Kritik der monozentrischen Vernunft
Peter Sloterdijks Sphären-Trilogie findet ihren vorläufigen Abschluss im aktuellen Band "Schäume" - ein Versuch, Kultur als Raumgeschichte zu begreifen und eine neue philosophische Anthropologie zu begründen
Ende der siebziger Jahre machte ein philosophisches Buch Furore, das von einer Revolution des Denkens kündete. Von Wespen und Orchideen war darin die Rede, von Vogelgesang, rosaroten Panthern und Rhizomen. Mit den "Tausend Plateaus" von Deleuze und Guattari fand eine Generation der Post-68er ihr diskursives Zuhause im Spiel der verwegen wuchernden Begrifflichkeit, jenseits aller akademischen Borniertheit, dafür aber spielerisch Denkräume öffnend.
Im deutschsprachigen Raum machte bald Peter Sloterdijk mit einer "Kritik der zynischen Vernunft" von sich hören, in der Zynismus als Grundausstattung der Realitätstüchtigkeit in der aufgeklärten Moderne erklärt wurde. Eine Theorie mit Überbietungsgestus, die es verstanden hat, den Bogen von der Zivilisationsgeschichte zur politischen Zeitdiagnose zu schlagen. Die Beobachtung, dass auch ein aufgeklärtes, kritisches Bewusstsein oftmals das Falsche tut, sorgte für eine Erregung in den Feuilletons und machte das Buch zum philosophischen Bestseller. Sein Autor blieb auch danach erfolgreich im Gespräch, weil er stets mit provokanter Geste die großen Fragen zu stellen wusste: das "Zur Welt kommen" und die Rätsel menschlichen Zusammenseins.
Nun, zwei Jahrzehnte später, werden diese Fragen in den "Sphären", wie Sloterdijk sein 'Opus Magnum' nennt, aufgegriffen und grundlegend diskutiert. Auch wenn man noch nichts davon zur Kenntnis genommen hat: der aktuelle Band "Schäume" ist für sich ein lesenswertes Buch, nicht nur brillant geschrieben, sondern auch so, dass Künstler und Designer, Architekten und Techniker, Soziologen und Kulturwissenschaftler, Therapeuten und Berater hieraus eine Fülle von Anregungen entnehmen werden.
Existenzialisierung des Raumes
Schaum freilich ist eine gewagte Metapher für die kulturelle Zustandsbeschreibung, aber es handelt sich keineswegs, wie sich vermuten ließe, um eine kokette Anspielung auf die Cafe-Latte-Generation. Vielmehr steht sie für die Frage nach dem Konstruktionsprinzip des menschlichen Raums. Das Sphären-Projekt insgesamt untersucht die unterschiedlichsten Weisen, die die Suche nach einer "runden" Form auf der Mikro- wie auf der Makroebene annimmt.1 Es mündet in der Frage, welches Raumbildungsgeheimnis hinter der Kulturgeschichte steckt. Im Anschluss an die Existenzialisierung der Zeit (Martin Heideggers "Sein und Zeit" erschien 1927) zielt Sloterdijk direkt auf die Existenzialisierung des Raumes.
Damit beansprucht er nichts weniger als eine atmosphärische Deutung des sozialen Raums, der Raumschöpfung und der damit verbundenen "Immunraum-Produktionen". Sloterdijk schließt an den alten philosophischen Topos an, nach dem der Mensch auf der Suche nach seiner verlorenen Hälfte sei und sich ständig in zumeist unterentwickelten Ergänzungserfahrungen übt, die in Beziehungen und in Sekten oder aber mit Ideologien, Drogen, Alkohol, Haustieren usw. besetzt werden. Schäume bilden außerdem den Gegensatz zum Einheitsdenken und stehen für die Vielheit an Eigenwelten, die Menschen entwickelt haben.
Beispielhaft dafür sind die modernen Apartmenthäuser und ihre Single-Haushalte. Ein großer Teil des Textes widmet sich einer Rekonstruktion der Architekturgeschichte, die diese "Selbstcontainer" entworfen hat. Im Medium der modernen Architektur werde nämlich explizit, wie der Mensch heute in der Welt ist: nicht mehr in einer metaphysischen Einheitssphäre, nicht mehr in eine Kollektivunternehmung eingespannt, sondern als "ko-isolierte Extistenz". Einzelne zelluläre Weltblasen sozusagen, die sich über unterschiedliche Medien (Architektur, Massenmedien, Marktbeziehungen) integrieren und strukturell zu Schaum verdichten.
Jenseits der großen Übertreibung
Wo kein Ganzes mehr ist, kann auch von keiner "Lebenswelt" mehr die Rede sein. Moderne Gesellschaften funktionieren als Reproduktion von Vielheiten. Sloterdijk bekennt, dass der Grundgedanke des Sphärenprojekts Jakob von Uexküll entlehnt ist, einem Zeitgenossen Heideggers, der sich als Pionier der theoretischen Biologie ausführlich der Raumwahrnehmung und der Wirklichkeitskonstruktion von Lebewesen gewidmet hat. Uexküll sprach nicht nur von Umwelt und Innenwelt beim Tier, sondern auch von jener metaphysischen Seifenblase, zu der die Menschen ihre Umwelt bis ins Unendliche aufgeblasen haben. Weil die menschliche Perspektive keine gemeinsame Bühne für alle Lebewesen bietet, muss diese Blase irgendwann platzen. Was übrig bleibt, ist anstelle des einheitlichen "Universums" eine pluralistische Ontologie von Umwelten - Schaum eben.
Sloterdijk nun führt seine Leser/innen durch eine ausführliche Topologie der Weltinseln und Prothesenbauten, und schildert mehr oder weniger geglückte Verfahren der Einschließung, der Ausschließung, und der Übertragung (etwa in Formen der diachronen Strukturbewahrung in Wissensräumen, Erinnerungswelten, und Normenarchitekturen). Immer wieder aufblitzend, kommt die Rolle der Medien (abgesehen eben von der Architektur) für dieses immunologische Verfahren der Postmoderne eher beiläufig zur Sprache. Das Gesellschaftsphänomen freilich wird im expliziten Anschluss an die Medienphilosophie Marshall McLuhans als ein Medieneffekt verstanden, als eine zunehmend "telekommunikative Integration von Nicht-Versammelten".
Ausführliche Beschreibungen und Exkurse richten sich neben unterschiedlichen Weltmodellen (Raumschiff, Treibhaus) auf die selbstbezogenen Rituale alltäglicher Weltanbindung, auf Massenversammlungen in Sportstadien, auf Medienwelten. Parallel zum Text, im dem die theoretische Reflexion sich stets mit amüsant zu lesender Zeitdiagnose abwechselt, zeigt das unkommentierte Bildmaterial des Buches künstlerische Annäherungen an Raumbildungsprozesse.
Verwöhnungsgruppen in der Wohlstandsblase
Die Sphärologie mündet in einer vehementen Kritik am "Verwöhnungstreibhaus", das die Wohlstandsgesellschaft sich als riesigen Brutkasten für allumfassend abgesicherte Existenz errichtet hat. Eine streitbare Explizitmachung Sloterdijks: Seit wirkliche Armut und Not in unserer Kultur exotisch geworden seien, tun sich Gesellschaftskritiker zunehmend schwer, als Anwälte des Realen aufzutreten. Daher begeben sie sich allenthalben auf die Suche nach einklagbaren Opfertatbeständen und bilden so die kuriose Form der "Luxusviktimologie" aus. Erwartet wird darin eine systemische Erledigung und Absicherung des Wohlbefindens, auf Kosten der Formen von direkter menschlicher Solidarität - ein Anspruchsdenken und eine Schadenersatz-Mentalität, die aus dem Verschwinden von realen Sozialumgebungen resultiert.
Solches Querdenken wird freilich manchem in die falsche Kehle geraten. Dafür sorgt auch eine Begrifflichkeit, in die der Autor nach eigenem Bekunden eine Art Missbrauchssicherung eingebaut hat. Sie sträubt sich gegen eine rein positivistische Lektüre. Die manchmal etwas sonderbar anmutende Terminologie ist Teil einer literarischen Strategie, die mit einem gegen den Alltagsgebrauch der Fachbegriffe ironisch verschobenen Sinnhorizont arbeitet.
Sloterdijk will sich nicht in eine Reihe mit Weltanschauungsliteraten stellen, auch nicht mit den ebenso suggestiven wie vagen Kritikern eines "Empire". Er schreibt eine befreite und, vor allem auf Politik und Politiker bezogen, eine von Anwendungsansprüchen gänzlich freie Theorie. Ansonsten aber lässt sich mit diesem gewaltigen philosophischen Exkurs, der sich von akademisch ziselierten kulturwissenschaftlichen Fachdiskussionen wohltuend abhebt, durchaus eine Menge anfangen. Denn die Sphärologie kann nicht zuletzt als eine Forschung nach den wirklichen Quellen von menschlicher Solidarität gelesen werden.
Sloterdijk, Peter: Schäume. Sphären III - Plurale Sphärologie. Suhrkamp Verlag. Mit zahlreichen Abbildungen. 920 Seiten. Leinen. € 49,90. Kartoniert. € 29,90.
Sphären I- III. 3 Bände in Kassette. 2004. 2450 S. Kt. € 79,-