Krisenphilosophie: Fit für die Katastrophe

Wir leben in schwierigen Zeiten. Der Philosoph Nikil Mukerj erklärt in seinem Buch, was in der Krise hilft – und warum es nicht ausreicht, gelassen zu bleiben

Spätestens seit Corona erleben die Stoiker eine Renaissance. Unsere Freiheit ist geliehen, unser Einfluss begrenzt: Das sind Erfahrungen, die man in einer liberalen und wohlgenährten Demokratie nicht mehr gewohnt ist. Die Pandemie und zuletzt der Ukraine-Krieg haben sie mit voller Wucht in ihren Alltag zurückgebracht und die Stoiker wurden die Lehrmeister der Wahl, um mit Ungewissheit und Ohnmacht wieder umgehen zu lernen.

Äußere Umstände, über die wir keinen Einfluss haben, so lehren die Stoiker, sollten uns nicht in seelische Bedrängnis bringen. Besser täten wir daran, die Dinge zu ändern, die tatsächlich in unserer Macht stehen: unsere Einstellung zum Beispiel. Anstatt an den Fallzahlen zu verzweifeln, hätte man lieber versuchen sollen, es sich im Lockdown gemütlich zu machen.

Gelassenheit allein ist aber nicht genug, um gut durch die Krise zu kommen, ist der Philosoph und Skeptiker Nikil Mukerji überzeugt. Es komme darauf an, sie zu meistern. In seinem Buch Was in der Krise zählt: Philosophie in Echtzeit beschäftigt sich Mukerji mit dem Corona-Krisenmanagement aus philosophischer Sicht. Seine These: Viele politischen Fehltritte, die im Umgang mit der Pandemie gemacht worden sind, sind auf Denkfehler und philosophische Fehleinstellungen zurückzuführen.

Das lässt sich auf den Umgang mit so gut wie jeder Krise übertragen, von den großen geopolitischen Katastrophen bis hin zum ganz privaten Desaster, vom Ukraine-Krieg und der Wirtschaftsrezession bis hin zu Scheidung und Jobverlust. Aber was kann Philosophie in diesen Zusammenhängen leisten? Mukerji zeigt es in seinem Buch am Beispiel von Corona.

Der eklatanteste Denkfehler geschah gleich zu Beginn der Pandemie und trägt den eigensinnigen Namen "Truthahn-Fehlschluss". Als es zum Infektionsausbruch in China kam, wurde die Gefahr in Europa lange Zeit komplett unterschätzt. "Deutschland ist absolut gut vorbereitet, die Gefahr für Deutschland ist sehr gering", bemerkte beispielsweise Lothar Wieler, der Präsident des Robert-Koch-Instituts, noch am 27. Januar im Morgenmagazin des ZDF.

Maßnahmen, die gleich zu Beginn große Wirkung gezeigt hätten, beispielsweise die Einstellung von Flügen aus China, blieben deshalb ungenutzt. Haben wir die Bedrohung unterschätzt, weil die Datenlage schlecht war – oder konnten wir uns das Ausmaß der Katastrophe schlicht nicht vorstellen?

Genau das ist ein verbreitetes psychologisches Phänomen, erklärt Mukerji:

Wer eine Krise wie die gegenwärtige noch nicht erlebt hat, dem fällt es nicht leicht, sie kognitiv und emotional vorwegzunehmen – auch wenn starke Evidenz existiert, dass die Krise wirklich droht.

Ähnliches geschah, als bis zum Tag der Russischen Invasion in der Ukraine noch immer namhafte Stimmen zu hören waren, die alles als ein harmloses russisches Drohgebaren, einen Bluff, abtaten. Was wir uns nicht vorstellen können, das halten wir nicht für möglich.

Die gelassene Reaktion ist vergleichbar mit der eines Truthahns, das gemästet wird. Jeden Tag bringt ihm der Bauer Futter und der Truthahn denkt, es würde ewig so weitergehen. Dass der Bauer eines Tages ohne Futter in den Stall kommt und ihm den Hals umdreht, würde dem Truthahn nie einfallen. Diese Vorstellung ist zu abwegig von seiner täglichen Erfahrung.

Derselbe Fehlschluss hält uns auch im Alltag oftmals davon ab, die richtigen Entscheidungen zu treffen, vor allem wenn es um vorbeugende Maßnahmen geht. Frühzeitig an die Rente denken? Nein, das Alter ist noch so weit entfernt, das hat mit dem Leben eines 20-Jährigen nichts zu tun. Bei der Hochzeit schon für den Fall einer Scheidung vorsorgen? Auf keinen Fall! Rechtzeitig seine Patientenverfügung ausfüllen und abgeben? Makaber!

Wo wir es bereits ganz gut machen, ist der Straßenverkehr. Der Sicherheitsgurt ist für Nikil Mukerji das Paradebeispiel dessen, was er "Denken auf Vorrat" nennt, also umsichtiges Vorausdenken: "Es ist sehr unwahrscheinlich, dass wir in einen schweren Unfall verwickelt sein werden, und trotzdem sichern wir uns ab."

Wenn wir die Krise meistern wollen, dann ist Risikoabsicherung der Königsweg. Wer auf die Katastrophe vorbereitet ist, kann besser mit ihr umgehen. Schicksalsschläge lassen sich nicht immer abwehren, aber meistens abdämpfen. Der erste Schritt dazu, rät Mukerji, ist das Entwickeln eines Worst Case Szenarios für die wichtigsten Bereiche unseres Lebens: Beziehungen, Beruf, Gesundheit. Das Worst Case Szenario gilt es zu berücksichtigen, selbst dann, wenn wir es für extrem unwahrscheinlich halten oder uns gar nicht vorstellen können. Genauso wie im Straßenverkehr.

Folgende drei Fragen sollten wir uns bei der Risikoabsicherung also stellen:

  1. Was, wenn ich mit meiner Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, dass der Worst Case eintritt, falsch liege? Oder was, wenn ich zwar richtig liege, dieser unwahrscheinliche schlimme Fall aber dennoch eintritt? Wie schlimm wäre dieses Szenario, welches Schadensausmaß wäre mit ihm verbunden?
  2. Welche Maßnahmen könnte ich ergreifen, um mich gegen das Bad Case Szenario abzusichern?
  3. Welche Kosten wären mit diesen Maßnahmen verbunden und in welchem Verhältnis stehen sie zum Schadensausmaß des BadCase Szenarios?

Das Prinzip der Risikoabsicherung ist einfach: Wenn die erwarteten Kosten der Maßnahmen im Verhältnis zum Schadensausmaß und zur Wahrscheinlichkeit des Szenarios hinreichend gering sind, dann sollten wir die Maßnahmen ergreifen.

Es ist jedoch wieder ein Denkfehler, der diese Art von Risikoabsicherung vereitelt. Unter Risikoethikern ist er bekannt als Catch-22 der Prävention: "Typischerweise bekommt man für Präventionsarbeit weder Lob noch Dank. Denn wenn ein Schaden eintritt, war die Prävention offenbar schlecht oder nicht wirksam genug. Passiert dagegen nichts, dann hätte man sich die Mühe sparen können, weil am Ende ja nichts passiert ist. Präventionsarbeit erscheint also immer entweder schlecht oder überflüssig", argumentiert Nikil Mukerji.

Aber was, wenn es für Prävention ohnehin schon zu spät ist, weil der Worst Case, die Katastrophe, eingetreten ist? Für Denken auf Vorrat ist es nun zu spät, stattdessen kommt es auf praktisches Denken an. Um Probleme in Echtzeit zu lösen, müssen wir mit den besten verfügbaren Informationen arbeiten, auch dann, wenn sie weniger verlässlich sind, als wir dies unter normalen Umständen akzeptieren würden. Allein die Möglichkeit, dass eine Maßnahme helfen könnte, ist dann genug, um beherzte Entscheidungen zu treffen.

Für jede Maßnahme könne dabei gelten, was der Risikoforscher Nassim Taleb über das Tragen von Masken angemerkt hat: Wir sollten nicht nur dann Masken tragen, wenn wir über nahezu hundertprozentige Sicherheit verfügen, dass ein Virus durch die Luft übertragen wird und Masken dies verhindern. Wir sollten Masken auch dann tragen, wenn wir nicht wissen, ob das Virus durch die Luft übertragen wird und Masken dies behindern können. Denn die Kosten der Maßnahme sind zwar gering, ihr potenzieller Nutzen ist aber groß.

Für Nikil Mukerj gilt dennoch: Solche Entscheidungen gilt es durch Denken auf Vorrat zu vermeiden. Auch Nassim Taleb warnt schon seit Jahrzehnten vor Pandemien – lange bevor das Virus aus Wuhan die Welt in Schrecken versetzen würde.

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