Längengrad

Eine Rezension

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Dava Sobel erzählt auf mitreissende Weise die uns weitgehend unbekannte, aber "wahre Geschichte eines einsamen Genies, welches das größte wissenschaftliche Problem seiner Zeit löste." Es geht um den englischen Uhrenmechaniker John Harrison, der eine Methode entdeckte, wie sich das Problem der Längengradmessung auf einem Schiff lösen ließ, das viele Opfer im beginnenden Zeitalter des Kolonialismus und der Weltwirtschaft forderte

Schon seit dem 3. Jahrhundert vor Christi Geburt gab es Darstellungen der Welt, auf denen Längen- und Breitengrade eingetragen waren. Die Bestimmung des Breitengrades stellte kein Problem dar, wohl aber die des Längengrades, um die genaue Position auf hoher See festzustellen. Läßt sich der Breitengrad anhand der Tageszeit, des Sonnenstandes oder durch die Höhe von Sternen über dem Horizont relativ leicht herausbekommen, so hängt die Ermittlung des Längengrades von der exakten Zeitmessung ab. Dazu muß man die Uhrzeit an Bord eines Schiffes mit der an einem anderen Ort vergleichen, dessen Längengrad bekannt ist. Das aber war lange Zeit auf einem schwankenden Schiff und mit ungenau laufenden Uhren unmöglich. Deswegen waren die Kapitäne, selbst wenn sie über gute Karten verfügten, meist orientierungslos auf hoher See und kamen eher zufällig an die Orte, die sie erreichen wollten.

Mit dem Anbruch der Neuzeit, dem Zeitalter der Entdeckungen, der Eroberungen und der weltweiten Handelsbeziehungen, wurde das zu einem drängenden wirtschaftlichen und militärischen Problem. Der Reichtum zirkulierte auf den Schiffen zwischen den Kontinenten und viele Schiffe gingen unter, weil sie unerwartet auf Land stießen.

Die fieberhafte Suche nach einer Lösung für das Problem der Längengradbestimmung dauerte vier Jahrhunderte und erfaßte ganz Europa ... Bei ihren Bemühungen stießen Naturwissenschaftler auf andere Entdeckungen, die ihre Sicht des Universums veränderten. dazu gehören die erste genaue Berechnung des Gewichts der Erde, der Entfernung der Gestirne und auch die der Lichtgeschwindigkeit. Die Zeit verging, keine Methode brachte den Durchbruch, und so nahm die Suche nach einer Lösung legendäre Ausmaße an, vergleichbar der Suche nach dem Jungbrunnen, dem Geheimnis des Perpetuum mobile oder der Formel für die Verwandlung von Blei in Gold

Dava Sobel

Regierungen der großen Seefahrerstaaten forderten Wissenschaftler und Techniker auf, das Problem zu lösen. Das britische Parlament setzte auf Drängen der Kaufleute und Seefahrer gar 1714 im Longitude Act einen Preis für eine "praktikable und nützliche Methode", mit der man die Länge bei einer Abweichung von höchsten einem halben Grad ermitteln konnte, in Höhe von 20.000 Pfund aus - was heute mehreren Millionen Mark entsprechen würde. Geringere Geldsummen wurden für ungenauere Methoden und zur Unterstützung von Projekten bereitgestellt. Man berief eine Jury von namhaften Experten ein. Viele Vorschläge von Technikern, Wissenschaftlern und Scharlatenen wurden eingereicht. Ein Fieber erfaßte die Menschen. Newton war der Meinung, daß genau genug gehende Uhren nicht zu bauen wären und daß man der Lösung nur durch eine bessere Vermessung der Sterne näherkommen könne. Seitdem kämpften Techniker, die auf eine Perfektion der Uhren setzten, und Astronomen sowie Physiker um die Lösung.

John Harrison, ein völlig unbekannter Uhrmacher, sollte schließlich im Jahre 1735 den ersten genau gehenden reibungsfreien Chronometer bauen, der gegen Schwankungen und Temperaturdifferenzen unempfindlich war und die Lösung mit sich brachte. Die erste Schiffsuhr, die sogenannte H-1, war eine sperrige, komplizierte und schwere Maschine mit hölzernen Zahnrädern. Harrison reichte sie der Jury ein, aber wies gleichzeitig selbst auf ihre noch bestehende Schwächen hin. Mit finanzieller Unterstützung baute er schließlich weitere Modelle, die intensiv getestet und beispielsweise von James Cook auf einer Weltreise mitgenommen wurden.

Doch einfach war es nicht für Harrison, das Preisgeld zu bekommen. Es ging schließlich um viel Geld und es gab eine harte Konkurrenz. Ein Astronom, der in der Jury saß, versuchte mit allen Mitteln selbst mit seiner Methode in den Genuß des Preises zu kommen. Jahrezehntelang schleppte sich der Konflikt hin, bis Harrison durch die Unterstützung des Königs 1773 zu seinem Recht kam. Bald wurden billige Uhren hergestellt, die sich dann auf allen Schiffen befanden und die Seefahrt sicherer machten. Die Geschichte der Lösung der Längengradbestimmung aber verschwand mit Harrison, dem Erfinder des Chronometers, aus dem Gedächtnis der Menschen.

In ihrem spannend zu lesenden, wunderbar geschriebenen Buch breitet die Wissenschaftsreporterin die wissenschaftlichen und technischen Hintergründe dieser Geschichte einer lange gesuchten Problemlösung am Beginn der Globalisierung aus. So sollten Sachbücher geschrieben werden: informativ und unterhaltend, edutainment at it's best.

Dava Sobel: Längengrad. Die wahre Geschichte eines einsamen Genies, welches das größte wissenschaftliche Problem seiner Zeit löste. Berlin Verlag 1996. 239 Seiten. DM 36.-