Krise und Gemüse

Bosco verticale von Stefano Boeri (Mailand). Bild: Paolo12092017 / CC-BY-SA 4.0

Zur neuen Rolle von Grün in der urbanen Gesellschaft

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Kaum ein Thema ist so eindeutig freudig besetzt wie der Garten, Inbegriff des Schönen und des Angenehmen, Sinnbild der höchsten aller Wonnen: des Paradieses. Die allgemein-menschliche Sehnsucht nach Arkadien stößt im städtischen Kontext freilich schnell an Grenzen. Einerseits. Andererseits eröffnet sie, gerade in jüngerer Zeit, auch neue, ungeahnte Perspektiven.

Da die beschleunigt voranschreitende Verstädterung unserer Welt tiefgreifende Überformungen mit sich bringt, die bisher weder in ihren Auswirkungen voll erfasst werden können, noch als endlicher Prozess absehbar sind, braucht es Visionen, gesellschaftlich getragene Visionen. Und dabei spielt das Attribut "Grün" heute stets eine ganz entscheidende Rolle.

Hierzu ein kleines Streiflicht: Der Internationale Hochhauspreis wurde im November 2014 an den "Bosco Verticale" in Mailand verliehen. Der Architekt Stefano Boeri hat ein Gebäudetandem kreiert, bei dem das Grün in einigen Jahren einen dichten Pelz bildet: An den beiden Häusern, 78 und 122 Meter hoch, wachsen 900 Bäume und 500 Sträucher - tatsächlich eine Art vertikaler Wald, unterbrochen lediglich durch die Fenster. Dabei verändern sich die Fassaden mit den Jahreszeiten: Im Sommer sorgen die Blätter für Schatten, so dass sich die Bauten nicht so stark aufheizen und für ein angenehmes Mikroklima gesorgt ist. Wenn dann im Herbst die Blätter fallen, treffen die wärmenden Sonnenstrahlen ungehindert auf die dahinterliegenden Wände. Eine "grüne" Architektur, die auf ihre Umwelt reagiert - das ist die Vision, die hier, exemplarisch umgesetzt wird.

Wand am Musée du Quai Branly von Patrick Blanc (Paris). Bild: Jean-Pierre Dalbéra / CC-BY 2.0

Zugleich werden weltweit ganze Idealstadt-Visionen lanciert - fundamental im Anspruch, mitunter betörend in den dazu gehörigen Bildern. Vor einiger Zeit ist das Buch "Utopia Forever. Visions of Architecture and Urbanism" erschienen. Über hundert Entwürfe sind darin zu finden, hoffnungsvoll blicken die meisten in die Zukunft. Da wachsen elegant organisch geformte Türme in den blauen Himmel, werden Natur und Technik miteinander versöhnt, aus Prinzipien der Nutzung regenerativer Energie werden Stadtformen entwickelt. Sternenförmige Städte sind mobil wie in den 1960ern die Walking Cities, aus Flugzeugträgern werden mobile Vergnügungsparks, auf künstlichen und schwimmenden Inseln wird Ackerbau betrieben. Der Himmel wird bevölkert, kaum einmal ist Müll oder menschliches Elend zu sehen. Das wirft natürlich Fragen auf: Benötigen wir solche Visionen, um Dinge voranzutreiben? Sind sie eher Reflexionen der Gegenwart, ihrer Ängste und Bedrohung, eine Kritik an herrschenden Zuständen? Oder definieren sie die Grenzen, die wir nie werden überschreiten können?

Viele aktuelle Ansätze jedenfalls verdanken sich dezidiert dem Klimawandel. "A Stronger More Resilient New York", von der Stadtverwaltung im Sommer 2013 verabschiedet, gilt in der US-amerikanischen Metropole als Maßstab künftiger Planungen: Das viel zu knappe Überflutungsgebiet, in dem bereits heute 400.000 New Yorker leben, müsse massiv ausgedehnt werden. Das erfordert flexible Antworten angesichts des Gebäudebestands und der Bedürfnisse von communities.

Hierzu hat die Kopenhagener Bjarke Ingels Group (mit dem programmatischen Kürzel BIG) einen Entwurf vorgelegt. Mag dies zunächst nicht mehr als ein Wunschbild sein - das "BIG U", das sie für Manhattans spektakuläre Landzunge entworfen hat, ist trotzdem verführerisch. Für die Halbinsel ist nunmehr eine grüne, terrassenförmige Böschung vorgesehen, die vornehmlich als Naherholungsgebiet dient: mit Fußgänger- und Radwegen, mit Spiel- und Sportplätzen, mit diversen Zerstreuungsmöglichkeiten.

Hanging gardens of One Central Park (Sydney) von Jean Nouve und Patrick Blanc. Bild: bobarc / CC-BY 2.0

Die neue Wertschätzung der Natur und die tiefgehende Wirkung des Grün kommt freilich nicht von Ungefähr.

Ein wichtiges Indiz etwa konnte man schon im Jahr 2003 unter der Web-Adresse trendimpulse.de finden. Unter der Überschrift "Nature, Incorporated" heißt es dort, dieser Trend "beschreibt eine neue Art des Respekts, Umgangs und Einsatzes der Natur in unserer Gesellschaft". Diese Haltung sei anhand dreier Punkte nachvollziehbar:

1. Innovationsmotor Natur: Die Natur steht Pate für technologische Entwicklungen, organisches Design, genetische Architektur und bestimmt mit ihrer Weisheit das Streben nach Innovationen.

2. Koproduzent Natur: Die Natur bietet Inspiration und Lebensqualität. Ihre unveränderbaren Abläufe sind ein Ruhepol in einer Gesellschaft der Datenhighways und des nie endenden Informationsflusses.

3. Teilhaber Natur: In der modernen Architektur werden Häuser nicht mehr gebaut, sie wachsen. Die Gesellschaft erkennt die Bedeutung von Natur und versucht, eine respektvolle Symbiose aus Mensch, Natur und Technik zu erreichen.

Sichtbarer Ausdruck einer solchen gesellschaftlichen Entwicklung ist etwa das Phänomen des Urban Gardening, das vielerorts in unseren Städten zu besichtigen ist. Es ist höchst bemerkenswert, dass eine neue Ökobewegung die kleinbäuerliche Wirtschaft und Kultur wiederentdeckt hat, ohne sich aufs Land zurückziehen zu wollen.

Urbane Landwirtschaft ist hier der Ausgangspunkt einer Suche nach dem "besseren Leben" in der Stadt, das nicht auf der Ausbeutung von Tieren, Böden und Menschen in der sogenannten Dritten Welt beruht, sondern mit saisonalen und regionalen Qualitäten experimentiert und die lebendigen Beziehungen und Netzwerke zwischen Menschen und Natur intensivieren will - und zwar weit jenseits des monetären Gewinns. (Das Architekturzentrum in Wien übrigens hat dem Thema unlängst eine weithin beachtete Ausstellung gewidmet namens "Hands-On Urbanism - Vom Recht auf Grün").

Baubotanik: mit lebenden Pflanzen lebende Bauwerke konstruieren

Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass der menschliche Bezug zum realen Raum durch die fortschreitende Digitalisierung geringer wird. Im Gegenteil. Mag es auch sein, dass die Dialektik von Stadt und Landschaft neu gedacht werden muss, so darf man doch das urbane Grün getrost als "gesetzt" betrachten. Freilich ist es unabdingbar, über dessen Machbarkeit Rechenschaft abzulegen. Und dabei spielen Aspekte eine Rolle, die auf den ersten Blick wenig "sexy" sind - die Frage von Pflege und Unterhalt etwa, oder die nach Resilienz.

Damit wird deutlich, welche Aufladung das Thema "Grün in der Stadt" in den letzten Jahren erfahren hat (es gibt dazu Weiß- und sogar Grünbücher). Um nun eine kleine Volte zu schlagen und auf ein anderes Extrem hinzuweisen: Eine architektonische Richtung, die sich Baubotanik nennt. Vermutlich eher randständig für die Baubranche, aber durchaus interessant als Zeichen dafür, welche Konjunktur das Thema allgemein hat.

Baubotanik ist ein Kunstwort - und eine Methode, mit lebenden Pflanzen lebende Bauwerke zu konstruieren. Ein wichtiger Protagonist ist Ferdinand Ludwig, der mit dem begehbaren Platanenkubus der Landesgartenschau in Nagold 2012 diesbezüglich eine Art agenda setting betrieben hat. Konstruktiv fußt das Projekt auf der Technik der Pflanzenaddition. Dabei werden in speziellen Behältern wurzelnde Pflanzen derart im Raum angeordnet und so miteinander verbunden, dass sie, nach und nach, zu einer pflanzlichen Fachwerkstruktur verwachsen.

Beim Wettbewerb "Haus der Zukunft" hat Ferdinand Ludwig eine baubotanische Fassade entwickelt. Gefragt war nach Technologien und Produkten, die heute keiner vorhersehen kann. Ludwig hat daraufhin ein Bauwerk vorgeschlagen, bei dem offen bleibt, wie es in Zukunft einmal aussehen wird. Es hat eine selbsttragende Baumfassade, die integraler Bestandteil des Gebäudekonzepts ist. Das soll ein neues Mikroklima erzeugen: Verschattung und Kühlung im Sommer, im Winter ist der Lichteinfall nach dem Laubfall im Herbst gegeben.

Nun wäre es wohl naiv anzunehmen, dass diese Bauweise massentauglich werden wird. Aber sie stellt durchaus eine interessante Erweiterung des Denkraums der Architektur dar. Gemessen an der Exotik der Baubotanik sind grüne Fassaden natürlich ein innovativer und stärker verallgemeinerbarer Beitrag für die Architektur. Zumal sie die Wechselwirkung von urbanen Raum und Energiewende/Klimaschutz betonen bzw. aufgreifen.

Mit begrünten Fassaden lassen sich theoretisch ganze Straßenzüge runterkühlen - was sinnvoll schon deshalb wäre, weil es in der Innenstadt nachts bis zu sieben Grad wärmer ist als im Umland. Doch Kühlung ist bei Weitem nicht der einzige Effekt begrünter Wände. Die Pflanzen nehmen Kohlendioxid auf und produzieren Sauerstoff, verdunsten Wasser und erhöhen so die Luftfeuchtigkeit. Sie absorbieren Lärm und Schadstoffe, fangen Staub aus der Luft, werfen Schatten, halten Regenwasser zurück.

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