Krieg gegen die Ukraine: Die Rückkehr der Gebietseroberung
- Krieg gegen die Ukraine: Die Rückkehr der Gebietseroberung
- Die Verfehlungen der russischen Außenpolitik
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Russland möchte mit der Invasion in der Ukraine Grenzen verschieben. Bei deutschen Friedensfreunden bleibt das seltsam unkommentiert. Drei Fragen zum Jahrestag des Krieges.
Seit einem Jahr herrscht Krieg im Osten Europas. Die Entscheidung des russischen Staatspräsidenten, am 24. Februar 2022 militärisch in das Nachbarland einzufallen, um die Ukraine von ihrem bisherigen Weg des Wegdriftens heraus aus dem Moskauer Einflussgebiet gewaltsam zurückzubringen, gleicht einem Rückfall in längst überwundene Zeiten.
Wladimir Putin sah nur noch diesen kriegerischen Weg, um den Interessen Russlands in diesem Teil Europas ihren Ausdruck zu verleihen. Und lange muss der Betrachter zurückblicken, will er einen zweiten Fall solch brachialer Gewalt einer großen europäischen Macht gegen das kleinere und militärisch unterlegene Nachbarland fixieren.
Von der unwahrscheinlichen Dynamik des Geschehens mag gleichsam wie ein Indikator die Haltung der Friedensbewegung in Deutschland zeugen. War man anfangs dort noch geschockt oder wenigstens überrascht, denn nie hätte man Moskau ein solch martialisches Vorgehen gegen den unliebsam gewordenen Nachbarn zugetraut, so musste aber wenigstens der Aggressor verurteilt werden, bevor auf die lange Kette von Gründen verwiesen werden konnte, die Putin zu dieser Entscheidung gedrängt haben sollen.
Die demonstrativ hervorgeholte Friedenstaube musste wenigstens zum größeren Teil dem Angreifer gelten. Nun, ein Jahr später, gilt das Friedenszeichen ununterscheidbar beiden Seiten – dem militärischen Angreifer wie dem Angegriffenen, der sich mit militärischen Mitteln verteidigt.
Das ultimative "Krieg dem Krieg!" gilt dem gesamten militärischen Geschehen auf dem Gebiet der Ukraine. Eine Unterscheidung der beiden kämpfenden Seiten ist immer weniger auszumachen. Auch wenn es so offen nicht gesagt wird, so läuft die Position jetzt darauf hinaus, die kämpfenden Seiten wie in einem Bürgerkrieg auszumachen, in dem jede Einmischung von außen sich verbiete und so wirke wie das Öl, wenn jemand es ins Feuer gießt.
Die entscheidende Frage, die an den deutschen Friedensfreund nach einem Jahr Krieg zu stellen ist, lautet: Wie hältst du es mit der Ukraine?
Auffallend nämlich ist, dass gegen die Ukraine vorgebrachten Vorwürfe schnell und ausreichend bei der Hand sind – das Land sei korrupt, Oligarchie herrsche dort, 2014 sei gegen den rechtmäßigen Staatspräsidenten geputscht worden, überhaupt sei das Land weit entfernt von den westlichen Standards für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, obendrein sei es mit der behaupteten nationalstaatlichen Existenz nicht weit her, es zudem ehemalige Sowjetrepublik, die folglich auch gegenüber Moskau besonderen Spielregeln zu folgen habe und von vornherein begrenzt sei in ihren außenpolitischen Optionen.
Im Grunde sind es wieder jene Stimmen, die bereits nach der Krim-Annexion 2014 eilfertig mit dem Argument operierten, die Halbinsel sei geschichtlich gesehen ohnehin russisch, jedenfalls niemals ukrainisch gewesen.
Während die heutige Ukraine also immer wieder madig gemacht wird, bleibt Putins Russland auffallend unberührt von einem solch scharfen Röntgenblick. Erklärt wird von dem Friedensfreund hingegen die Solidarität mit den leidenden Menschen in der Ukraine – doch die verbleiben merkwürdig abgehoben von ukrainischer Staatlichkeit und dem sich verteidigenden Land als solchem.
Hier mag nun eingeworfen werden, dass die Ukraine ein solch merkwürdig zugerichtetes Land durchaus sein könne, doch selbst dann begründete das in keiner Weise, vom großen Nachbarn aus dem Osten und Norden brutal überfallen zu werden.
Wie man es nun auch dreht, die Ukraine habe den großen Nachbarn provoziert oder herausgefordert, sich jedenfalls so entwickelt oder verhalten, wie es bei einem solchen Nachbarn gefährlich werde, vielleicht aber habe sich die Ukraine auch nur leichtsinnig missbrauchen lassen.
Eine weitere Frage an den Friedensfreund betrifft den Zerfall der Sowjetunion, den Putin für die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts hält.
Dass dieser Zusammenfall des Riesenreiches in erster Linie ein Zusammenbruch des gesellschaftlichen Systems war, auf dem es sich gründete, wird völlig ausgeblendet. Noch wichtiger aber ist, dass der entscheidende Todesstoß für das Sowjetreich ausgerechnet von dem sich neu findenden Russland kam. Die Ukraine spielte dabei kaum eine nennenswerte Rolle; wenn eine, dann die des Mitläufers.