Lady Al-Qaeda

Der Fall der mutmaßlichen Terroristin Aafia Siddiqui, die vergangene Woche in den USA des versuchten Mordes für schuldig befunden wurde, erinnert an einen Hollywood-Thriller

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Für die US-Behörden eine klare Sache, wobei jedoch die wahre Geschichte der Neurobiologin lange nicht geklärt ist. Proteste gegen das Urteil und den ganzen „Fall Siddiqui“ gibt es in Pakistan, wo man an eine geheimdienstliche Verschwörung glaubt. Tatsächlich ist es eine Geschichte, die man sonst nur im Kino zu sehen bekommt.

Auf dem Foto zum Uni-Abschluss am Massachusetts Institute of Technology in den USA sieht Aafia Saddiqui sehr sympathisch und wie eine normale junge Frau aus, die nichts anderes im Sinn hat, als einen guten Job zu finden, zu heiraten und Kinder zu bekommen.

Ein verdächtiges Pärchen

Geht es jedoch nach US-Behörden, hatte sie kein Interesse an einem normalen Leben, sondern schlug stattdessen die Laufbahn einer Terroristin ein, die im Namen von Al-Qaeda die Welt verbessert. Eine Wahl, wie sie es sich wohl die konservativen Eltern, Vater Arzt, Mutter Hausfrau, nicht für ihre Tochter vorgestellt hatten. Im Juli 2008 wird Siddiqui, zusammen mit ihrem 11-jährigen Sohn, in Afghanistan als mögliche Selbstmordattentäter verhaftet.

Das Pärchen kam der afghanischen Polizei vor der Residenz des Gouverneurs der Stadt Ghazni, 50 Kilometer südlich von Kabul, verdächtig vor. Bei der Mutter findet man Lektüre zum Bombenbau, das „Anarchist´s Arsenal“, zudem Beschreibungen von Sehenswürdigkeiten in den USA sowie flüssige Substanzen in Flaschen und Marmeladengläsern abgepackt. Am darauf folgenden Tag kommen zwei FBI-Leute und zwei Offiziere der US-Armee, um die Verdächtige zu verhören.

M-4-Gewehr sorglos abgestellt; Mordversuch

Völlig unbewacht und ohne Handschellen, wurde Aafia Siddiqui, die potentielle Selbstmordattentäterin, in einem Raum untergebracht. Als die vier US-Sicherheitsbeamten den Raum betreten, merken sie nicht, dass ihr Häftling sich hinter dem Vorhang versteckt. Einer der Soldaten stellt sein M-4-Gewehr noch sorglos neben den Vorhang, das sich dann Aafia Siddiqui nimmt und es einem Offizier an den Kopf hält. Im anschließenden Handgemenge wird sie von Pistolenschüssen in den Bauch getroffen. Die US-Beamten bleiben, trotz zweier Schüsse aus dem M-4-Sturmgewehr, unverletzt. So jedenfalls besagt es die Version, der gemäß Aafia Siddiqui diese Woche in New York des versuchten Mordes für schuldig befunden wurde.

Keine Fingerabdrücke

Die 36-Jährige, die von drei Anwälten verteidigt wird, die die pakistanische Regierung für sie bestellte, bestreitet den gesamten Ablauf des Vorfalls. Und die Fakten scheinen ihr dabei Recht zu geben. Auf dem besagten Gewehr, mit dem sie zwei Schuss abgeschossen haben soll, ließen sich keine Fingerabdrücke von ihr finden. Genauso wenig wie die Projektile oder die Patronenhülsen ihrer Schüsse auftauchten. Dagegen konnten die Projektile und Hülsen von den Schüssen der US-Beamten sichergestellt werden.

Ein Video der Verteidigung zeigte der Jury auch, dass Einschusslöcher bereits vor dem Vorfall im betreffenden Raum vorhanden waren. Einfluss auf das Urteil hatte dies allerdings nicht.

Die Tasche mit den Angaben zum Bau einer „schmutzigen Bombe“

Entscheidend waren die Unterlagen, darunter handschriftliche, die von „Anschlägen mit vielen Opfern“ sprachen und Orte wie das Empire Statebuilding oder die Brooklyn Bridge in New York nannten. In der Tasche mit den Unterlagen sollen sich auch Angaben zum Bau einer „schmutzigen Bombe“ befunden haben. Siddiqui leugnet, diese Tasche bei der Verhaftung besessen zu haben. „Man hat sie mir später gegeben, ohne zu wissen, was drin ist“.

Grundsätzliche Widersprüche und unterschiedliche Aussagen zum Tathergang und Tatumständen sind gewöhnliche Bestandteile eines Gerichtsverfahrens. Bei Aafia Siddiqui addieren sie jedoch nur weitere Rätsel zu ihrer gesamten Geschichte. Im Zentrum der Spekulationen stehen die fünf Jahre, in denen die Wissenschaftlerin als verschwunden galt.

Was passierte zwischen März 2003 und Juli 2008?

Am 30. März 2003 verlässt Aafia mit ihren drei Kindern ihr Zuhause in Karachi und wird an diesem Tag angeblich vom pakistanischen Geheimdienst verhaftet. Danach taucht sie erst wieder im Juli 2008 auf, als sie die afghanische Polizei als potentielle Selbstmordattentäterin einer Journalistengruppe in der Provinz Ghazni präsentiert.

Was zwischen in den fünf Jahren, zwischen März 2003 und Juli 2008 passierte, darüber gibt es verschiedene Versionen. Sie selbst sagt, dass sie in einem geheimen US-Gefängnis einsaß und dort gefoltert worden sei. Details darüber wisse sie jedoch nicht mehr, versicherte Siddiqui im Laufe des Gerichtsverfahrens in New York, bei dem sie einen sichtlich angeschlagenen und verwirrten Geisteszustand vermittelte.

Geheime US-Gefängnisse, in denen gefoltert wird und an denen sich auch andere Nationen beteiligen , sind mittlerweile keine Fantasieprodukte mehr. Amnesty International setzte Aafia Siddiqui im Juni 2007 auf eine Liste von Personen, „bei denen es einige Hinweise auf geheime Inhaftierung durch die USA gibt und deren Schicksal und Aufenthaltsort unbekannt sind“. Die britische Journalistin Yvonne Ridley behauptete, Siddiqui sei im afghanischen Gefängnis von Bagram isoliert und trage die Nummer 650.

Ich nenne sie die graue Lady, da sie fast wie eine Geist ist, ein Schreckensgespenst, das mit seinen Schreien diejenigen verfolgt, die sie gehört haben.

Yvonne Ridely

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Häftling Nummer 650

Im britischen Parlament, dem House of Lords, machte Lord Nazir Ahmed eine Anfrage zum Häftling mit der Nummer 650. Yvonne Ridely stützt sich unter anderem auf die Aussage von Binyam Mohammad , einem ehemaligen Guantanamo-Gefangenen, der Siddiqui in Bagram gesehen haben will.

Bei ihrer Verhaftung 2008 soll es noch deutliche Spuren in ihrem Gesicht von ihrer Zeit der Inhaftierung gegeben haben. Fotos, die im Interview von Ridely mit dem Gouverneur von Ghazni zu sehen sind, und von denen behauptet wurde, sie seien eine Fälschung, bezeugen das.

Die Version des Ehemanns

Nichts von einem Aufenthalt in einem geheimen US-Gefängnis berichtet Siddiqus erster Ehemann, Amjad Kahn. Sie sei nie nach Bagram eingeliefert worden, stattdessen ständig unterwegs zwischen Quetta in der Provinz Baluchistan, Iran und Karatschi gewesen, mit ihren beiden Kindern, immer unter Beobachtung des pakistanischen Geheimdienstes (ISI). Kahn will sie im April 2003, also einen Monat nach ihrem angeblichen Verschwinden, mit eigenen Augen gesehen haben. Der ISI bat ihn seine Frau zu identifizieren, als sie aus einem Flugzeug aus Islambad stieg.

Zwei Jahre später habe er sie noch einmal zufällig in einem Verkehrstau in Karatschi gesehen. Aussagen, die die Tante Aafias bestreitet und sogar eine Verleumdungsklage von 410.000 Euro gegen ihn gestartet hat. Kahn erzählt auch über seine Ex-Frau, dass sie eine überzeugte Dschihadistin gewesen sei, die ihn immer wieder dazu bringen wollte, zuerst in Bosnien und dann in Afghanistan in den Heiligen Krieg zu ziehen. Geheiratet hatten beide 1995 via Telefon. Im August 2001 erfolgte die Scheidung.

“Kosmetische Operation“ und „geheimdienstliche Aufsicht“

Im Januar 2008 will auch Shams ul-Hassan Faruqi seine Nichte Aafia gesehen haben. Sie hätte ihm erzählt, sie sei von 2003 an in pakistanischer und amerikanischer Gefangenschaft gewesen, konnte aber keine Details nennen. „Ich war in verschiedenen Zellen, weiß aber nicht in welchem Land oder welcher Stadt. Sie haben mich immer wieder verlegt“. Ihr Onkel habe bemerkt, dass sie eine kosmetische Operation im Gesicht hinter sich hatte und ihr Aussehen verändert war. Seine Nichte meinte, sie sei zwar frei jetzt, aber unter geheimdienstlicher Aufsicht in Lahore und müsse Al-Qaeda in Pakistan unterwandern. Das wollte sie aber nicht und würde stattdessen lieber in Afghanistan bei den Taliban untertauchen.

Zum Treffen fliegt auch Aafias Mutter aus Karatschi ein, um ihre Tochter zu sehen, die noch zwei Tage bleibt. „Die ganze Zeit hatte ich das starke Gefühl“, erinnert sich Shams ul-Hassan Faruqi, „dass sie in irgendeiner Weise überwacht wurde. Durch ein Gerät an ihrem Körper oder eine andere Methode“.

Am Anfang ein großes Paket, gefüllt mit Edelsteinen

Der Anfang der Karriere von Aafia Siddiqui als Terroristin soll im Juni 2001 begonnen haben. Zu einer Zeit, als sie ein zweites Studium an der Brandeis Universität in Boston absolvierte. Sie soll damals für Al-Qaeda nach Liberia geflogen sein. Am Flughafen von Monrovia wurde sie abgeholt und danach in einem sicheren Versteck untergebracht, in dem schon andere Al-Qaeda Leute vor ihr Unterschlupf gefunden hatten. Eine Woche soll ihr Aufenthalt in der liberianischen Hauptstadt gedauerte haben. Als sie wieder abreiste hatte sie ein großes Paket, gefüllt mit Edelsteinen bei sich, mit deren Erlös der globale Terror von Al-Qaeda finanziert worden sein sollte.

Das FBI und der CIA hatten von dieser Reise eigentlich keine Ahnung bis der Fahrer, der Aafia Siddiqui eine Stunde lang vom Flughafen in die Stadt gebracht haben will, sich bei den Behörden meldete. Der Mann hatte im Fernsehen das Foto von Aafia gesehen, nachdem sie im Mai 2004 auf die Liste der meist gesuchten Al-Qaeda- Mitglieder gesetzt worden war.

Eine schlichte Verwechslung?..

Wie der Fahrer aus Monrovia die damals noch studierende Neurobiologin identifizierte, ist der Familie Aafias ein Rätsel. Denn im Sommer 2001 habe sie Spielgruppen im eigenen Appartement organisiert, anstatt dunkle Diamantengeschäfte in Liberia zu machen. „Sie war hier in Boston“, sagte die Familienanwältin Elaine Whitfield Sharp.

„Und ich kann das belegen“, fügte sie ohne jeden Zweifel an. Hat sich der Mann, der Siddiqui in Libera gefahren haben will, einfach getäuscht? Eine schlichte Verwechslung? Oder beschaffte sich das FBI im Nachhinein einen Augenzeugen bei einer lückenhaften Beweislage? Oder hatte Siddiqui nur das perfekte Cover als normale, wissbegierige Studentin und Mutter?

.. Khalid Sheik Mohammed..

Der Name Siddiqui war dem FBI und CIA durch Khalid Sheik Mohammed zugetragen worden. Der Anstifter der Attentate vom 11. September 2001 war am 1. März 2003, genau einen Monat vor dem Verschwinden Aafias, in Karatschi verhaftet worden. Wie er dazu kam, die Frau seines Neffen, Ammar al-Baluchi, die beide seit 2002 verheiratet waren, den Behörden zu nennen? Sheik Mohammed wurde bei der Vernehmung 183 Versuchen des simulierten Ertrinkens („waterboarding“) unterzogen.

Ansonsten gab es gegen Aafia Siddiqui nur Indizien. Kurz nach den 9/11 Attentaten hatte sie mit ihrem damaligen Mann, Amjad Kahn, ein Nachtsichtgerät, schusssichere Weste und militärische Anleitungen auf US-Webseiten mit der eigenen Kreditkarte gekauft. Als sie deshalb von FBI-Agenten vernommen wurden, sagten beide aus, dass es Teile einer Ausrüstung für eine große Jagd in Pakistan seien. Dort könne man das so einfach nicht kaufen.

..und andere verdächtige Verbindungen

Zudem arbeitete Siddiqui für einige islamische Wohlfahrtsorganisationen, die sich in Afghanistan, Bosnien oder Tschetschenien engagierten. Sie vertrieb Infomaterial, organisierte Spendenaktionen und Diskussionsforen. Drei dieser Wohlfahrtsorganisationen wurden in den USA verboten, wobei eine weitere, die Mercy International Relief Agency, Verbindungen zu den zwei Bombenattentaten auf US-Botschaften 1998 in Ostafrika hatte.

Im Dezember 2002 soll Aafia Siddiqui für Majid Kahn, einem angeblichen Al-Qaeda Mitglied, ein Postfach in Baltimore eröffnet haben. Sie lebte damals in Pakistan, suchte aber wieder einen Job in den USA. Sie soll zwei Bewerbungsgespräche mit Krankenhäusern in Baltimore, der Stadt, wo auch ihre Schwester arbeitete, wahrgenommen haben.

Für das FBI hatte die Reise jedoch nur ein Ziel, nämlich Majid Kahn, bei der Planung von Bombenattentaten auf Tankstellen und Heizöltanks in der Umgebung von Baltimore-Washington behilflich zu sein. Die Familie betont dagegen, ihre Reise hatte nur einen Zweck, nämlich eine Stelle zu finden. Falls sie ein Postfach eröffnete, dann nur um eine Adresse für Rückantworten auf ihre Bewerbungen zu besitzen.

Die dubiose Rolle der pakistanischen Regierung

In Pakistan wurde gegen die Verurteilung der „Lady Al-Qaeda“ protestiert . Die meisten glauben, dass sie auf den Bagram Militärbasis verschleppt wurde. Aafia ist das öffentliche Gesicht für all die anderen Häftlinge in geheimen Gefängnissen. Laut der pakistanischen Menschenrechtskommission galten 2009 alleine 242 Menschen als verschwunden. Die Beteiligung der eigenen Regierung wird in der Öffentlichkeit dabei nicht vergessen. „Wie können wir die USA kritisieren, wenn auch unsere Regierung ein Komplize bei der illegalen Inhaftierung ist“, erklärte Ali Abbas Zaidi, der Vorsitzende der Pakistan Jugend Allianz, die sich für einen Ausbau der Zivilgesellschaft einsetzt.

Auf öffentlichen Druck hin hat die pakistanische Regierung die Anwälte von Siddiqui bestellt und bereits ihre Unzufriedenheit mit dem Urteil ausgedrückt. Eine letztendlich zynische Haltung, denn die pakistanischen Behörden wissen sicherlich genau, was mit Aafia Siddiqui passiert ist und wer dahinter steckt. Aber wie üblich wird die Wahrheit der Staatsräson, außen- wie innenpolitischen oder geheimdienstlichen Interessen geopfert. Was mit den beiden Kindern Aafia Siddiquis passiert, bleibt ungeklärt. Der 11-jährige Sohn lebt bei der Tante in Pakistan und darf mit niemanden sprechen. „Das sei so abgesprochen“, wird die Tante zitiert . „Mit dem Netzwerk, das ihn gebracht hat.“