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Kurioses über die Aufmerksamkeitsstörung ADHS

Einschulung, Migration, alte/neue Bundesländer und warum ist Würzburg so schlimm?

Beim letzten Mal behandelte ich häufige Missverständnisse über die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS [1]. Bei weiteren Recherchen stieß ich auf einige Kuriositäten, über die ich nun meine Leserinnen und Leser informieren möchte:

Hätten Sie gedacht, dass das Alter bei der Einschulung den größten Einfluss auf die ADHS-Diagnose hat? Das konnten sich einige nicht gut vorstellen. Inzwischen habe ich anschauliches Bildmaterial dafür. Und was haben der Migrationshintergrund oder die alten beziehungsweise neuen Bundesländer mit Diagnose und Therapie zu tun? Und wieso wird die Störung in und um Würzburg am häufigsten diagnostiziert?

Was ist ADHS?

Zuerst möchte ich aber noch ein paar Grundlagen vermitteln. Was ist ADHS überhaupt? Vor Jahren erklärte ich bereits, dass es diese Kategorie erst seit den 1980ern gibt (30 Jahre Aufmerksamkeitsstörung ADHS [2]). Seitdem wurde sie von der US-amerikanischen Psychiatrie um den Globus verbreitet. (Dazu immer noch lesenswert: Ethan Watters' "Crazy Like Us: The Globalization of the American Psyche" von 2010, in dem solche Vorgänge an den Beispielen Depression, Magersucht und Schizophrenie veranschaulicht werden.)

Das zurzeit noch in vielen Ländern geltende Diagnosehandbuch ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation, das es seit den 1990ern gibt und seitdem in kleinen Schritten aktualisiert wurde, enthält noch keine ADHS. Das wird sich mit dem neuen ICD-11 ändern, das ab 2022 in vielen Ländern verbindlich werden soll. Darin wird die Störung wie folgt beschrieben (ich übersetze aus dem Englischen). Die Sprache ist etwas kompliziert, typisch Mediziner:

ICD-11, 6A05: ADHS [3]

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung wird durch ein anhaltendes Muster (mindestens sechs Monate) von Aufmerksamkeitsdefizit und/oder Hyperaktivität beziehungsweise Impulsivität charakterisiert, das direkte negative Auswirkungen auf das akademische, berufliche oder soziale Funktionieren hat. Es gibt Hinweise auf Symptome von signifikantem Aufmerksamkeitsdefizit und/oder Hyperaktivität beziehungsweise Impulsivität vor dem zwölften Lebensjahr, üblicherweise in der frühen bis mittleren Kindheit, auch wenn manche Individuen erst später klinisch auffallen mögen.

Das Maß des Aufmerksamkeitsdefizits und der Hyperaktivität beziehungsweise Impulsivität ist außerhalb der Grenzen der normalen Variation, die für das Alter und die intellektuelle Entwicklung zu erwarten sind.

Aufmerksamkeitsdefizit bedeutet die signifikante Schwierigkeit, die Aufmerksamkeit bei Aufgaben aufrechtzuerhalten, die kein hohes Reizniveau oder keine häufigen Belohnungen aufweisen, auf Ablenkbarkeit und Probleme bei der Organisation.

Hyperaktivität bedeutet überschüssige motorische Aktivität und Probleme mit dem Stillsitzen, am auffälligsten in strukturierten Situationen, die eine Selbstkontrolle des Verhaltens erfordern. Impulsivität ist eine Tendenz, auf unmittelbare Reize zu reagieren, ohne die Risiken oder Konsequenzen abzuwägen.

Die relative Gewichtung und die spezifische Ausprägung des Aufmerksamkeitsdefizits und der Hyperaktivität beziehungsweise Impulsivität unterscheidet sich zwischen den Individuen und kann sich im Laufe der Entwicklung verändern.

Damit eine Diagnose gestellt werden kann, müssen Aufmerksamkeitsdefizit und/oder Hyperaktivität beziehungsweise Impulsivität in verschiedenen Situationen oder Umgebungen erkennbar sein (zum Beispiel zuhause, in der Schule, auf der Arbeit, mit Freunden oder Verwandten), können sich wahrscheinlich aber verändern, je nach Struktur und Anforderungen der Umgebung.

Die Symptome lassen sich nicht durch eine andere psychische Störung, Verhaltensstörung oder neuronale Entwicklungsstörung besser erklären und sind auch nicht durch eine Substanz oder ein Medikament bedingt.

Reich der Normen

Wenn von einem "signifikanten Defizit", von "Grenzen normaler Variation", der "üblichen" Entwicklung und vielem Anderem mehr die Rede ist, dann bewegen wir uns im Reich der Normen. Das heißt, gesellschaftliche Akteure und Institutionen (hier: die Weltgesundheitsorganisation auf Grundlage psychiatrischer Gutachter) ziehen eine Grenze dafür, welches Verhalten als normal oder abweichend angesehen wird. In letzterem Fall nennen wir es: Störung.

Das ist insofern nichts Neues, als Gesellschaften das mit moralischen und strafrechtlichen Regeln auch tun. Jemandem etwas ohne dessen Zustimmung wegzunehmen, heißt in der Regel "Diebstahl" und wird bestraft (§ 242 StGB). Solche Regeln/Normen beeinflussen (wortwörtlich: regeln) unser Miteinander.

Bedenkenswert ist bei der Definition im ICD-11 auch, wie das Aufmerksamkeitsdefizit in Bezug zu - ich sage mal salopp: eher langweiligen - Situationen gesetzt wird. Bei dem von mir kürzlich beschriebenen Versuch [4], mit "Denken im Schneckentempo" (engl. Sluggish Cognitive Tempo, SCT) eine neue Form von ADHS zu definieren, war das ein wesentliches Kriterium: hat Schwierigkeiten damit, in langweiligen Situationen wach oder aufmerksam zu bleiben.

Hat der Mensch in einer anderen Situation, bei einer anderen Aufgabe, die er als weniger "langweilig" erfährt, genug Aufmerksamkeit? Reagiert er dann weniger hyperaktiv und impulsiv? Liegt es dann wirklich nur an ihm?

Hieran sehen wir, dass eine psychologisch-psychiatrische Diagnose das Problem im Individuum lokalisiert. Dabei geht es immer um ein Zusammenspiel von Mensch und Umgebung.

Normen vs. Natur

Bleiben wir noch einen Moment bei gesellschaftlichen Normen: Im moralischen Bereich hält sich der Staat eher zurück. Hans dürfte beispielsweise das Essen einer Currywurst unter den ablehnenden Blicken seiner Tochter Petra, einer überzeugten Veganerin, anders erfahren; Petra findet den Pelzmantel ihrer Mutter furchtbar und wird sich wahrscheinlich eher nicht unter Nerzzüchtern ihre besten Freunde suchen.

In Grenzfällen, wie Schwangerschaftsabbruch, Sterbehilfe oder auch dem Inzestverbot (bei einwilligenden Erwachsenen), machen Gesetzgeber und Gerichte aber durchaus auch von moralischen Begründungen Gebrauch. Dann wird - unter Berufung auf humanistische, religiöse, traditionelle oder andere Quellen - ein Standpunkt für allgemeinverbindlich erklärt.

Wenn das Reich der Normen mit der Natur verwechselt wird, entsteht aber ein Problem: Dann scheint es keine gesellschaftliche Festlegung mehr, sondern schlicht ein natürlicher Sachverhalt. Ein bedeutender Unterschied ist, dass man über eine Festlegung, eine Normsetzung streiten und die Grenzen gegebenenfalls anders ziehen kann; wenn sich einem aber eine Flutwelle nähert, wird eine Demonstration oder Diskussion nichts bewirken.

Nun sind seit den 1980ern die Biologische Psychiatrie und Psychologie beziehungsweise die Neuropsychologie (wieder einmal) im Aufwind. Getrieben durch neue Erkenntnisse der Molekularbiologie und neue Bildgebungsverfahren der Medizin - erst die Positronenemissionstomographie, heute vor allem die Kernspintomographie - hat sich im Denken vieler Forscher (wieder einmal) durchgesetzt, psychische Störungen seien Gehirnstörungen.

Schon in der Antike bis ins 19. Jahrhundert gab es die Vorstellung, das Gemüt der Menschen werde durch eine Störung von Körpersäften (Galle, Blut und Schleim) beeinflusst. Im 19. Jahrhundert entwickelten dann deutsche Psychiater modernere Gehirntheorien psychischer Störungen, etwa Wilhelm Griesinger (1817-1868), die Emil Kraepelin (1856-1926) später fortführte.

Wie weit ist man heute, mehr als 170 Jahre später? In den 1970ern wollten die amerikanischen Psychiater ihr diagnostisches Vorgehen, das damals noch stark von Freuds Seelenlehre geprägt war, auf ein wissenschaftlicheres Fundament stellen. Dabei beriefen sie sich explizit auf Kraepelin. 1980 veröffentlichten sie ihr "wissenschaftliches" Diagnosehandbuch DSM-III (in dem übrigens zum ersten Mal die Aufmerksamkeitsdefizitstörung ADS auftauchte).

2013 erschien dann die übernächste große Überarbeitung, das DSM-5. Hierfür hatten sich die Psychiater vorgenommen, endlich Griesingers alten Traum von einem hirnbasierten System wahrzumachen. Geklappt hat es, bei inzwischen mehreren hundert unterschiedenen psychischen Störungen, für keine einzige!

Es soll nun nicht im Detail darum gehen, wie die Forscherwelt auf diesen riesigen Reinfall reagiert. (Zum Teil natürlich mit der gebetsmühlenartig wiederholten, doch unbewiesenen Behauptung, es sei alles viel komplexer, man brauche noch feinere Messverfahren, noch größere Stichproben, noch viel mehr Geld. Eine andere Gruppe interessiert sich wieder mehr für Philosophie und andere Ansätze.)

Stattdessen will ich hier am Beispiel AHDS aufzeigen, was für einen Bedeutungsunterschied es macht, einem Kind eine soziale Normabweichung oder eine Gehirnstörung zu attestieren.

Naturalistischer Fehlschluss

Wir haben oben gesehen, wie die Störung im neuen ICD-11 beschrieben wird. Unter der Annahme, psychische Störungen seien Gehirnstörungen, hat ein Kind, das unter die Beschreibung von ADHS fällt, also eine Gehirnstörung.

Das klingt wie ein natürlicher Sachverhalt: Etwas im Gehirn ist anders, als es sein sollte, als es bei "normalen" Kindern ist. Eine frühere Vorform von ADHS hieß bis weit ins 20. Jahrhundert noch "Minimaler Hirnschaden" [5] (engl. Minimal Brain Damage, MBD). Viele Forscher und Psychiater meinen das ernst.

Kurioserweise bezieht sich die diagnostische Beschreibung aber gar nicht auf das Gehirn, das Nervensystem oder die Gene. Es geht darin schlicht um Verhaltensauffälligkeiten und die verschiedenen Umgebungen, in denen sich ein Mensch befinden kann. Und um das, was als normales oder abnormales Verhalten gilt.

Auch nachdem man viele Jahrzehnte geforscht und viele Hypothesen ausprobiert hat, bleibt es dabei: Manche Kinder, Jugendliche und jetzt auch immer mehr Erwachsene fallen dadurch auf, dass sie in bestimmten Situationen weniger Aufmerksamkeit haben beziehungsweise sich aktiver/impulsiver Verhalten als andere Kinder.

Mit anderen Worten: Gesellschaftliche Akteure - darunter Ärzte, Eltern, Lehrer, Psychologen - legen erst fest, was sie als unangemessenes Verhalten ansehen. Danach suchen Forscher mit Millionenbudget biologische Entsprechungen, finden sie aber nicht. Darum begehen sie mit der Übertragung der sozialen Norm in den Bereich von Biologie und Neurowissenschaften einen Fehler: einen naturalistischen Fehlschluss; sie verwechseln Kultur und Natur.

Ebenso könnte man fragen: Was ist denn die biologische Entsprechung von Diebstahl? Salopp gesagt interessiert es die Natur aber doch gar nicht, wie unsere Gesellschaft ihr Strafrecht ausformuliert. Ebenso wenig interessiert die Flutwelle eine Demonstration. Es handelt sich schlicht um unterschiedliche Sphären.

Aufrechterhaltung der Normalität

Der Status quo muss aus Perspektive der Biologischen Psychiatrie rätselhaft erscheinen. Es bleibt nur die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, in der die "verborgenen Ursachen" der Störungen endlich entdeckt werden. Das Warten wird wahrscheinlich weitere 170 Jahre dauern - und noch viel länger.

Aus historischem Blickwinkel ergibt sich ein stimmigeres Bild: Neben der Polizei und - zumindest traditionell - der Kirche gibt es eine dritte gesellschaftliche Institution für die Aufrechterhaltung der Normalität: die Psychiatrie ("Es geht um die Anpassung des Individuums an die vorherrschende Normalität" [6]). Michel Foucaults Studien zur Geschichte der Psychiatrie sind nach wie vor lesenswert.

Wohlgemerkt, mit der Beschreibung der Geschichte oder des Status quo ist noch kein Werturteil ausgedrückt. Man kann das gut oder schlecht finden, so wie man beispielsweise dem Gesetzgeber den Vorwurf machen kann, zu viele Schlupflöcher ins Steuergesetz eingebaut zu haben - oder auch nicht. Eine Flutwelle kann man jedoch nicht kritisieren. Das ist eine Sphäre jenseits von Argumenten und Moral.

Und so verhält es sich auch mit Gehirnprozessen: Denen macht man keinen Vorwurf; sie sind, wie sie sind. Wenn man also ADHS bloß als Folge einer Gehirnstörung darstellt, entfernt man das Thema aus dem Bereich von Moral und Gesellschaftspolitik. Das mag entschuldigend wirken, verhindert leider aber nicht die Ausgrenzung der Betroffenen. Vor allem lokalisiert es die Problemursache im Individuum.

Sieht man ADHS hingegen als eine Beschreibung von Verhaltensnormen, die sich nachweislich auch alle paar Jahre beziehungsweise Jahrzehnte ändern, dann ist nicht nur das Kind Adressat von Kritik. Auch derjenige, der die Norm setzt, hier also der Psychiater beziehungsweise seine übergeordnete Vereinigung, muss sich für die Grenzziehung verantworten.

Wie zuvor, ist damit noch keine wertende Haltung ausgedrückt. Das Thema ist aber besprechbar, diskutabel, man kann verschiedene Alternativen einbeziehen. Jeder möge selbst entscheiden, welches Modell eher mit einem liberalen Rechtsstaat und einer Demokratie vereinbar ist. Das heißt nicht, dass man alle Regeln aufgibt; das wäre Anarchie. Es heißt, dass man sich darüber offen miteinander verständigt.

Der Einschulungseffekt

Ich habe eingangs versprochen, mich mit einigen kuriosen Fakten über ADHS zu beschäftigen. In meinem letzten Artikel über das Thema schrieb ich bereits kurz über den Einschulungseffekt: In einer Schulklasse haben die jüngsten Kinder die höchste Wahrscheinlichkeit für eine Diagnose. Das ergibt gar keinen Sinn, wenn man ADHS als Gehirnstörung darstellt.

Manche konnten sich das nicht vorstellen, griffen mich in der Diskussion sogar an. Dank den Autorinnen und Autoren des Versorgungsatlas [7] des Zentralinstituts für die Kassenärztliche Versorgung in Berlin kann ich den Effekt jetzt auch anhand einer Grafik verdeutlichen, in der die echten Daten deutscher Schülerinnen und Schüler dargestellt sind:

Der Versorgungsatlas 15/11 beschäftigte sich mit der Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Alter bei der Einschulung und ADHS-Diagnosen gibt. Um die Abbildung zu verstehen, muss man wissen, dass die Kinder jünger sind, je weiter man nach links geht (x-Achse ist der Geburtsmonat). Alle Kinder, die bis zum 30. Juni ein vorgegebenes Alter erreicht haben, kommen in eine Klasse. Wer später geboren, also jünger (und demnach in der Grafik weiter links) ist, wird erst nächstes Jahr eingeschult. Man sieht nun jeweils einen großen Zacken, wenn man sich diesem Stichtag nähert: Die Wahrscheinlichkeit für eine ADHS-Diagnose (y-Achse) nimmt bis zum 30. Juni zu und fällt dann rapide ab. Die kurz danach geborenen Kinder werden im nächsten Jahr die Ältesten in ihrer Klasse sein. Quelle: Amelie Wuppermann und Kollegen, Versorgungsatlas-Bericht Nr. 15/11, DOI: https://doi.org/10.20364/VA-15.11 [8]

Diesen Zusammenhang haben die Forscher ebenfalls für Bundesländer mit einem anderen Stichtag nachgewiesen (Seite 13 im Bericht). Auch dort, wo das Datum in den letzten Jahren gewechselt wurde, konnte man das bestätigen.

International ist der Effekt inzwischen mit Daten von über 15 Millionen Schülerinnen und Schülern in 13 Ländern belegt [9]. Die Wissenschaftler schreiben deutlich, dass dieser Befund nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist: "Insgesamt zeigen 17 der 19 Studien, dass die jüngsten Kinder eines Schuljahres eine erheblich höhere Wahrscheinlichkeit für eine Diagnose und/oder medikamentöse Behandlung hatten als ihre älteren Klassenkameraden." Von den verbleibenden beiden Studien (aus Dänemark), zeigte eine nur einen schwachen Zusammenhang und die andere keinen.

Die deutschen Forscherinnen und Forscher, die den Bericht für den Versorgungsatlas erzeugt haben, beziffern die Unterschiede auch konkret: Bei Kindern der 3. bis 8. Klasse liege die Häufigkeit einer ADHS-Diagnose im Mittel bei 4,8 Prozent. Vergleiche man die im Juni und Juli geborenen Kinder miteinander, liege die Wahrscheinlichkeit für eine Diagnose und medikamentöse Behandlung für die früher Eingeschulten um rund 20 Prozent höher.

Das ist ein beträchtlicher Unterschied! Er ist mit ziemlicher Sicherheit viel größer als alles, was die Hirnforschung oder Genetik bisher über ADHS herausfinden konnte. In das Modell der Biologischen Psychiatrie passt das nicht. Wahrscheinlicher ist vielmehr, dass einige der früher eingeschulten Kinder von ihrer psychologischen Entwicklung her nicht in die Umgebung der Älteren passen.

Regionale Unterschiede

Doch damit noch nicht genug. In einer neueren Untersuchung des Versorgungsatlas wurden regionale Unterschiede bei den ADHS-Diagnosen untersucht. Dabei zeigte sich, dass deren Häufigkeit in vielen Regionen unter 3,3 Prozent liegt, in anderen hingegen über 5,6 Prozent.

Konkret machten die Forscherinnen und Forscher zwei Regionen aus, in denen die Störung besonders selten diagnostiziert wurde: erstens Darmstadt/Frankfurt/Offenbach und Umgebung; zweitens Reutlingen/Stuttgart/Tübingen und Umgebung. Über Jahre hinweg hatte Offenbach mit unter zwei Prozent die niedrigste Rate.

Umgekehrt fanden sie vier Regionen mit besonders vielen Diagnosen: erstens Landau/Neustadt/Speyer und Umgebung; zweitens Celle, Goslar, Hildesheim und Umgebung; drittens Gera und Umgebung; und schließlich viertens Aschaffenburg, Erlangen, Würzburg und Umgebung. Würzburg hatte über Jahre hinweg mit rund zehn Prozent die höchste Rate.

Die Abbildung links (A) zeigt Unterschiede bei den ADHS-Diagnosen für Kinder und Jugendliche von 5 bis 14 Jahren im Jahr 2016, nach Kreis. Die Abbildungen rechts (B) identifiziert Regionen, bei denen sowohl 2009 als auch 2016 eine besonders niedrige (grün) oder besonders hohe (rot) Häufigkeit der Diagnosen vorlag. Quelle: Manas K. Akmatov und Kollegen, Versorgungsatlas-Bericht Nr. 18/02, DOI: https://doi.org/10.20364/VA-18.02 [10]

Das bedeutet: Wenn eine Familie mit ihren Kindern von Offenbach nach Würzburg umzieht, dann verfünffacht(!) sich die Wahrscheinlichkeit, dass der Nachwuchs ADHS diagnostiziert bekommt. Die Karte zeigt auch für kleinere Abstände schon erhebliche Unterschiede.

Unter den Bundesländern hatte Hessen mit drei Prozent die niedrigste Quote. Im benachbarten Rheinland-Pfalz war sie mit 5,4 Prozent fast doppelt so hoch. Insgesamt waren im Zeitraum 2009 bis 2016 die Diagnosen in dünn besiedelten ländlichen Kreisen häufiger als in kreisfreien Städten.

Kuriose Unterschiede

Solche Unterschiede sind äußerst kurios. Die Forscherinnen und Forscher haben darum verschiedene Faktoren in statistische Modelle einfließen lassen, um sie zu erklären. Einen hundertprozentigen Beweis gibt es hier nicht. Doch der schlüssigste Befund lautet wie folgt:

Kinder und Jugendliche aus Kreisen mit einem niedrigen Anteil an Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit hatten eine ca. 1,3-fach erhöhte Chance für eine ADHS-Diagnose im Vergleich zu Kindern aus Kreisen mit einem höheren Ausländeranteil. […] Ebenfalls war die Dichte von Kinder- und Jugendpsychiatern signifikant mit der ADHS-Diagnose assoziiert.

Versorgungsatlas-Bericht Nr. 18/02, S. 16

Einerseits gab es also dort die meisten Diagnosen, wo die wenigsten Ausländer wohnten. Andererseits stieg die Wahrscheinlichkeit für eine Diagnose mit der Anzahl der Psychiater. Letzteres ist auch für andere Störungen und die Anzahl der Psychotherapeuten ein bekannter Befund.

Das kann man jetzt positiv oder negativ sehen: Sind die Kinder von Eltern ohne deutsche Staatsangehörigkeit unterdiagnostiziert oder ist der Nachwuchs von Eltern mit deutschem Pass überdiagnostiziert?

Tolerieren Erstere vielleicht größere Unterschiede bei der Aufmerksamkeit oder Impulsivität ihrer Kinder als Letztere? Unterscheiden sich die Kulturen in der Bereitschaft, bei Erziehungsproblemen zum Psychiater zu gehen? Oder erwarten die Eltern mit deutscher Staatsangehörigkeit von ihrem Nachwuchs mehr Aufmerksamkeit und Selbstkontrolle, insbesondere im schulischen Umfeld?

Man müsste wissen, wie häufig ADHS wirklich vorkommt. Wie ich erst kürzlich schrieb, schätzen unterschiedliche Studien die Prävalenz auf 2 Prozent bis 18 Prozent [11], unterscheiden sich also um den Faktor neun! Wir haben oben gesehen, wie vage die Kriterien für ADHS sind. Es gibt unter Forschern schlicht keinen eindeutigen oder objektiven Maßstab hierfür. Zudem ändern sich die Kriterien im Laufe der Zeit.

Die hier beschriebenen Unterschiede haben wohl eher nichts mit den Genen oder Gehirnen der Kinder zu tun. Andernfalls hätten übrigens deutsche Staatsbürger mehr Gen- oder Gehirnprobleme als Zuwanderer, hätten sie eher einen "Hirnschaden". Das vorliegende Bild lässt sich stattdessen soziokulturell verstehen.

Übrigens kann es auch zwischen Städten innerhalb eines Bundeslands erhebliche Abweichungen geben: Im Gesundheitsatlas Bayern für 2019 [12] kann man beispielsweise vergleichen, dass in Würzburg rund 8.900 Personen pro 100.000 gesetzlich Versicherten wegen ADHS behandelt wurden; in München waren es mit rund 4.300 weniger als die Hälfte. (Dank an den Medizinblogger Joseph Kuhn für den Hinweis.)

Ost und West

In der Häufigkeit der Diagnosen zeigt sich zwischen den alten und neuen Bundesländern zwar kein deutlicher Unterschied. Zum Beispiel ist die Prävalenz von ADHS in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin-Brandenburg eher niedrig (3,7 Prozent), in Thüringen eher hoch (5,0 Prozent). Ärztinnen und Ärzte in Ost und West verschreiben aber unterschiedliche Medikamente.

Ein drittes und letztes Mal beziehe ich mich auf den Versorgungsatlas, jetzt einen Bericht aus dem Jahr 2019 [13]. Dieser untersuchte Trends bei den Medikamentenverschreibungen gegen ADHS. Insgesamt griff man bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 5 bis 14 Jahren seit 2010 übrigens seltener zum Rezeptblock. Bis 2016 sank die Verschreibungsrate von rund 50 Prozent auf 45 Prozent.

Das heißt, dass die Mehrheit der Kinder nach einer ADHS-Diagnose keine Medikamente mehr bekam. Übrigens ging es um mindestens eine Verschreibung im Jahr. Die Zahlen bedeuten also nicht, dass 45 Prozent bis 50 Prozent der diagnostizierten Kinder die Mittel durchgängig nahmen.

Im Vergleich zwischen Ost- und Westdeutschland fällt aber auf, dass in den neuen Bundesländern ein Medikament, das auf den Botenstoff Noradrenalin im Gehirn wirkt, häufiger verschrieben wurde als in den Alten. Bei Medikamenten mit dem alten Bekannten Methylphenidat (der Wirkstoff in u.a. Ritalin), die im Wesentlichen auf Dopamin Einfluss haben, war das Bild umgedreht: West häufiger als Ost.

Ist ADHS in den alten Bundesländern also häufiger ein Dopamin-Problem, in den Neuen aber öfter ein Noradrenalin-Problem? Das kann man so pauschal natürlich nicht sagen. Diese Unterschiede in der Behandlung machen aber deutlich, dass, wie eingangs erwähnt, die Gehirnmodelle psychischer Störungen hypothetischer Natur sind.

Das Noradrenalin-Medikament galt vorher übrigens als vielversprechender Kandidat gegen Depressionen. Methylphenidat wird wiederum von Ärzten nicht nur gegen ADHS, sondern, außer der Reihe, schon mal gegen Bipolare Störungen oder Depressionen verschrieben. Tja, das ist doch irgendwie alles komplex im Gehirn.

Fazit

Ich wollte hier zeigen, dass man es im Bereich der psychischen Störungen mit dem Reich der Normen zu tun hat, nicht der Sphäre der Natur. Natürlich unterliegen unseren psychischen Vorgängen körperliche Prozesse; wir sind Körperwesen. Der wesentliche Punkt ist hier aber, dass die Entscheidung darüber, was eine Störung ist, auf sozialen Konventionen (vor allem der Psychiater und ihrer Organisationen) beruht.

Beispielsweise finden in ihrem Gehirn beim Lesen dieses Artikels bestimmte Hirnprozesse statt, insbesondere im Temporallappen der Großhirnrinde (Leseverständnis). Während ich diesen schreibe, dürfte die Aktivierung im Frontallappen höher sein (Sprachproduktion). Dass sich Ihr und mein Gehirn auf diese Weise unterscheidet, bedeutet aber nicht, dass jemand von uns eine psychische Störung hätte.

Der Ansatz, den ich hier vorgestellt habe und der auf so gut wie alle anderen psychischen Störungen übertragbar ist, verteufelt weder die Diagnosen noch die Therapien; er macht schlicht deutlich, dass hier mehrere Faktoren zusammenkommen: das Individuum, mit seinen individuellen Veranlagungen, Fähigkeiten und Einschränkungen; menschliche Beziehungen, beispielsweise der Familie; soziale Umgebungen, beispielsweise der Schule; und schließlich gesellschaftliche Institutionen, wie Psychologen und die Ärzteschaft. Bei alldem spielen gesellschaftliche Normen eine Rolle.

Wenn man so über psychische Störungen denkt, also das biopsychosoziale Modell vertritt, hat man die meisten Optionen: Man kann das Problem individuell, biologisch, psychologisch oder soziologisch untersuchen; man kann es auch auf allen Ebenen behandeln. Ich lehne die Medikamente also nicht generell ab; in vielen Fällen würde ich es aber für ehrlicher halten, von instrumentellem Substanzkonsum statt der Behandlung mysteriöser Gehirnstörungen zu sprechen (Gehirndoping und Neuroenhancement: Fakten und Mythen [14]).

Psychologisch-psychiatrische Diagnosen können helfen, sie können Menschen aber auch ausgrenzen und stigmatisieren. Es ist an der Zeit, wieder mehr über Alternativen nachzudenken. Nicht zuletzt die Anforderungen der Coronapandemie verdeutlichen, dass psychische Probleme oft Reaktionen auf gesellschaftliche Vorgänge sind. Und Alternativen gibt es (Nein, Ihr Kind ist nicht krank! [15]).

In meinem vorherigen Artikel über ADHS [16] analysierte ich eine Sendung von Psychologeek zum Thema. Meiner Analyse zufolge stellt die Psychologin Pia Kabitzsch für "funk", das Content-Netzwerk von ARD und ZDF, die Störung darin einseitig, verzerrt und in Teilen sachlich falsch dar.

Am 26. August wies ich die Redaktionen vom SWR und von "funk" per E-Mail darauf hin. Am 31. August schickte ich eine Erinnerung und bat um eine Stellungnahme für meine Leserinnen und Leser. Bis heute: keine Antwort.

Hinweis: Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder [17]" des Autors.


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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Die-groessten-Missverstaendnisse-ueber-die-Aufmerksamkeitsstoerung-ADHS-6174985.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/30-Jahre-Aufmerksamkeitsstoerung-ADHS-3790539.html
[3] https://icd.who.int/browse11/l-m/en#/http%3a%2f%2fid.who.int%2ficd%2fentity%2f821852937
[4] https://www.heise.de/tp/features/Die-groessten-Missverstaendnisse-ueber-die-Aufmerksamkeitsstoerung-ADHS-6174985.html
[5] https://www.heise.de/tp/features/30-Jahre-Aufmerksamkeitsstoerung-ADHS-3790539.html
[6] https://www.heise.de/tp/features/Es-geht-um-die-Anpassung-des-Individuums-an-die-vorherrschende-Normalitaet-4667050.html
[7] https://www.versorgungsatlas.de/
[8] https://doi.org/10.20364/VA-15.11
[9] https://doi.org/10.1111/jcpp.12991
[10] https://doi.org/10.20364/VA-18.02
[11] https://www.heise.de/tp/features/Die-groessten-Missverstaendnisse-ueber-die-Aufmerksamkeitsstoerung-ADHS-6174985.html
[12] https://www.lgl.bayern.de/gesundheit/gesundheitsberichterstattung/gesundheitsatlas/ia_report/atlas.html
[13] https://doi.org/10.20364/VA-19.02
[14] https://www.heise.de/tp/features/Gehirndoping-und-Neuroenhancement-Fakten-und-Mythen-4995894.html
[15] https://www.heise.de/tp/features/Nein-Ihr-Kind-ist-nicht-krank-6133831.html
[16] https://www.heise.de/tp/features/Die-groessten-Missverstaendnisse-ueber-die-Aufmerksamkeitsstoerung-ADHS-6174985.html
[17] http://scilogs.spektrum.de/menschen-bilder/