Laßt die Inhalte für sich selbst streiten!

Claus Leggewie sprach mit Esther Dyson über Kontrolle und Demokratie im Internet

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Die Bezeichnung »First Lady des Internet« hört sie nicht ungern: Esther Dyson , Unternehmerin und Herausgeberin des Newsletters Release 1.0, einer Orientierungshilfe im Wettbewerb der Inhalte auf den digitalen Informationsmärkten, hat mit Release 2.0 ein umstrittenes Buch über die »Spielregeln« der »Internet-Gesellschaft« vorgelegt.

Zivilisierung des Cyberspace: Ein Gespräch mit Claus Leggewie
Special über Internet und Politik in Telepolis.
Benjamin Barber: Wie demokratisch ist das Internet?

Frau Dyson, Sie gelten als »cyberlibertarian«, d.h. als Vertreterin einer möglichst staatsfreien oder staatsfernen Wissensgesellschaft, in der sich die Individuen frei und möglichst ungestört von administrativer Kontrolle entfalten sollen, und im wesentlichen die Märkte die gesellschaftliche Entwicklung steuern. Mir ist aufgefallen, daß in der deutschen Übersetzung Ihres Buches auf den ersten Blick von Politik überhaupt nicht die Rede ist. Das Kapitel »Governance« ist im Deutschen mit »Kontrolle und Selbstkontrolle im Internet« überschrieben. Sie setzen sich vehement für die Selbstregulierung des Internet ein. An einer Stelle sagen Sie, die »Freigeister im Internet« werden sich gegen jegliche Regierungskontrolle im Netz wehren, aber dann fügen sie an: »Doch das Fehlen jeglicher Regulierung würde Chaos bedeuten, ein dunkles, undurchschaubares Internet.«

Esther Dyson: Zunächst einmal: Ich bin nicht dafür verantwortlich, wie mich andere bezeichnen. Diese Dinge sind überaus komplex, und man kann eine politische Einstellung nicht mit einem einzigen Schlagwort einfangen. Freiheit und Verantwortlichkeit sind für mich unmittelbar miteinander verbunden. Also bedarf es einer gewissen Regulierung, wenn man eine zivilisierte Welt schaffen will, wie ich sie mir wünsche. Aber diese entsteht auf der Grundlage lokaler Regelungen, nicht von oben nach unten, gleich ob die Kontrolle von einer nationalen oder einer Weltregierung ausgeht. Soviel wie möglich muß von unten nach oben geregelt werden.

Aber der Staat hat bei der Entstehung des Internet von Anfang an eine sehr aktive industriepolitische Rolle gespielt. Ich denke zum Beispiel an Al Gores National Information Infrastructure (NII), an der Sie selbst als Beraterin beteiligt waren.

Esther Dyson: Geschaffen wurde das Internet aus einem Projekt der Advanced Research Project Agency (ARPA), und der amerikanische Bundesstaat - vor allem das Verteidigungsministerium - übernahm gewiß eine starke Rolle, indem er diese Agentur finanziert hat. Aber dieser finanzielle Impuls stieß nur etwas an, das sich bald selbständig von unten her weiterentwickelte. Als 1993 das Beratergremium der NII zusammentrat, war das schon deutlich, und das erste, was wir Al Gore klar zu machen versuchten, war, daß der Bundesstaat das Internet nicht regulieren sollte.

Wir sagten ihm: »Laß es sich privat entwickeln, laß es sich von allein aufbauen. Was wir hier tun können, ist nur ein paar allgemeine Prinzipien zu formulieren.« Die fielen dann recht heterogen aus, weil in dem Gremium sehr verschiedene Leute tätig waren. Worauf diese Prinzipien hinausliefen, waren Grundsätze wie Rede- und Meinungsfreiheit (Freedom of Speech), zurückhaltende staatliche Finanzierung, möglichst breite Zugangsmöglichkeiten zum Internet usw. Wenn man das Ziel hat, auch ärmeren Leuten Zugang zum Internet zu verschaffen, bedeutet das zum Beispiel, daß nicht die Regierung das Internet finanzieren muß, sondern die Armen, damit sie sich die Werkzeuge kaufen können, die ihnen den Zugang zum Netz ermöglichen. Wo Regierungen wirklich eine positive Rolle spielen können, ist im Bereich der öffentlichen Erziehung, damit die Menschen gebildet genug werden, das Internet kreativ und im Sinne ihrer eigenen Talente und Interessen zu nutzen.

Diesen Leitlinien ist die amerikanische Regierung ja dann auch weitgehend gefolgt.

Esther Dyson: Mehr oder weniger. 1996 gab es zum Beispiel den Electronic Decency Act, der unseren Empfehlungen vollständig zuwiderlief, und dasselbe gilt jetzt für fast alle Fragen, die mit Verschlüsselungstechnologien zusammenhängen. Im ersten Fall kämpfen die Moralisten in der Regierung gegen die Liberalen; im zweiten Fall die Legalisten gegen die Stellen in der Regierung, die eher kommerzielle Interessen unterstützen.

Der Electronic Decency Act, den der Kongreß eingebracht hat, ist ein regelrechtes Zensurgesetz, das zum vermeintlichen Schutz der Kinder gegen »Obszönitäten« in die Inhalte der Kommunikation im Netz eingreift.

Esther Dyson: Ein Senator, mit dem wir gesprochen haben, und der eigentlich ein sehr aufgeklärter Mann ist, erklärte uns: Sicher, dieses Gesetz ist verrückt, es wird niemals durchkommen. Das heißt, er hat dafür gestimmt, obwohl er genau wußte, daß die Mehrheit im Kongreß gar nichts nützen würde, weil das Gesetz bei den Gerichten nicht durchkommen würde. Er wußte, er konnte es sich vor seiner konservativen Wählerschaft nicht erlauben, für »Pornographie im Netz« zu stimmen. Auf diese Weise waren einer Menge von Senatoren die Hände gebunden. Die meisten hofften insgeheim, daß das Gesetz von den Gerichten als Verstoß gegen die Verfassung abgewiesen werden würde, was ja dann 1997 auch der Fall war.

Wie hat sich dabei Newt Gingrich, der Mehrheitsführer im Kongreß, verhalten? Er verkörpert den inneren Widerspruch in Sachen Internet ja selbst, denn einerseits ist er ein glühender Verfechter der möglichst weitgehenden Informationsfreiheit, andererseits muß er auf die moralische Mehrheit in seiner Partei Rücksicht nehmen.

Esther Dyson: Soweit ich mich erinnere, war er sehr für Informationsfreiheit, aber er hat sich trotzdem nicht durchringen können, gegen das Gesetz zu stimmen.

Eine ähnliche Haltung finden Sie ja auch in Deutschland. Sie erinnern sich an die Eröffnungsrede des bayerischen Ministerpräsidenten zu unserem Kongreß »Internet und Politik« im Februar 1997, in der er die Einrichtung einer Internet-Polizei zum Schutz der Bürger gegen Pornographie und Rechtsradikalismus im Netz ankündigte. Was würden Sie ihm und anderen besorgten Vertretern des deutschen Staates nun raten?

Esther Dyson: Daß die beste Antwort auf solches Zeug im Netz darin besteht, den individuellen Netzbenutzern die Instrumente zu geben, es selbst herauszufiltern. Rechtsradikale Propaganda kann man nur mit der Wahrheit beantworten und nicht, indem man sie zu unterdrücken versucht.

Das glaube ich auch, aber viele Deutsche und auch einige Amerikaner würden Sie der Naivität bezichtigen. Die Deutschen haben die Erfahrung gemacht, wie wenig »Aufklärung und Wahrheit« gegen totalitäre und faschistische Ideologien ausrichten. Ist es da nicht besser, eine oberste Aufsichtsbehörde zu haben, die im Notfall eingreifen kann?

Esther Dyson: Die hatten die Deutschen doch! Und sie wurde am Ende von Hitler korrumpiert. Ganz prinzipiell bin ich eher für eine ziemlich bewegliche Umgebung, in der niemand Zugriff auf die Kontrolle aller Kommunikationsinhalte hat. Laßt die Inhalte für sich selbst streiten, in einem offenen Markt. Ich habe auch genug Zutrauen in die Menschen, daß sich am Ende die Wahrheit durchsetzen wird.

Dem widersprechen gewichtige historische Erfahrungen, nicht nur in Deutschland.

Esther Dyson: Ich weiß, denn Menschen sind nicht perfekt, und gerade deswegen vertraue ich mehr offenen Märkten als der Hoffnung, daß jeder Ministerpräsident ein aufrechter Mensch sein wird.

In Ihrem Buch gehen sie auch auf Konflikte mit der Church of Scientology ein...

Esther Dyson: Das ist auch so ein deutsches Thema. Wissen Sie, das Problem mit Scientology ist doch, daß sie ein Geheimnis aus sich macht. Man muß sie nicht zum Schweigen zwingen, sondern dazu, ihre Grundsätze und Praktiken zu publizieren. Die Scientologen nutzen die Copyright-Gesetze, um ihre Betriebsgeheimnisse zu wahren. Ich weiß, daß es schwer ist, die Demokratie gegen Leute in Schutz zu nehmen, die sie mißbrauchen. Aber dagegen hilft nur Transparenz, nicht Zwang und Kontrolle.

Die Rolle von Regulierungsinstanzen, ob sie nun staatlich oder privat sind, besteht für Sie im Schutz von Investoren und Konsumenten im Internet. Sie definieren das Internet damit weitgehend als Handelssphäre. Welche Rolle spielen staatliche Instanzen darin?

Esther Dyson: Die Vereinigten Staaten versuchen, die Regierungen weitestgehend aus dem Internet herauszuhalten. Sie schlagen aber einen gemeinsamen, weltweit gültigen Internet-Handelskodex vor, mit dessen Hilfe Streitigkeiten beigelegt und eine Harmonisierung der unterschiedlichen Rechtsregime herbeigeführt werden kann. Das ist kein Weltgerichtshof, sondern eher eine Art Schiedsstelle, die festlegt, welcher lokale Gerichtshof, welches Schlichtungsverfahren und welche Regelungen in jedem einzelnen Fall anzuwenden sind...

...was meiner Meinung nach im Endeffekt auf eine Verallgemeinerung amerikanischen oder anglo-amerikanischen Handelsrechts hinauslaufen wird.

Esther Dyson: Nicht unbedingt. Auf den Finanzmärkten hat sich lange vor dem Internet ein Modell für die Pluralität miteinander im Wettbewerb stehender Regulierungsinstanzen entwickelt, das erfreulicherweise die Transparenz der globalen Finanzmärkte erhöht hat.

Weil sich die Investoren der US-Börsenaufsicht (SEC, Securities and Exchange Commission) unterwerfen.

Esther Dyson: Sie tun das aber freiwillig. Die Börse in Warschau, mit der ich einigermaßen vertraut bin, hat eine starke, kompetente Aufsichtsbehörde, die manchmal sogar des Guten zu viel tut. Sie hat die amerikanische Börsenpolitik komplett übernommen, weil die SEC gute Standards liefert. Wofür ich bin, ist ein möglichst freier und fairer Wettbewerb zwischen solchen Aufsichts- und Regulierungsbehörden in der ganzen Welt. Das heißt, wenn es mehr als eine SEC gibt, ist das völlig in Ordnung, weil die Investoren am besten entscheiden können, wie ihre Interessen durch die Verpflichtung der Firmen, die Investitionskapital benötigen, auf bestimmte Wahrheits- und Transparenzkriterien geschützt werden können. Es soll in allen gesellschaftlichen Bereichen Wettbewerb geben, weil das die Wettbewerber zwingt, ihren Job besser auszuführen. Ich glaube nicht, daß nationale Regierungen solche Regelungen des Handels- und Wirtschaftsverkehrs erlassen sollten. Die Verträge, die zwischen Investoren und Aufsichtsbehörden geschlossen werden, werden allerdings immer unter die jeweilige Gerichtsbarkeit von nationalen Staaten fallen.

Wir werden also auch einen Wettbewerb zwischen verschiedenen Rechtsauffassungen bekommen, etwa zwischen dem angelsächsischen und dem kontinentaleuropäischen Recht. Sie sagen in Ihrem Buch, daß wir künftig mehr Rechtsanwälte als Beamte brauchen. Ganz abgesehen davon, daß ich persönlich in Rechtsanwälte nicht mehr Vertrauen setze als in Beamte, werden das nach Lage der Dinge - also aufgrund des amerikanischen Vorsprungs auf diesem Gebiet - amerikanische Anwälte oder europäische Anwälte sein, die nach amerikanischen Rechtsprinzipien verfahren. Den Franzosen wird das nicht sehr schmecken.

Esther Dyson: Wenn es eine Jurisdiktion nach französischem Muster gibt, habe ich nichts dagegen. Dieses Konzept sollte sich dem Wettbewerb stellen. Aber ich glaube, der Schutz von Investoren ist bei der amerikanischen Variante besser garantiert als bei der französischen oder deutschen.

Ein Schutz, den staatliche Institutionen bieten können, ist z.B. das Kartellrecht gegen Monopolisierungen der Märkte. Während wir reden, wird gerade der Fall Microsoft verhandelt, dem das amerikanische Justizministerium einen monopolistischen Angriff auf den Markt vorwirft. Auf welcher Seite stehen Sie da?

Esther Dyson: Darüber denke ich viel nach. Es ist ja nicht so, daß die Welt so schön eingeteilt ist, daß die Rolle von Regierungen in der Kontrolle von Unternehmen besteht, genauso wie sie selbst durch Kontrolle der Bürger beschnitten werden. Die Sache ist viel offener und komplizierter. Was Regierungen und Unternehmen tun, ist oft nicht so säuberlich auseinanderzuhalten. Ich weiß nicht, was ich als amerikanische Justizministerin tun würde, aber ich bin froh, daß es das Ministerium gibt. Vielleicht hat es in diesem Fall seine Kompetenzen überschritten. Aber wenn es stimmt, daß Microsoft versucht hat, seine Verträge mit anderen Firmen geheimzuhalten, dann zeigt das, daß etwas nicht in Ordnung war.

Also hat der Staat hier eine positive Rolle gespielt?

Esther Dyson: Ja, weil kein System sicher ist gegen menschliche Fehler. Deswegen hoffe ich auf ein System, das zur permanenten Veränderung gezwungen ist und keinem seiner Bestandteile erlaubt, zu viel Macht zu gewinnen, egal ob es Microsoft ist oder eine Regierung. Ich bin sehr zufrieden damit, wenn ich jetzt beide miteinander streiten sehe - und hoffe, daß keine der beiden Parteien gewinnt, und sie sich auch weiter gegenseitig Schwierigkeiten machen werden.

Das wäre dann kein Null-Summen-Spiel.

Esther Dyson: Nein, es ist ein Spiel mit positiver Summe, denn es schafft Bewegung nach vorn, während sich in einem Null-Summen-Spiel Energien in Erstarrung auflösen. Man ist entweder Pessimist oder Optimist, wie ich. Wenn Sachen in Bewegung geraten, ist das Resultat am Ende ein bißchen besser.

Aber entschieden werden muß trotzdem im Fall Microsoft, und kollektiv verbindliche Spielregeln zu schaffen, ist exakt die Aufgabe politischer Systeme.

Esther Dyson: Ich bin kein Jurist und kann die Dinge, die hier zum Konflikt geführt haben, schwer beurteilen. Wenn Microsoft den Browser in die Software einbaut, dann macht das technisch für die Verbraucher Sinn. Aber die Firma darf nicht die Macht haben, Verbraucher oder Partner daran zu hindern, Teile der Software wieder zu entfernen, und vor allem hat sie nicht das Recht, Geheimverträge zu schließen. Insofern bin ich ganz glücklich, daß man Druck auf Microsoft ausübt, nicht weil es illegal ist, was die Firma beabsichtigt, sondern weil sie 80 Prozent der Marktanteile besitzt. Genau wie Regierungen durch rechtsstaatliche Garantien eingegrenzt werden, gilt das auch für Firmen, die in die Nähe eines Monopols gelangt sind.

Weil Firmen dann mit Hilfe ihrer Rechtsanwälte exakt die Rolle von Staatsapparaten mit ihren Beamten übernehmen würden - oder es bereits tun? Die traditionelle Rolle von Staaten war es auch, so etwas wie das öffentliche Interesse zu vertreten, auch wenn sie das natürlich oft genug nicht getan haben.

Esther Dyson: Ich habe genug Zeit in Rußland verbracht, um zu sehen, wie wenig das der Fall ist. Also stellt sich die Frage, was eine legitime Regierung ist. Und es macht mich nervös, mit anzusehen, wie angeblich legitime Regierungen sich mit illegitimen wie der chinesischen einlassen.

Wie würden Sie denn das öffentliche Interesse oder das gemeinsame Gut der Internet-Gesellschaft definieren?

Esther Dyson: Jedenfalls kann es nicht durch jemanden definiert werden, der uns ein gutes Gesetz macht. Ich vertraue mehr auf die Individuen, auf die moralische Urteilskraft erwachsener Menschen...

...zwischen denen es ja wieder Machtverhältnisse und -unterschiede gibt, wobei wir über soziale Ungleichheiten noch gar nicht gesprochen haben.

Esther Dyson: Individuen en masse, nicht als Wählermasse, verfügen über Urteilskraft. In diesem Sommer war ich »on jury duty«, das heißt, ich habe eine Menge Zeit als Geschworene verbracht. Verschleudert, könnte man auch sagen, wenn ich dabei nicht gelernt hätte, wie außerordentlich inspirierend es sein kann, wenn man mit einer Gruppe ganz gewöhnlicher Leute zusammensitzen muß, Leute, auf die man in der U-Bahn trifft, aus dem unteren Viertel der Gesellschaft. Sie haben einen wachen Verstand, sind ehrlich, versuchen, gute Bürger zu sein und ihren Job gut zu machen. Sie glauben, daß sie jemanden zu bestrafen haben, weil er ein Verbrechen begangen hat, oder daß sie ihn freizusprechen haben, wenn sie zu dem Urteil kommen, daß er unschuldig ist. Laß sie ruhig am Arbeitsplatz Papier klauen und die Steuer betrügen - diese Leute tun dennoch ihr bestes. Sie versuchen, aus ihrem Alltagsverstand heraus die wesentlichen Fundamente des Rechtssystems zu verstehen und anzuwenden, und sie verschenken ihre Zeit genau wie ich, weil sie den Eindruck haben, etwas zum Gemeinwohl beizutragen. Das hat mich sehr beeindruckt.

Ihre Vorstellung vom »common good« (Gemeinwohl) ist also sehr nahe beim »common sense« (Gemeinsinn)?

Esther Dyson: Ich vertraue diesen Leuten mehr als irgendeiner Elite. Außerdem habe ich die Tragik gespürt, die darin liegt, daß die meisten Menschen einfach kein Vertrauen mehr haben, vor Gericht zu gehen und dort ihr Recht zu bekommen.

Das scheint mir allerdings nach den Fällen O. J. Simpsons, Louise Woodwards und anderer auch in den USA verloren zu gehen, wenn sich common sense immer stärker an ethnischen Zugehörigkeiten oder medial aufgeheizten Stimmungen orientiert.

Esther Dyson: Unser Jury-System ist sicher nicht perfekt, aber es ist ein besseres System als alle anderen, die ich mir vorstellen kann.

Das führt mich zu der Frage, inwieweit das Internet die öffentliche Sphäre, das Lebenselixier der liberalen Demokratie, noch weiter zersplittern wird: Ob also auf der einen Seite wie im Falle Microsoft die Gefahr von Machtmonopolen droht, während auf der anderen Seite Dezentralisierung in Fragmentierung umschlägt?

Esther Dyson: Unglücklicherweise ist das eine die Kehrseite des anderen. Allerdings sind die meisten Individuen nicht nur Teil einer Gemeinschaft, mit einer normalerweise (und auch legitimerweise) beschränkten Sicht auf die Welt, sondern sie gehören vielen Gemeinschaften an, von denen einige mit umfassenderen Dingen wie dem kulturellen Erbe einer Nation zu tun haben, im Unterschied zu rein lokalen Entscheidungsarenen.

Aber in der Tat ist Fragmentierung eine der Entwicklungen im Internet, die mich beunruhigen. Die beste Antwort darauf scheint mir die zu sein, die auch alles andere, was wir besprochen haben, betrifft. Thomas Jefferson hat gesagt, wenn er sich zwischen einer Regierung ohne freie Presse und einer freien Presse ohne Regierung zu entscheiden hätte, dann würde er sich für letzteres entscheiden. Das Heilmittel gegen Fragmentierung kann jedenfalls nicht Rezentralisierung in Gestalt größerer Regierungskontrolle sein. Solange die Dynamik zwischen den beiden Polen lokale Gemeinschaften und Staat hin und her geht, ist das in Ordnung.

Nehmen Sie ein Beispiel wie die Scheidungsgesetzgebung in den USA. Meine Eltern haben sich scheiden lassen. Aus heutiger Sicht glaube ich, daß das besser war, als wenn sie zusammengeblieben wären. Aber Scheidungen sind schmerzhaft, für die Eheleute wie für die Kinder. Es war gut, daß die Scheidungsgesetze liberalisiert worden sind, denn sie waren viel zu streng. Aber heute ist es wahrscheinlich zu einfach geworden, sich scheiden zu lassen. Es gibt nicht den idealen Ort, an dem Gesetzgebung greifen kann, denn sie bewegt sich in einem dynamischen System. Um ihre beste Wirkung zu entfalten, muß sie sich mitbewegen. Solange das möglich ist, bekommt man bessere Resultate, obwohl oder gerade weil das System ein wenig vage ist.

Auf Staatstätigkeit übertragen, muß man sich diese also auch als flexible, dynamische Intervention vorstellen?

Esther Dyson: Wie bei Zinssätzen der Zentralbanken. Sie werden ständig neu festgesetzt, aber das heißt nicht, daß der Zinssatz des letzten Jahres oder Monats »falsch« war, sondern daß er an die veränderten Konstellationen angepaßt werden mußte. Das ganze ist, als ob man auf einem Fahrrad die Balance zu halten versucht.

Was umso schwieriger ist, je langsamer man fährt. In Europa ist das »Fahrrad Internet« langsamer als in den USA in Gang gekommen. Da Sie viel durch Europa reisen, worin bestehen für Sie die Unterschiede der »Internet-Kulturen« diesseits und jenseits des Atlantik?

Esther Dyson: Ich mag die Deutschen sehr, aber mein Eindruck ist, daß die deutsche Kultur insgesamt sehr mißtrauisch ist gegen Wandel, gegen Neues überhaupt. Ich glaube, das ist eine Folge der autoritären Tradition, daß Dinge, die nicht säuberlich geordnet sind, sofort chaotisch wirken und auf Ablehnung stoßen. Die Deutschen vertrauen nicht darauf, daß sich die Dinge schon von selbst ordnen werden, wenn man sie sich entwickeln läßt. Sie wollen eine gute staatliche Autorität, aber sie wissen nicht, was sie mit einer schlechten machen sollen. Sie fühlen sich nicht wohl in einer Situation der Ungewißheit.

Ich glaube, das stimmt schon lange nicht mehr. Es gibt eine neue Generation von Selbständigen, in West- wie in Ostdeutschland, die sich durchaus auf Wandel und auch auf die Globalisierung einstellen will und kann. Die Deutschen haben lange in einer weltpolitischen Nische gelebt, und es braucht eben eine Zeit, bis man sich frei auf einem offenen Feld bewegen kann.

Esther Dyson: Sie haben recht. Die jüngeren Deutschen, mit denen ich spreche, wirken anders auf mich, unternehmungslustiger und risikobereiter.

Sie reisen viel nach Rußland und engagieren sich dort auch unternehmerisch. Was bedeutet Computerindustrie in diesem Land überhaupt?

Esther Dyson: Das ist das reine Wunder. Sie besteht aus einer Gruppe von Leuten, die ohne jede staatliche Hilfestellung etwas in die Welt gesetzt haben: Wissenschaftler aus den Staatslabors, die dicht gemacht haben, Programmierer, Mathematiker, die jetzt »self-made business guys« sind. Im großen und ganzen sind sie aufrichtig, sie lernen rasch - sie bilden den offensten und transparentesten Markt in Rußland, und es ist die reine Freude, mit ihnen zu arbeiten. Natürlich gibt es ein paar Ausnahmen, aber es ist, als ob aus all dem Sumpf von Korruption und Verbrechen ein paar Blumen gesprießt wären. Sie sind international ausgerichtet, sie nutzen das Internet, sie haben Hardware- und Software-Lieferanten aus dem Westen. Sie sind die Hoffnung für Rußland, wenn Sie mich fragen.

Die Europäer und Amerikaner tun gut daran, ihr Wissen, ihre Expertise und Managementpraxis nach Rußland zu transferieren. Hewlett Packard oder Microsoft trainieren ihre russischen Partner nicht nur in technischen Anwendungen, sondern auch allgemein in Management, Buchhaltung usw. Und sie unterstützen damit lokale Initiativen. Man kann in Rußland eine Milliarde Dollar investieren, um sie wieder herauszunehmen. Viel besser ist es aber, das Geld nicht nur zu investieren, sondern dort zu bleiben und Werte zu schaffen. Man kann in Rußland Gutes tun, indem man wirkliche Geschäfte macht. Die Finanziers, die in Rußland tätig sind, schaffen Kaufkraft. Indem sie ihr Geld innerhalb der dortigen Volkswirtschaften bewegen, bringen sie sie auf Touren.

Und was ist Ihre Rolle dort?

Esther Dyson: Nun, ich investiere, ich halte Vorträge, ich versuche, die Dinge ins Laufen zu bringen, an die ich glaube, genau wie überall sonst.

Ist das Internet für Osteuropa ein Sprung ins 21. Jahrhundert?

Esther Dyson: So hoch würde ich die Sache gar nicht hängen. Es verbindet die Osteuropäer mit dem Rest der Welt. Die Software-Importeure schaffen Werte-Systeme, sie verbessern die Infrastruktur, die Distributionssysteme, die übrigen Firmen. Natürlich schafft es auch neue Ungleichheiten zwischen denen, die ans Netz angeschlossen sind, und denen, die nicht einmal ein Telefon haben.

In der amerikanischen Geschichte gab es immer ein Hin und Her zwischen der Position Thomas Jeffersons, der für starke dezentrale Basisgemeinschaften und einen schwachen Bundesstaat war, und der seines Partners und Gegenspielers Alexander Hamilton, der stärker auf die Eliten und den Zentralstaat gesetzt hat. Das geht in der amerikanischen Republik ständig hin und her, und derzeit befinden wir uns wieder in einer »Jefferson-Phase«. Können Sie sich vorstellen, daß bald eine neue »Hamilton-Phase« einsetzt?

Esther Dyson: Ich kann mir gut vorstellen, daß ich in zehn Jahren ein Buch schreibe, in dem ich mich für mehr Zentralisierung einsetze, und ich hoffe, daß ich dann den Mut haben werde zu sagen: Was ich vor zehn Jahren geschrieben habe, war nicht gerade falsch, aber ich habe meine Meinung aus guten Gründen geändert.

Das Gespräch mit Ester Dyson führte Claus Leggewie. Es ist ein Vorabdruck aus dem Buch Internet & Politik. Von der Zuschauer- zur Beteiligungsdemokratie, hrsg. von Claus Leggewie und Christa Maar, Bollmann Verlag 1998.