützten sie die Forderung der Linkspartei nach einem sofortigen Abzug der deutschen Truppen aus Afghanistan. „Krieg darf kein Mittel der Politik sein“, sagte Lafontaine auf dieser Kundgebung. Es sei noch nie so viel gelogen worden „wie in diesem Krieg“, so Linksfraktionschef Gregor Gysi.
Debatte reicht weit ins Regierungslager hinein
Die Debatte um den Afghanistan-Krieg reicht weit in das Regierungslager hinein. In der Neuen Westfälischen Zeitung hatte der ehemalige Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) unmittelbar nach dem tödlichen Angriff nahe Kundus eine „Exit-Strategie“ gefordert. "Das ist eine furchtbare Tragödie, die zeigt, dass der Krieg mit all seinen schrecklichen Gesichtern spätestens jetzt (…) bei den deutschen Soldaten voll angekommen ist", sagte er gegenüber dem in Bielefeld erscheinenden Blatt am Wochenende. Die deutsche Vorstellung einer „bewaffneten Entwicklungshilfe“ sei endgültig als Illusion zerplatzt. Im Berliner Tagesspiegel kritisierte die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, Ulrike Merten (SPD), die mangelhafte Informationspolitik des Verteidigungsministeriums. Sie habe versucht, persönlich Kontakt zu Jung aufzunehmen, sagte Merten dem Blatt am Montag, dies sei ihr aber nicht gelungen. "Der Minister täte gut daran, nicht nur die Obleute des Verteidigungsausschusses sondern das gesamte Parlament über den Vorfall zu informieren“, fügte die SPD-Politikerin an.
Bestätigt fühlen sich vor diesem Hintergrund Organisationen der Friedensbewegung. Wer immer noch behauptet, dass es sich beim Bundeswehreinsatz in Afghanistan um einen "Stabilisierungseinsatz" handelt, belüge die Bevölkerung, schreibt die Deutsche Friedensgesellschaft (DFG-VK). Die Eskalation der Gewalt im Krieg gegen Afghanistan sei mit dem Bombardement bei Kundus erneut sichtbar geworden. Die Behauptung, der NATO-Einsatz richte sich gegen Terroristen und sei die Menschen in Afghanistan notwendig, sei ein Schwindel: „Dass bei dem verheerenden Bombenangriff ausschließlich 'Taliban' getötet wurden, glaubt außer dem Verteidigungsminister niemand.“ Franz Josef Jung sei zu einem Sicherheitsrisiko geworden – „für die afghanische Bevölkerung und für die Bundeswehr“.
Weitere Besatzungssoldaten und Zivilisten getötet
Indes spitzt sich die Lage im Kriegsgebiet weiter zu. Am Dienstag wurden bei einem Selbstmordanschlag auf den militärischen Teil des Flughafens der afghanischen Hauptstadt Kabul drei Menschen getötet. Der Angriff, zu dem sich die aufständischen Taliban bekannten, wurde von einem Selbstmordattentäter verübt, der mit einem Geländewagen auf den Flughafen gefahren war. Die Bombe hinterließ in der Nähe eines Kontrollpunktes der NATO-Besatzungstruppen einen tiefen Krater. Es handelte sich bei dem Autobombenanschlag offenbar um eine direkte Antwort auf das NATO-Bombardement wenige Tage zuvor. Bei einem weiteren Angriff der Aufständischen wurde ein 44-jähriger niederländischer Feldwebel getötet.
Die Geschehnisse der vergangenen Tage zeigen vor allen eines: Den ausländischen Truppen in Afghanistan gelingt es entgegen entsprechender Willensbekundungen nicht, die Zivilbevölkerung in dem eskalierenden Krieg zu schützen. Darauf weist auch eine weitere Meldung aus dem erweiterten Kriegsgebiet hin: Ebenfalls am Dienstag starben bei einem Angriff der US-Luftwaffe im pakistanischen Stammesgebiet in der Region Nord-Waziristan mindestens 47 Menschen. Ein unbemanntes Flugzeug hatte zwei Raketen auf ein mutmaßliches Lager der Taliban abgefeuert. Nach Presseberichten wurden dabei auch vier Schulkinder getötet. In der Nähe von Quetta wurde erneut ein Konvoi mit Tanklastwagen für die ISAF-Truppen angegriffen. 8 der Lastwagen brannten vollständig aus. Erst letzte Woche waren 18 Lastwagen zerstört worden.