Krieg in Tripolis: Panik unter inhaftierten Migranten

Während sich Salvini und Orbán in Mailand gegenseitig als vorbildliche europäische Grenzhüter feiern

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Die libysche Hauptstadt Tripolis war in den vergangenen Tagen Kriegszone. Es gab Tote, Panzer wurden aufgefahren und schwere Artillerie. Wohngebiete wurden von Querschlägern heimgesucht; Grund waren Konkurrenzkämpfe über die Kontrolle der Stadt, meldet al-Jazeera.

Die beteiligten Milizen kennt hierzulande kaum jemand. Interessent ist, wie al-Jazeera ergänzt, dass die beteiligten Milizen beider Kriegslager allesamt(!) "technisch" der Einheitsregierung (GNA) untergeordnet sind. Daran schließt sich die entscheidende Frage an: Wer kontrolliert sie?

Gesetzlose Gangs bilden ein Kartell

Der Präsidentenrat (PC), dessen Vorsitzender Fayiz as-Sarradsch (häufig in der englischen Transkription zu lesen: Sarraj) der international anerkannte Regierungschef Libyens ist, sowie die Einheitsregierung (GNA) haben ein offizielles Statement abgegeben, in dem sie die Kämpfe als Auseinandersetzung von "gesetzlosen Gangs" bezeichnen und den als gesetzlos erklärten Milizen ankündigen, dass sie sich vor der Justiz zu rechtfertigen haben werden und sich auf Sanktionen gefasst machen müssen.

Geht es nach der 20-seitigen anschaulichen Lagenbeschreibung der Milizenherrschaft in Tripolis, die in diesem Juni erschienen ist, so kann man die Worte von Sarradsch und seiner Regierungsgruppe mit einiger Wahrscheinlichkeit als Fürbitten oder "Worte in den Wind gesprochen" einordnen.

Einer der Autoren des Lageberichts, der deutsche Wolfram Lacher, meldete sich zu den jüngsten Kämpfen mit der Diagnose zu Wort, dass der Konflikt vorprogrammiert war und nun das Risiko bestehe, dass er zu einem größeren Kaliber ausarten könne, wenn nicht über Sicherheitsarrangements verhandelt werde.

Die Hauptthese des Berichts über die Milizen in Tripolis, an dem neben Lacher noch Alaa al-Idriss, ein früherer Mitarbeiter im Bereich des libyschen Innenministeriums in Tripolis, mitschrieb, lautet, dass sich vier Milizen wie ein Kartell Tripolis aufteilen - und dass ihnen keiner wirklich dreinreden kann.

Anders gesagt: "Die Regierung ist gegenüber dem Einfluss der Milizen machtlos." Das wird auch aktuell von beobachtenden Journalisten bestätigt.

Brüchige Abmachungen

Von den vier Milizen, die Lacher und Idriss als Kartellmitglieder nennen - die Special Deterrence Force (SDF), das Tripoli Revolutionaries Battalion (TRB), das Nawasi Battalion und die Abu Slim-Einheit des zentralen Sicherheitsapparats -, taucht ein Name (das Tripoli Revolutionaries Battalion) in einem Bericht des Libya Observers über die Kämpfe seit Sonntag auf.

Als Gegner wird vom Libya Herald die 7te Infanterie Brigade von Tarhuna (einem Ort in der südöstlichen Umgebung von Tripolis) genannt, die auch als Kani/Kaniat-Brigade bekannt ist, weil sie von den Brüdern Kani geführt wird. Trotz aller Unterschiede in den Details sind sich die Berichte in einem einig: Es geht um Territorialansprüche, die so virulent sind, dass Abmachungen zu einem Waffenstillstand überhaupt nicht felsenfest sind.

Der Willkür der Milizen und der Verhältnisse ausgeliefert

Die Milizen verfolgen, wie sich in Tripolis bestätigt, eigene Wege, die nichts mit Stabilität zu tun haben. Das hat, wie es von Sally Hayden geschildert wird, auch Auswirkungen auf ein Migrantenlager oder - gefängnis in Tripolis. Dort herrschte angesichts der Kriegseindrücke Panik.

Was bei Hayden zu lesen oder zu sehen ist, ist ein weiterer Ausschnitt dessen, was zwar in Abständen immer wieder mal als Beschreibung einer Hölle in bekannten Medien aufscheint, aber meist vergessen wird.

Salvini und Orbán: Zwei Vorbilder

So wurden zum Beispiel heute beim Treffen zwischen dem italienischen Nationalisten Salvini und dem ungarischen Nationalisten Orbán nichts davon laut, ob man sich Gedanken darüber macht, welchen erbärmlichen Bedingungen die Migranten ausgeliefert werden, die nach Libyen zurückgebracht werden.

Die beiden "Humanisten" träufelten sich dafür gegenseitig Honig auf den Mund, da doch beide einander Vorbilder, weiser Halt und Heroen sind, wenn es um Migrationspolitik geht.

Nun ist es eine Sache, Grenzpolitik ernst zu nehmen, auf die innenpolitische Lage zu achten, wenn es um Migration geht, oder eben wie in Italien, nachdem man jahrelang allein gelassen wurde, neue Bedingungen an die EU zu stellen; ein anderer, damit verbundener Aspekt sind "Begleiterscheinungen" dieser Politik, wofür sich Orbán und Salvini feiern.

Da wäre Rassismus zu nennen, der immer mehr zur Normalität wird und in der Folge Hetzerei und Jagdszenen, wie man sie in Ungarn beobachtet hat, und anderes Übel, das im Fahrwasser der rechtsnationalen Ansagen mitaufkommt. Ob gewollt oder nicht, beide Politiker distanzieren sich nicht und klüngeln damit.

Man könnte schon darüber laut nachdenken, wie die Konsequenzen einer "Grenzen-dicht"-Politik aussehen sollen, wie man zum Beispiel im Fall Libyen die Unterbringung von Migranten ziemlich schnell verbessern will. Dass das wichtig ist. Es gibt Vorschläge, die in der internationalen Öffentlichkeit geäußert werden, wie zum Beispiel von Othman Belbesi von der Internationalen Organisation für Migration in Libyen.

Weder Salvini noch Orbán denken daran, solches in der Öffentlchkeit anzusprechen. Wichtiger ist ihnen das Nein für die Galerie, das Beifall bringt. Migranten müssen zurückgebracht werden, egal, was das kostet.

Laut Spiegel will Italien nun dafür sorgen, dass die EU-Schiffe der Mission Sophia keine Migranten mehr nach Italien bringt.

Italien begründet die Befehlslage damit, dass die Seenotrettung eben nur ein Teil der Mission sei - ein Trick, der sich in den Statistiken der Mission "Sophia" deutlich widerspiegelt. So haben die beteiligten Bundeswehrschiffe dieses Jahr erst 403 Menschen gerettet. Im Mai, Juni und Juli kamen sie wegen der Befehle der Leitstelle gar nicht erst in die Nähe von Flüchtlingsbooten. Wie viele Menschen durch das Vorgehen der Italiener auf hoher See ertrunken sind, weiß niemand.

Spiegel