Krieg gegen die Ukraine: Die Rückkehr der Gebietseroberung

Seite 2: Die Verfehlungen der russischen Außenpolitik

Gegen Michail Gorbatschow, der die Sowjetunion als Staatskonstruktion zu retten suchte, führte in dem Unruhejahr 1991 Boris Jelzin die entscheidenden Schläge. Der direkt gewählte russische Präsident strebte statt Gorbatschow in den Kreml, allerdings als Staatsoberhaupt Russlands. Und keine Grenze, mit denen die Sowjetrepubliken voneinander abgegrenzt waren, wurde von ihm infrage gestellt.

Von einer geopolitischen Katastrophe – egal welchen Ausmaßes – war überhaupt nicht die Rede, als Ende Dezember 1991 über dem Kreml die russische Fahne feierlich aufgezogen wurde.

Deshalb an den Friedensfreund die Frage: Wie hältst du es mit der staatlichen und nationalen Unabhängigkeit, in die sich ehemalige Sowjetrepubliken 1991/92 – vielleicht sogar der Not gehorchend – entließen? Haben sie auf ewige Zeit im Schlepptau Moskauer Außenpolitik zu bleiben? Ist es Verrat an Moskau, wenn sie eigene Wege gehen bis hin zur Freiheit, sich funktionierenden Bündnissystemen und einem wirtschaftlich anziehenden Staatenbund anzuschließen?

Und ist die Frage für den Friedensfreund so abwegig, was denn Moskauer Außenpolitik gegenüber ehemaligen Sowjetrepubliken falsch gemacht hat, versäumt hat, so dass am Ende Waffen sprechen sollen? Und ist Belarus unter Alexander Lukaschenko tatsächlich eine Alternative, wenn die Ukraine – einmal angenommen – aus Moskauer Sicht viel zu weit herausgeschwommen sein sollte?

Eine dritte Frage an den deutschen Friedensfreund bezieht sich auf das außenpolitische Prinzip der Unverletzlichkeit von Staatsgrenzen.

Einst wurde es zu sowjetischen Zeiten in Moskau und verbündeten Hauptstädten hochgehalten als ein Grundprinzip der viel beschworenen europäischen Nachkriegsordnung. Besonders empfindlich reagierten bei diesen Fragen die VR Polen, die ČSSR sowie die DDR, deren jeweilige Existenz von der Unverletzlichkeit der Staatsgrenzen in einem hohen Maße abhing.

Als in der Schlussakte von Helsinki im Sommer 1975 die europäische Nachkriegsordnung mit ihren bestehenden Grenzverläufen von den USA, Kanada sowie den europäischen Ländern bestätigt wurde, wurde das oftmals und wohl zurecht als ein großer Erfolg der Diplomatie der Sowjetunion und ihrer Verbündeten herausgestellt: "Die Teilnehmerstaaten betrachten gegenseitig alle ihre Grenzen sowie die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich und werden deshalb jetzt und in Zukunft keinen Anschlag auf diese Grenzen verüben."

Dass der Westen hingegen viel stärker auf die innenpolitischen Potenziale in einzelnen Ländern setzte, spielte damals noch keine große Rolle. Erst "Solidarność" 1980/81 zeigte die Gefahr an, an der das sowjetische System von innen heraus zerbrechen wird, ohne dass an Grenzen überhaupt noch gerührt werden musste.

Die Grenzen blieben unverletzt, wurden in keiner Weise angetastet, das sowjetische System verschwand dennoch – doch das in Helsinki vereinbarte Prinzip hielt, sicherte zu einem guten Teil den Frieden in Europa.

Polen ist ein anschauliches Beispiel, denn das Land hatte 1993 lauter Nachbarländer, die es 1989 noch nicht hatte: die Bundesrepublik Deutschland, die Russische Föderation, Litauen, Belarus, die Ukraine, die Slowakei und Tschechien. Gegenüber keinem dieser Länder wurden Gebietsforderungen erhoben oder Grenzänderungen verlangt, umgekehrt stellte keines dieser Nachbarländer den gemeinsamen Grenzverlauf infrage oder erhob irgendwelchen Anspruch auf polnisches Gebiet.

Wieso, nun die Frage an den deutschen Friedensfreund, sollte dieses hehre und für Europa so tragfähige Prinzip im Falle der Grenze zwischen Russland und der Ukraine, wie sie seit dem Zerfall der Sowjetunion nun einmal verläuft, nicht mehr gelten? Weil Russland Atommacht sei und einen gesonderten Anspruch auf eine verlässliche Schutz- und Sicherheitszone habe? Weil, wie Putin es sieht und haben will, aus historischen Gründen noch gar nicht richtig geklärt sei, wo die Grenze zwischen Russland und der Ukraine verlaufen könne und verlaufen solle?

Dem Friedensfreund sei erinnert, wie willkürlich und kreuzgefährlich Putin seit 2014 im Osten Europas in Gedanken die Grenzen zieht – quer durch das Nachbarland – und mit Begründungen, die immer verstiegener wurden und weiterhin werden. Hat, so bleibt am Schluss zu fragen, der Westen diesen gefährlichen Irrsinn provoziert?

Dieser Artikel erscheint in Kooperation mit der Zeitschrift WeltTrends.

Dr. Holger Politt, 1958 in Greifswald geboren, studierte Philosophie in Leipzig, promovierte 1994 in Halle /Saale. Seit 2002 Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung, u. a. von 2003 bis 2009 und von 2017 bis 2022 Leiter des Büros der Stiftung in Warschau. Arbeitsschwerpunkte sind Themen zur Zeitgeschichte Polens sowie das polnische Werk Rosa Luxemburgs. Zuletzt erschien Ende 2022 bei VSA in Hamburg das gemeinsam mit Krzysztof Pilawski geschrieben Buch Ein Krieg, der keiner sein sollte. Russlands Überfall auf die Ukraine aus Sicht unmittelbarer Nachbarn. Langjähriger Autor der Zeitschrift WeltTrends.

Holger.Politt@rosalux.org