Kritik am Höcke-Urteil: Warum Meinungsfreiheit uneingeschränkt gelten muss

Seite 2: Zwei Cancel Cultures

Unternehmen gehen derart mit Klagen oder Klagedrohungen gegen investigative journalistische Berichterstattung vor. Parlamente und Regierungen verbieten Protestformen und Meinungen, wie jetzt im Zuge von Israels Gaza-Krieg.

Damit wird das Freiheitsprinzip des demokratischen Austausches vom Staat empfindlich beschädigt, statt der Zivilgesellschaft die freie Debatte und die Schaffung von Regeln zu überlassen.

Auch viele Progressive und Linke unterstützen staatliche Eingriffe in die Meinungsäußerung, um politisch Falsches und Anfeindungen aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Das wird heute unter dem Begriff "Cancel-Culture" gefasst, die tatsächlich nur die winzige Spitze einer viel breiteren politischen Cancel-Culture im Mainstream darstellt.

Die Prinzipienlosigkeit

Die Prinzipienlosigkeit der Einschränkungsbefürworter ist dabei universell. Im Establishment geht man nicht gegen die eigenen Lügen und Verleumdungen vor, wie sie zum Beispiel bei der Stützung westlicher Angriffskriege anzutreffen sind. Linke wollen nicht staatlich eingeschränkt werden, aber ziehen den Kopf ein oder nicken, wenn es Rechte trifft.

Überall, von konservativ bis links, zeigt sich dabei ein tiefes Misstrauen gegenüber den Fähigkeiten der Menschen, der Demokratie und freien Debatte, sich mit Krudem und Falschem auseinanderzusetzen.

Am skurrilsten ist der Doppelstandard bei den Rechtsextremen. Björn Höcke, wie Wilders, Trump und Co., attackieren zwar immer die "Meinungswächter" und fordern "Meinungsfreiheit". Aber wenn Rechte an die Macht kommen, nutzen sie die staatlichen Mittel oft autoritär und brutal, um die für sie unliebsamen Meinungen zu attackieren.

Als Meinungsfreiheit noch was zählte

Wir sind heute weit entfernt von dem, was klassische Liberale und Aufklärer des 18. Jahrhunderts hochhielten. In einer Voltaire zugeschriebenen Äußerung in einem Brief an M. le Riche von 1770 sagte er:

Ich verabscheue, was Sie schreiben, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass Sie weiter schreiben können.

Später schrieb Rosa Luxemburg in einer Kritik an der rigiden Parteidisziplin der Bolschewisten nach der Oktoberrevolution von 1917 in einer berühmt gewordenen Bemerkung:

Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.

Freiheit, die keine ist

Freiheit nur für akzeptable Meinungen und Aussagen ist eben keine Freiheit. Die Meinungsfreiheit muss insbesondere für nicht-akzeptable Meinungen gelten, sonst gibt es keine Meinungsfreiheit.

Das heißt natürlich nicht, dass man Hassreden, Verleumdungen und Lügen akzeptieren oder einfach hinnehmen muss. Es gibt einen Unterschied zwischen der Unterstützung einer Position und der Verteidigung des Rechts, sie zu sagen.

Man muss solchen Äußerungen auch kein Forum bieten, während keiner daran gehindert wird, das Arsenal einer demokratischen Gesellschaft zu nutzen, Inakzeptables mit den Mitteln von Aufklärung, Kritik und Debatte anzugehen und politisch zu bekämpfen.

Was wir von Humboldt lernen sollten

Demokratie ist Reibung, das war die Ansicht von Wilhelm von Humboldt, dem Begründer des Bildungsideals in Deutschland. Der Staat wolle jedoch "Wohlstand und Ruhe", so Humboldt, würge den Streit der Einzelnen ab, während die Menschen "Mannigfaltigkeit und Thätigkeit" anstreben müssten, um sich zu entwickeln.

Wenn Menschen auf Befehl agierten, so fährt er fort, könne man vielleicht bewundern, wenn sie Richtiges und Schönes hervorbringen, aber man verachte zugleich, was sie seien. Sie verhielten sich nicht wie Menschen, sondern wie Werkzeuge in den Händen von anderen.

Ohne Fehler, kein Lernprozess, keine demokratischen Kurskorrekturen, die aus der gesellschaftlich freien Debatte erwachsen, und damit auch kein echter Fortschritt. Es sollte Menschen erlaubt sein, Falsches, auch Grundfalsches und Verletzendes, zu sagen. Denn nur so können Dinge als falsch erkannt werden, nicht durch staatliche Verordnung.

Die wirkliche Gefahr für die Demokratie

Vielleicht sollten wir beginnen, der Bitte des Marquis von Posa an König Philipp II. von Spanien in Schillers Don Carlos nachzukommen: "Geben Sie Gedankenfreiheit." Das könnte unsere Demokratie wieder beleben.

Denn es ist ein Alarmzeichen, dass bei Umfragen heute nur noch 40 Prozent der Befragten in Deutschland sagen, man könne politisch frei reden (1990 waren das noch 78 Prozent). Zudem sagen 44 Prozent heute (gegenüber 16 Prozent 1990), dass man besser vorsichtig sein müsse.

Die Gefahr für unsere Demokratie geht nicht von rechtsextremen Parolen aus, sondern von der Unfähigkeit unserer Gesellschaft, den Menschen nachvollziehbar zu machen, dass es bessere Angebote gibt.