Kurdischer Widerstand: "So sehr ihr IS werdet, so werden wir Kobanê"
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In den kurdischen Gebieten der Türkei formieren sich neue Verteidigungseinheiten namens YPS. Friedensverhandlungen sind nicht in Sicht
Der Ausnahmezustand in den kurdischen Städten dauert an. Erst vor wenigen Tagen hatte Ministerpräsident Erdogan jegliche Forderung nach Autonomie von kurdischer Seite zurückgewiesen und Premierminister Davutoglu kündigte an: "Wir werden sie in den Gräben, die sie ausgehoben haben, begraben."
Abgeordnete der HDP wurden von jedem Treffen mit der Regierung ausgeladen und gegen den Co-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtash, wurde aufgrund der Autonomie-Forderung ein Verfahren wegen Separatismus (Straftaten gegen die Verfassung bzw. die verfassungsgemäße Ordnung) und wegen "Belobigung von Straftätern" eingeleitet. Als Grund dafür wurden seine Aufrufe zur Unterstützung des belagerten Kobanê angeführt.
2015 hatte Demirtash - wegen der Haltung der AKP nach den Wahlen am 07. Juni - , keine Koalition zustande kommen lassen. Mehrere Landkreise und Stadtteile in der kurdischen Region reagierten im Nachhall der Wahlen mit der Erklärung ihrer Autonomie gegenüber dem türkischen Staat. Sie begründeten ihre Haltung mit "massiver Einschüchterung seitens der AKP", die ein besseres Wahlergebnis zu erreichen versuchte.
Der Staat reagierte mit Festnahmen, militärischen Angriffen und dem Einsatz von Spezialeinheiten wie den Esadullah-Teams, welche durch Folter und Terror auf den Straßen für Einschüchterung sorgen sollen.
Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner in der HDP und DBP betonen immer wieder, dass die Selbstverteidigung eine Reaktion auf diese Angriffe war. Der türkische Staat sprach über 50 Ausgangssperren aus. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation IHD sollen zwischen dem 16. August und dem 10.Januar 170 Zivilisten durch staatliche Kräfte ums Leben gekommen sein.
Auch die türkische Menschenrechtsstiftung TIHV geht von einer ähnlichen Größenordnung aus.
Ein ziviler Putsch
Politikerinnen und Politiker der HDP sprechen mittlerweile davon, dass die parlamentarischen Wege verschlossen sind, und werfen der AKP vor, einen "zivilen Putsch" vor. So sagte Besime Konca, Abgeordnete der HDP im Gespräch mit Telepolis:
Die AKP hat alles getan, um die Auseinandersetzungen zu vertiefen, denn dass die HDP die 10% Hürde überschritten hat, bedeutete, dass die Alleinregierung der AKP zu Ende war und eine Demokratisierung der Türkei bevorstehen würde, denn die Struktur der HDP besteht aus den ganzen verleugneten Identitäten und Ethnizitäten. Dass diese Identitäten jetzt im Parlament waren, bedeutet, dass weder AKP noch CHP alleine regieren können würden. Koalitionsregierungen hätten eine Demokratisierung der Türkei bedeutet. Das einzige Ziel nach den Wahlen [vom 7. Juni] war es also, die HDP mit allen Mitteln unter die 10% Hürde zu drücken, zu terrorisieren und die Angriffe auf diese in der europäischen und amerikanischen Öffentlichkeit als Notwendigkeit darzustellen.
Obwohl es nicht gelang, die HDP unter die 10-Prozent-Hürde zu drücken, kam es zu einer absoluten Mehrheit für die AKP - und zu einer weiteren Eskalation in den kurdischen Städten. Der Co-Vorsitzende des Volksrats von Cizre, Mehmet Tunc, erklärte am 29.12. (16. Tag der Ausgangssperre):
Der Staat macht nicht mehr den Unterschied zwischen HDP und PKK. Für den Staat reicht es Kurde zu sein… Von nun an gibt es keinen anderen Weg mehr als den des Widerstandes.
Der Aufbau von Selbstverteidigungseinheiten
Im Zusammenhang mit dem andauernden Ausnahmezustand, mit Ausgangssperren und Heckenschützenangriffen wurden so genannte zivile Verteidigungseinheiten, die YPS, gebildet.
Die Verteidigung des Stadtviertels Sur in Diyarbakir, der Stadt Nusaybin, von Cizre, Yüksekova, Silopi und anderen Orten wurde bisher vor allem von den kurdischen autonomen Jugendorganisationen YDG-H und YDG-K getragen, die organisatorisch autonom agieren, aber ideologisch im Sinne des "Projekts der demokratischen Autonomie" ausgerichtet sind.
Das Projekt wurde vom inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan entwickelt. Außer der PKK wird es laut Aussagen von Kurden auch von großen Teilen der kurdischen Zivilgesellschaft und Parteien wie der HDP und der DBP getragen. Kämpferinnen und Kämpfer der HPG (Guerilla der PKK) befinden sich nach übereinstimmenden Angaben aus den umkämpften Stadtteilen, wie auch Verlautbarungen der PKK nicht oder kaum in den Städten und führen höchstens spezialisierte Kommandoaktionen durch.
Der Soziologe und Konfliktforscher Harun Ercan bestätigte gegenüber BasNews, dass die PKK-Guerilla noch nicht von den Bergen in die Städte gekommen sei, sondern dass der Staat versuche, an Orten wie Cizre, wo es 96% Zustimmung für die HDP gibt, den Willen der Bevölkerung zu brechen und damit einen Präzedenzfall für die ganze Region zu schaffen - die aktuellen Auseinandersetzungen seien darin begründet.
Andererseits stellen die erfolgreichen Verteidigungen der Stadtviertel, neben der absoluten Überlebensnotwendigkeit, für viele eine Befreiung aus der Ohnmacht gegenüber den Operationen des türkischen Staates dar. Dies betont auch Nuda Yadigar, Sprecherin der YPS in Nusaybin:
Alle Stadtviertel werden, wenn es nötig sein sollte, in den Widerstand gehen. Denn wir lassen unser Schicksal nicht vom Staat bestimmen. Darüber bestimmt das Volk. Wenn es nötig ist, werden in ganz Nusaybin Gräben ausgehoben und Barrikaden gebaut. Wir haben hier in einer Straße mit unserem Widerstand begonnen. Wir versuchen ihn auszuweiten. Indem er sich hier ausbreitet, breitet er sich auf ganz Kurdistan aus. …Den Menschen reicht es jetzt. Deswegen machen sie mit. Sie wollen frei leben… Die Menschen werden ihre eigene Kraft erfahren.
Während zu Anfang vor allem die genannten Jugendgruppen in der Verteidigung der Stadtviertel aktiv waren, soll nach kurdischen Angaben mittlerweile an vielen Orten ein "Querschnitt der Bevölkerung" auf den Barrikaden stehen, um das "Eindringen des türkischen Militärs zu verhindern".
Die Gründung der YPS-Botan, einem Zusammenschluss der Verteidigungseinheiten der gesamten kurdischen Botan-Region, bezieht sich ebenfalls auf eine breite Front des Widerstands. So betont auch deren Gründungserklärung dass der Widerstand umfassend organisiert werden müsse, da "den Kampf nicht nur die jungen Frauen und Männer führen, sondern die gesamte Bevölkerung von Botan".
Betont wurde in der Gründungsrede Ende Dezember das Selbstverständnis als Selbstverteidigungseinheit. Hervorgehoben wird ein "aus den Kriegserfahrungen der Vergangenheit resultierendes" Prinzip der demokratischen Autonomie, wonach Gewalt nicht als strategisches Moment, sondern als ultima ratio anzusehen sei und die politische Lösung, die frei von physischer Gewalt sein sollte, im Vordergrund zu stehen habe.
Der Ethnisierung des Konflikts wird eine Absage erteilt. In der Gründungserklärung der YPS-Nusaybin heißt es: "So sehr dieser Kampf ein Kampf des kurdischen Volkes ist, so sehr ist er auch ein Kampf des türkischen Volkes und der ganzen Menschheit."
An den Tagen nach der Gründung der YPS-Botan folgten die öffentlich bekannt gemachte Gründungungen von YPS-Einheiten in Amed, Cizre und Silopi und in anderen Orten, so dass mittlerweile in vielen kurdischen Städten YPS Strukturen bestehen. Aus vielen belagerten Städten werden bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Militär, Polizei und YPS gemeldet.