Lager al-Hol: Das Gewaltregime der IS-Anhängerinnen
Bei einer Schießerei mit der kurdischen Aufsicht gab es eine Tote. Befürchtungen, wonach die Lage im 70.000-Personen-Camp jederzeit eskalieren kann, bestätigen sich
Ein fünfzehn-minütiger Schusswechsel sowie ein zweiter später folgender zwischen IS-Anhängerinnen und der Aufsicht im Lager al-Hol in Nordsyrien bestätigen Warnungen, wonach die Situation in dem Camp bei Hasaka leicht eskalieren kann. Al-Hol wurde mehrmals als "Pulverfass" bezeichnet.
Einig sind sich Medienberichte über die Bilanz des Schusswechsels: Es gab eine Tote und mehrere Verletzte unter den Dschihadistinnen und dazu den Schock darüber, wie sehr die Spannungen im Annex-Bereich des Lagers ausarten können. Dort sind die ausländischen IS-Anhängerinnen, die weder die syrische noch die irakische Staatsbürgerschaft haben, und ihre Kinder untergebracht. Insgesamt halten sich in al-Hol etwa 70.000 Personen auf, im sogenannten Annex-Bereich sind es etwa 10.000.
Der Schusswechsel ereignete sich nach Darstellung des kurdischen Nachrichtenmediums Anhar am Montag infolge eines Protests über die Einrichtung heimlicher Gerichte, höchstwahrscheinlich Scharia-Gerichte, durch 50 IS-Anhängerinnen. Die kurdischen Fraueneinheiten, die das Lager beaufsichtigen (Internal Security Forces-Women), intervenierten, woraufhin die IS-Frauen "unter Absingen von IS-Slogans" Waffen zückten und das Feuer eröffneten.
Erst nach 15 Minuten hätten die kurdischen Sicherheitsfrauen die Situation unter Kontrolle gebracht. Allerdings sei der "Aufstand" gegen die Aufsicht an einem Hintereingang des Annex-Bereichs neu aufgeflammt, dabei wurde eine IS-Anhängerin getötet und sieben verletzt.
Die Religionspolizei
Dass IS-Anhängerinnen sich im Lager, das als "Mini-IS" bezeichnet wird, wenig um die Aufsicht scheren und darauf achten, dass doktrinäre Lebensanschauungen und Vorschriften des "Islamischen Staates" eingehalten werden, wurde schon öfter durch Reportagen bekannt gemacht. Zwei "Feldforscher", die für die Webseite US-Homeland-Security aus dem Lager berichteten, zitieren Anfang September Aussagen von IS-Frauen aus den Lagern al-Hol und Ain Issa, die nichts Gutes erwarten lassen.
Da wird Rache gegen die Ungläubigen, wozu auch die Aufsicht zählt, angekündigt, werden Beleidigungen ausgespuckt, von Schlägen gegen andere berichtet, die sich den Regeln nicht folgsam genug fügen, von Gruppenbildungen, von Vergewaltigungen (nicht alle Minderjährige sind Kinder), von Feuern, die in Zelten gelegt werden, von Messern, anderen Stichwaffen und schweren Verletzungen, die Lagerbewohnerinnen und den kurdischen Aufseherinnen und Aufsehern zugefügt wurden. Laut Beobachtungen der US-Autoren lebt in den beiden Lagern die IS-Religionspolizei "hisbah" wieder auf. Man warte auf al-Bagdadi, den früheren Kalifen und Anführer des IS.
Diese Phänomene brutaler Aggressivität und Einschüchterung wurde in mehreren Berichten schon geschildert, aber selten so gebündelt. Dass es Verbindungen zu IS-Milizen außerhalb gibt, ist ebenfalls Teil von Klagen oder Warnungen, dass der IS in den Lagern "rekrutiert" und die Insassen zu Gewalttaten auffordert. IS-Chef al-Bagdadi hatte Mitte September dazu aufgerufen, dass IS-Milizen die Gefangenen befreien. Dies wurde auch als Aufruf zu Anschlägen gegen die Aufseherinnen und Aufseher verstanden.
Keine Aussichten auf eine Lösung
Dass die IS-Anhängerinnen im al-Hol-Lager auch in den Besitz von Kleinwaffen gekommen sind, wie sich beim gestrigen Vorfall zeigte, war anscheinend keine große Überraschung. Für die Kurden, die das Gebiet in Nordsyrien verwalten und damit auch die Aufsicht über das Lager haben, bleibt das Problem, das sie mit dem Lager in al-Hol haben, eine "Zeitbombe". Bisher gibt es keine Aussichten auf eine Lösung.
Bemerkenswert ist die Darstellung der Mitglieder von Ärzte ohne Grenzen, die Mitarbeiter im Lager al-Hol haben. Für MSF liegt die Verantwortung für den tödlichen "Zwischenfall" bei der kurdischen Aufsicht, die mit dem "Protest" im Lager nicht umsichtig genug umgegangen sei. Man müsse beim Management solcher Unruhen mehr Zurückhaltung zeigen, angesichts der Tatsache, dass Frauen und Kinder 94 Prozent der Lagerinsassen ausmachen, so das MSF-Statement:
Unsere Ärzte sollten keine Schusswunden in einem geschlossenen Camp versorgen müssen, wenn wir uns in einer solchen Situation wiederfinden, dann ist etwas fürchterlich falsch gelaufen.
Ärzte ohne Grenzen (MSF)
Geht es nach Aussagen eines australischen Augenzeugen, der dort in Begleitung von Journalisten des Senders ABC seine Familienmitglieder in al-Hol besuchte, so wurde der Zwischenfall durch das Auspeitschen einer Lagerinsassin durch IS-Unterstützerinnen ausgelöst. Dem vorausgegangen sei die Entdeckung mehrerer Leichen, die Spuren von Misshandlungen hatten, in den 24 Stunden zuvor.
Laut dem Zeugen habe die "kurdische Frauenpolizei" zu intervenieren versucht, sei aber mit leichten Waffen beschossen worden, woraufhin auch männliche Aufsicht eingegriffen habe, was die Situation zum Eskalieren brachte. Dann sei Verstärkung gerufen worden, " a light armoured infantry".
Ein Bericht von AFN bestätigt, dass es vor der Schießerei bereits Gewalttaten gab, ein 26-jähriger Iraker sei im Camp von zwei IS-Frauen mit einem scharfen Gegenstand angegriffen worden und: "Bereits am 12. September ist ein junger Iraker von IS-Frauen ermordet worden, ein weiterer wurde verletzt. Gestern wurden zwei russische Schwestern von IS-Frauen angegriffen und verletzt. Außerdem wurde in der Kanalisation eine Frauenleiche entdeckt."